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Montag, 25. Juli 2016

Ann Cotten, Verbannt! – Ein Lesetagebuch (18): Ode für Ann

Doch halt! Ganz so schnell gehe ich nicht. Ich muss mich noch bedanken, bei Ann Cotten für ihre Bereicherung der deutschen Literatur und beim US-Bundesstaat Iowa für die Hervorbringung dieses begabten Mädchens, das dann nach Wien und Berlin ausgewandert ist.

Marlene Dietrich und Jean Arthur in "A Foreign Affair"
Die folgende Performance der Iowa-Hymne scheint mir dazu sehr geeignet: Sie kommt aus dem Film „A Foreign Affair“ (1948). Der Regisseur, Billy Wilder, ist Wiener-Berliner-Amerikaner und hat in dem Filmausschnitt mit der Amerikanerin Jean Arthur in der Rolle als spröde Kongressabgeordnete Phoebe Frost eine unvergessliche Auftauszene gestaltet. Phoebe’s Gegenspielerin ist die Berlinerin und Amerikanerin Marlene Dietrich.



Danke!

Ann Cottens „Verbannt!“ – Ein Lesetagebuch (17): Der Cottensche Imperativ

„Klapp das Buch zu und entweiche.“

Das ist der letzte Satz aus Ann Cottens Versepos „Verbannt!“. Er ist doppeldeutig: Vielleicht soll man sich ein „Ich“ dazu denken, und die Hauptfigur schließt den dicken Band von Meyers Enzyklopädie, aus dem sie gerade 90 Lemmata zitiert hat (S. 162f.).

Man kann den Satz aber auch als Aufforderung an den Leser sehen: Mach Schluss und zieh ab!

Das nenne ich dann den Cottenschen Imperativ. Adieu Ann!


Ann Cotten, Verbannt! - Ein Lesetagebuch (16): Ann's Arabeske

Wenn es von der Intention und von Form & Inhalt her ein Parallelwerk zu “Verbannt!” in der deutschen Literatur gibt, dann ist das Friedrich Schlegels “Lucinde” (1799). Das wäre jedenfalls mein Tipp für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Ann Cottens Werk, die über dieses Lesetagebuch hinausgeht.

Kein Zufall also, dass Ann auf den Seiten über den Tokamak und die Kernverschmelzung auch von den “beiden Schlegeln” (S. 46) spricht (Friedrich Schlegel und sein Bruder August Wilhelm; eventuell meint sie auch Friedrichs Frau Dorothea). Anns Thema der Verschmelzung von Männlichkeit und Weiblichkeit, ist – für die damalige Zeit skandalös – bei Schlegel im Kapitel “Dithyrambische Fantasie über die schönste Situation” formuliert:

Eine unter allen ist die witzigste und die schönste: wenn wir die Rollen vertauschen und mit kindischer Lust wetteifern, wer den andern täuschender nachäffen kann, ob dir die schonende Heftigkeit des Mannes besser gelingt, oder mir die anziehende Hingebung des Weibes. Aber weißt du wohl, daß dieses süße Spiel für mich noch ganz andre Reize hat als seine eignen? Es ist auch nicht bloß die Wollust der Ermattung oder das Vorgefühl der Rache. Ich sehe hier eine wunderbare sinnreich bedeutende Allegorie auf die Vollendung des Männlichen und Weiblichen zur vollen ganzen Menschheit.

Der komplette Text von “Lucinde” kann im Gutenberg-Projekt aufgerufen warden.

Arabeske in der Kunst
Schlegel bezeichnete die von ihm entworfene Gattung als “Arabeske”. Die Struktur von Lucinde wird im Wikipedia-Artikel wie folgt beschrieben:

Der Text verfolgt keine epische Erzählung, sondern bietet seinem (gemäß dem „unbezweifelte[n] Verwirrungsrecht“ des Erzählers/Autors) verwirrten Leser Stimmungen und Reflexionen der Hauptfigur Julius. Es ist stets unsicher, in welchem Bezug ein Textstück zu einem anderen steht. Und erahnt der Leser einen Zusammenhang, der einer Handlung ähnelt, wird dieser Eindruck bald wieder zertrümmert. Den Sprüngen im Text kann der überforderte Leser kaum folgen. Damit sind Merkmale des modernen Romans vorweggenommen.


