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Montag, 30. Oktober 2023

Winterzeit

 




Aus dem Zwergenzyklus


Glücksstunde

 

Am Ende unsrer Sommerzeit

Ist’s - endlich! - wieder mal so weit:

Die Zwerge gehn zum Uhrenturm

Und stelln die Riesenturmuhr um.

 

Sie drehn, Gesichtchen voller Glück,

Mit aller Kraft die Zeit zurück.

Dann schnarchen sieben um die Wette

Noch stundenlang im Kuschelbette.



Donnerstag, 13. Juli 2023

Gripsholm. Een kasteelroman - Ard Posthumas neue Übersetzung des Bestsellers von Kurt Tucholsky



Kurt Tucholskys kaum hundertfünfzig Seiten dünner Roman Schloss Gripsholm. Eine Sommergeschichte (1931) ist voller Besonderheiten, die nicht zu der als federleicht gerühmten Liebesgeschichte zu passen scheinen: Beim fröhlichen Sommerurlaub des Liebespaars Peter und Lydia aus Berlin im schwedischen Schloss Gripsholm kommt es zu allerlei Komplikationen: Dem Paar fällt ein misshandeltes Kind auf. Sie entdecken, dass es von einer sadistischen deutschen Heimleiterin gequält wird. Die Begegnungen mit dieser Frau rufen bei Peter Hass- und Ekelvisionen über Grausamkeit hervor. Er sorgt schliesslich dafür, dass das Mädchen zu seiner Mutter zurückgebracht werden kann. Daneben kommt in den drei Wochen zweimal Besuch: Karlchen, der beste Freund des Ich-Erzählers Peter, und Billie, die langbeinige Freundin Lydias. Beide verändern auf ihre Weise die erotische Spannung in der Geschichte in ein vibrierendes Dreiecksverhältnis. Karlchen aber rührt Lydia letztlich nicht an: zitiert wird (als einziges intellektuelles Item) Totem und Tabu von Freud: die Frau des Freundes ist unantastbar. Zwischen dem Paar und Billie dagegen entsteht ein vorsichtig beschriebener intimer Dreier, gewagt für 1930, eine Szene, auf die Tucholsky sehr stolz war, schön auch noch ein Jahrhundert danach. Und dann ist da noch Schweden, das Schwedische und das Schloss, wo Lydia ihn in den Kerker einsperrt und Peter zum Spuk wird… Er taucht sowieso während der Geschichte unter allerlei Namen auf: Peter, Daddy, Fritzchen, Kurt, als Kind: Wer bin ich denn?

 

Der Leser wird im Wahrnehmungsmodus des Ich-Erzählers durch die Geschichte geführt und nimmt an seiner spielerisch-tänzelnden Gedanken- und Gefühlswelt und an den angedeuteten erotischen Wunschvorstellungen teil: Ein vierzigjähriger, souverän im Leben stehender freier Mann, der zu sich selbst und seiner Geilheit steht, der aber auch reflektiert, was er tut und das Wohl anderer nicht aus dem Auge verliert.

 

Lydia, seine „Prinzessin“, im Arbeitsleben Sekretärin, besitzt eine ähnliche Souveränität und Freiheit und kann ihn, wenn nötig, um den Finger wickeln. Der Urlaub bedeutet für sie auch, ganz entspannt so daherreden zu können, wie ihr der Schnabel gewachsen ist: in einer Mischung („Mischings“) aus Hochdeutsch und Niederdeutsch (sie kommt aus Rostock), angereichert um Berliner Spracheigenarten. Beide haben sowieso einen Hang zu Sprachspielereien. In dem fröhlichen Gekebbel spiegeln sich sowohl ihre persönlichen Liebesbeziehungen und Reaktionen auf alles, was ihnen während des Urlaubs zustösst, als auch die enormen Veränderungen der Frauenrollen in der Arbeitswelt und Gesellschaft der Zwanziger Jahre. Heutige Leser spüren aber auch einen Vorschein des Nationalsozialismus. Der Erfolg des Buches gründet in der für die deutsche Literatur ungewöhnlichen Leichtigkeit und der sich auf tänzelnde Weise entwickelnden Erzählung. Das Niederdeutsche wird darin explizit als die schönere Art des Deutschen gesehen. Die vielen niederdeutschen Ausdrücke und Wendungen unterstützen diesen Eindruck.

