Das Donnergrollen aus der Ferne mit dem folgenden
Windstoß assoziiert
Ann mit der Wasserstoffbombe auf dem Bikini-Atoll (S. 44). Über vier Seiten hinweg
sinniert sie dann über das Phänomen Kernfusion und die technischen Versuche,
den Verschmelzungsprozess kontrolliert in einem Reaktor stattfinden zu lassen,
dem Tokamak. Dazu entwickelt sie merkwürdige eigene Vorstellungen:
Sagt
es den Physikern:
Es ist ein Denkfehler, den hellen weißen Stern
im Tokamak zu halten. Er muss außen rum begehren,
hineinzubrechen,
und man muss ihn abwehren,
man
muss ihn das totale Sichverzehren lehren,
abhaltend ihn von seiner angedachten Arbeitsstätte,
wo heute er so vor sich hin brodelnd sich fusioniert
und fusioniert und fusioniert in einer engen Kette
zwanghafter Logik, innerhalb derer er funktioniert.
Ein Stern in freier Wildbahn ist ganz ungefährlich.
Er
leuchtet vor sich hin und freut sich am Witiko.
Der Tokamakreaktor erscheint später (völlig
unmotiviert?) in einer der drei Zeitungen (S. 87), die von den Männern auf der
Insel herausgegeben werden. Die Zeichnung zeigt Ann, die am Strand liegt und
mit einer Hand ihre Augen bedeckt. Über dem Meer schwebt – offenbar in ihrer
Vorstellung – eine schematische Zeichnung des Reaktors, die sein
Konstruktionsprinzip – das Plasmagefäß mit den es umgebenden Magnetspulen – sichtbar macht.
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Tokamak-Reaktor (Joint European Torus in Culham, GB) |
„Es geht um
Energie/in Wirklichkeit, nichts anderes“: Auf Seite 45 wird deutlich, was Ann
Cotten mit dieser technisch-wissenschaftlichen Vision bezweckt. Sie vergleicht
die Kernfusion mit dem künstlerischen Prozess und plädiert für die Freiheit des
„hellen Sterns“. Der „helle Stern“ und eine „Verschmelzungssäule“ tauchen auch
in den Passagen über die „Seele“ (S. 62ff.) auf. Die ganze Allegorie dient der
Vorbereitung (dem Vorheizen) der großen Verschmelzungsszene von Ann und Hermes, von weiblichem
und männlichem Prinzip (S. 73-77). Das hat sich mir erst nach wiederholter Lektüre
und dem Vergleich dieser Passagen erschlossen. Und es kam mir irgendwie bekannt
vor.
Eine derartig radikale Verbindung der Verschmelzung von
Mann und Frau und der Kunst als universalem Prinzip in einer romanhaften
Erzählung, die gleichzeitig die Theorie ihrer selbst enthält, hat es in der
deutschen Literatur schon einmal gegeben: in der deutschen Frühromantik, bei
Friedrich Schlegel, seiner “Universalpoesie” und ihrer Exemplifikation in seinem
Roman “Lucinde” (1799). Dazu morgen mehr.