Das alles trifft auch auf "Verbannt!" zu. Dabei muss ich es hier und jetzt belassen. Ich werde mein Lesetagebuch mit zwei, drei weiteren Beiträgen abrunden. Vielleicht gibt’s mal eine zweite Runde, denn vieles ist noch ungesagt. Aber ich muss auch mal was anderes machen.


Auch Ann Cotten scheint am Ende etwas genug gehabt zu haben von ihrem Projekt. In der “Welt” gibt es ein schönes, aufschlussreiches Interview mit ihr. Hier ein kleiner Auszug:

Die Welt: Es beginnt ja eigentlich recht pompös. Die Musen werden angerufen. Und Sex wird auch versprochen.
Cotten: Ich bin auch enttäuscht von diesem Abfall gegen Ende hin. Während ich immer dachte, dass es endlich losgeht, habe ich gespürt, dass ich allmählich genug habe von diesem Versmaß. Sex gibt's übrigens bei Hermes Wolpertinger. Man muss halt kapieren, dass das Sex ist und nicht einfach ein Trip.


Tja, das mit dem in der Einleitung angekündigten Sex hat mich auch beschäftigt. Jetzt weiß ich jedenfalls, wo ich ihn suchen muss: bei Hermes Wolpertinger. Und da gehört er ja auch hin.

Sonntag, 24. Juli 2016

Ann Cotten, Verbannt! - Ein Lesetagebuch (15): Ann's Allegorie

Das Donnergrollen aus der Ferne mit dem folgenden Windstoß assoziiert Ann mit der Wasserstoffbombe auf dem Bikini-Atoll (S. 44). Über vier Seiten hinweg sinniert sie dann über das Phänomen Kernfusion und die technischen Versuche, den Verschmelzungsprozess kontrolliert in einem Reaktor stattfinden zu lassen, dem Tokamak. Dazu entwickelt sie merkwürdige eigene Vorstellungen:

            Sagt es den Physikern:
Es ist ein Denkfehler, den hellen weißen Stern
            im Tokamak zu halten. Er muss außen rum begehren,
            hineinzubrechen, und man muss ihn abwehren,
            man muss ihn das totale Sichverzehren lehren,
abhaltend ihn von seiner angedachten Arbeitsstätte,
wo heute er so vor sich hin brodelnd sich fusioniert
und fusioniert und fusioniert in einer engen Kette
zwanghafter Logik, innerhalb derer er funktioniert.

Ein Stern in freier Wildbahn ist ganz ungefährlich.
            Er leuchtet vor sich hin und freut sich am Witiko.

Der Tokamakreaktor erscheint später (völlig unmotiviert?) in einer der drei Zeitungen (S. 87), die von den Männern auf der Insel herausgegeben werden. Die Zeichnung zeigt Ann, die am Strand liegt und mit einer Hand ihre Augen bedeckt. Über dem Meer schwebt – offenbar in ihrer Vorstellung – eine schematische Zeichnung des Reaktors, die sein Konstruktionsprinzip – das Plasmagefäß mit den es umgebenden Magnetspulen – sichtbar macht.
Tokamak-Reaktor (Joint European Torus in Culham, GB)
„Es geht um Energie/in Wirklichkeit, nichts anderes“: Auf Seite 45 wird deutlich, was Ann Cotten mit dieser technisch-wissenschaftlichen Vision bezweckt. Sie vergleicht die Kernfusion mit dem künstlerischen Prozess und plädiert für die Freiheit des „hellen Sterns“. Der „helle Stern“ und eine „Verschmelzungssäule“ tauchen auch in den Passagen über die „Seele“ (S. 62ff.) auf. Die ganze Allegorie dient der Vorbereitung (dem Vorheizen) der großen Verschmelzungsszene von Ann und Hermes, von weiblichem und männlichem Prinzip (S. 73-77). Das hat sich mir erst nach wiederholter Lektüre und dem Vergleich dieser Passagen erschlossen. Und es kam mir irgendwie bekannt vor.


Eine derartig radikale Verbindung der Verschmelzung von Mann und Frau und der Kunst als universalem Prinzip in einer romanhaften Erzählung, die gleichzeitig die Theorie ihrer selbst enthält, hat es in der deutschen Literatur schon einmal gegeben: in der deutschen Frühromantik, bei Friedrich Schlegel, seiner “Universalpoesie” und ihrer Exemplifikation in seinem Roman “Lucinde” (1799). Dazu morgen mehr.