 

Ein Übersetzer, der diesen Roman ins Niederländische bringen möchte, hat es nicht leicht. Viele Sätze und Wörter entziehen sich der direkten Übersetzung. Der Sprachwitz ist nicht ohne weiteres übertragbar. Was macht man mit dem Dialekt, was mit dem Missingsch?

 

In der alten Übersetzung von Per Olafson (Kasteel Gripsholm, Amsterdam 1955) geht doch einiges vom Charme und Witz des Originals verloren. Viele Formulierungen erreichen nicht die Leichtigkeit Tucholskys.

 

Die neue Übertragung von Ard Posthuma (Gripsholm. Een kasteelroman, Van Oorschot 2023, 22,50€) zeichnet sich durch einen sprach- und stilsicheren Zugriff aus. (Das fängt schon mit dem Untertitel an, den er keck von „eine Sommergeschichte“ in „een kasteelroman“ verändert, womit der niederländische Leser schon auf Zweideutigkeiten vorbereitet wird.)


Dann das im Deutschen gebräuchliche spielerische Wort „Missingsch“, aus dem Olafson „Missings“ gemacht hat: Posthuma kommt hier mit seinem eigenen, aber für jeden Niederländer lustig-verständlichen „Labbekaks“. Und Lydias „Jüppel-Jappel“ ist mit „kletskoek“ (Olafson) zwar inhaltlich, aber nicht der spielerischen Form nach übersetzt; Posthuma wählt hier sprachsicher unser geliebtes Wort „kikkifax“. Solche Kleinigkeiten machen auf Dauer den Reiz eines Textes aus.

Hier noch ein ganzer Satz, für den Posthuma die einfachere und bessere Lösung hat: 

 

Kann mia ganich genug wunnern, dasse den Zeit nich verschlafen hass! (Original, 12)

 

Ik kan er niet uitverbaasd raken, dat je je niet verslapen hebt (Olafson, 11)

 

Wat mooi dast die tiid nich verschlafen hast! (Posthuma, 14)

 

Der Roman fand bei seinem Erscheinen 1931 sofort viele jubelnde Leser: So etwas hatten sie auf Deutsch noch nicht gesehen. Zwei Jahre später wurden Tucholskys Bücher verbrannt. Der ganz grosse Erfolg kam ab 1946, als der Rowohlt Verlag mit seinen billigen Ausgaben begann: Schloss Gripsholm war die Nr. 4 in der berühmten rororo-Taschenbuchreihe und hatte im Laufe der Jahrzehnte eine Auflage von weit über einer Million. Heute gibt es mehrere deutsche Ausgaben mit verschiedenen Illustrationen.

 

Die neue niederländische Ausgabe ist schön herausgegeben, mit einem starken Foto einer schrägen Frau auf dem Cover. Sie enthält die Illustrationen von Wilhelm M. Busch aus der Originalausgabe (nicht zu verwechseln mit dem Wilhelm Busch aus dem 19. Jahrhundert!). Nun kann Tucho noch hunderttausend niederländische Leser hinzugewinnen!


Sollen sie sich wundern über diesen Roman!

Sonntag, 25. Juni 2023

Dutch humor



 „De cafépoes lag te slapen op de rand voor de spiegel achter mij. Ze was op een dag het café binnengelopen en had besloten te blijven. De obers en serveersters hebben een kattenbak voor haar gekocht en voerden haar dagelijks. Ze hadden haar Eva Braun genoemd, omdat ze een klein Hitlersnorretje had, maar wel een vrouwtje was.“

Ilja Leonard Pfeijffer en Gelya Bogatishcheva, De filosofie van de heuvel. Op de fiets naar Rome en niet terug, Amsterdam/Antwerpen 2009, 87ff.

Montag, 12. Juni 2023

Kampfbuch

Ich habe übrigens die deutsche Übersetzung meiner Rezension gestern von der App DeepL Translate machen lassen und war erstaunt über die gute Qualität. Manche Formulierung hätte ich vielleicht etwas anders gemacht, aber ich habe alles stehen lassen, mit einer Ausnahme: Die App hat das niederländische Wort „strijdschrift“ mit „Kampfbuch“ übersetzt. Das hat mich dann doch irritiert.

Sonntag, 11. Juni 2023

Nietzsche (34): Was ChatGPT zu Nietzsche sagt

Ich habe ChatGPT die Frage gestellt, warum Nietzsche als revolutionärer Denker gesehen wird.


Hier ist die Antwort:


Friedrich Nietzsche wird oft als einer der revolutionärsten Denker der Philosophiegeschichte angesehen, da seine Ideen viele traditionelle Vorstellungen und Denkweisen in Frage gestellt haben. Hier sind einige Gründe, warum seine Philosophie als revolutionär betrachtet wird:


1.     Überwindung von Moral und Wahrheit: Nietzsche kritisierte die traditionellen moralischen Werte und die Vorstellung von absoluter Wahrheit. Er argumentierte, dass Moral und Wahrheit menschengemachte Konstrukte sind, die auf subjektiven Interpretationen basieren. Er forderte die Menschen auf, diese Konzepte zu hinterfragen und stattdessen ihre eigenen Werte und Perspektiven zu entwickeln.


2.     Übermensch (Übermenschlichkeit): Nietzsche prägte den Begriff des "Übermenschen", der eine höhere Form des Menschen darstellt, die über traditionelle moralische Vorstellungen und Konventionen hinausgeht. Der Übermensch ist in der Lage, sein eigenes Schicksal zu bestimmen und frei von gesellschaftlichen Zwängen zu leben.


3.     Nihilismus und Lebensbejahung: Nietzsche beschäftigte sich intensiv mit dem Problem des Nihilismus, der Leere und Sinnlosigkeit des Lebens. Er argumentierte jedoch, dass es möglich sei, den Nihilismus zu überwinden, indem man das Leben aktiv bejaht und seine eigene Existenz selbstbestimmt gestaltet.


4.     Kritik an Religion und Metaphysik: Nietzsche war ein entschiedener Kritiker der traditionellen Religion und Metaphysik. Er betrachtete den Tod Gottes als eine Konsequenz des Nihilismus und forderte die Menschen auf, ihre eigenen Werte und Bedeutungen zu schaffen, anstatt sich auf religiöse oder metaphysische Konzepte zu verlassen.


5.     Amor fati und die ewige Wiederkehr: Nietzsche prägte den Begriff "Amor fati" (Liebe zum Schicksal), der die Akzeptanz und Liebe zum eigenen Schicksal und zu den Umständen des Lebens betont. Er stellte auch die Idee der "ewigen Wiederkehr" auf, nach der sich alle Ereignisse unendlich oft wiederholen. Diese Ideen sollen den Menschen dazu ermutigen, ihr eigenes Leben und ihre Handlungen bewusst zu gestalten.

Diese revolutionären Ideen haben das Denken vieler nachfolgender Philosophen, Schriftsteller und Künstler beeinflusst. Nietzsche hat traditionelle Vorstellungen von Moral, Wahrheit und Religion in Frage gestellt und die Menschen dazu aufgefordert, ihre eigenen Werte und Bedeutungen zu schaffen. Seine Philosophie hat somit einen bedeutenden Einfluss auf das menschliche Denken und die intellektuelle Entwicklung der modernen Gesellschaft gehabt.


Welche Zensur würde ich als Lehrer ChatGPT für diese Antwort geben?

 

 


Nietzsche (33): Rezension „Dat alles ben ik“





Das war ja der Grund für meine Nietzsche-Reihe in diesem Blog: das Warten auf die niederländische Übersetzung von Nietzsches Gedichten von Ard Posthuma. Nun ist die schon eine Weile da (Friedrich Nietzsche, Dat alles ben ik, Historische Uitgeverij Groningen 2023, 40€) und ich habe ganz vergessen, die deutsche Fassung meiner niederländischen Rezension für TZUM in mein Blog zu setzen. Hier ist sie:


Als Dichter war der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche (1844-1900) den meisten Leserinnen und Lesern bisher vor allem durch ein knappes Dutzend Gedichte in verschiedenen Anthologien bekannt. Das war übrigens bis vor kurzem auch in Deutschland der Fall, wo erst 2019 eine Ausgabe der Sämtlichen Gedichte erschienen ist. Der Übersetzer Ard Posthuma hat nun eine umfassende Auswahl von in den Niederlanden weitgehend unübersetzten Gedichten zusammengestellt: „Dat alles ben ik“ ist eine sorgfältig edierte und erläuterte zweisprachige Ausgabe, die mehr als 120 Gedichte enthält.

Die Gedichte waren für Nietzsche kein Nebenprodukt, sondern stehen in engem Kontakt mit den philosophischen Schriften. Das sollte einen Leser, der mit ihnen nicht so vertraut ist, nicht schockieren. Die meisten der Gedichte sind auch ohne diesen Zusammenhang zu verstehen. Mehr noch, sie führen zu einem besseren Verständnis des Menschen und des Philosophen Nietzsche. Und sie sind manchmal kurz und elegant, wie das haiku-artige Epigramm Für Tänzer:

Glad ijs,

een paradijs, althans

voor meesters in de dans.


Nietzsches Gedichte sind verspielt, vielgestaltig, vielstimmig, witzig und manchmal auch länger. Deshalb hat Ard Posthuma einige Erklärungen  mitgeliefert und drei Spezialisten eingeladen: Der Dichter Piet Gerbrandy gibt in seiner ausgezeichneten Einführung einen biographischen und literaturgeschichtlichen Rahmen für "die umwerfende Poesie" Nietzsches. Die niederländische Philosophin Martine Prange schreibt über die Rolle der Gedichte in dem philosophischen Werk Die fröhliche Wissenschaft und Mariëtte Willemsen über die radikal innovativen letzten Gedichte, die Dionysos-Dithyramben. Ard Posthuma selbst erzählt zu Beginn die faszinierende Entstehungsgeschichte dieses Buches.

Zentral ist jedoch die Darstellung der Gedichte mit dem deutschen Text auf der linken Seite und der Übersetzung auf der rechten Seite mit einer eigenen Spalte für knappe Kommentare. Wo es angebracht ist, erhält der Leser direkte Erläuterungen zu Besonderheiten und Schwierigkeiten. Dies ist optisch und drucktechnisch sehr schön gestaltet. Man beginnt sozusagen stereoskopisch zu lesen, und selbst für einen deutschsprachigen Leser wie mich bieten die Übersetzungen immer wieder überraschende Einsichten. Das liegt nicht nur am Reimzwang, sondern auch an kreativen Lösungen des Übersetzers für inhaltlich schwierige Passagen. Ard Posthuma hat bereits in seinen Übersetzungen von Goethes Faust und West-östlichem Divan gezeigt, wie man poetische Texte des 19. Jahrhunderts für unsere Zeit lesbarer machen kann, ohne dass sie an Bedeutung verlieren.

Die chronologisch geordnete Auswahl beginnt mit zwei Gedichten des dreizehnjährigen (!) Nietzsche: Zwei Lerchen und Colombo (1858). Es ist absolut erstaunlich, wie er hier, in so jungen Jahren, zwei metaphorische Hauptmotive seines späteren philosophischen Werkes zu schildern beginnt: höher und höher fliegen zu wollen und immer weiter auf dem unendlichen Meer segeln zu wollen. Beide Motive sollte Nietzsche in den folgenden Jahrzehnten immer wieder artikulieren.

Nietzsche figuriert in seinem Werk einen ganzen Zoo von Metaphern: Vögel aller Art, Esel, Schlangen, Löwen! Eines der schönsten ist Vogel Albatros (1882):

O wonder! Vliegt hij nog?

Hij stijgt omhoog en roert zijn vleugels niet!

Wat tilt en draagt hem toch?

Wat is het dat hem trekt en teugels biedt?

Hij steeg ten top – nu draagt

de hemel zelf zijn steile vlucht: 

slechts aan zichzelf gewaagd

zweeft hij in stilte roerloos in de lucht!

Als ster en eeuwigheid

leeft hij in sferen die het leven schuwt, 

hem spijt wie hem benijdt –

wie hem ooit zag, is zelf al opgestuwd!

O Vogel Albatros!

Onstuitbaar is mijn drang naar hoger sfeer! 

Jouw beeld laat mij niet los:

tot tranens toe heb ik je lief – zozeer!


Schon während seines Studiums (klassische Philologie) beschloss Nietzsche, dass er später eine neue Art von poetischer Philosophie schaffen wollte, eine Mischung aus literarischen Gattungen und einer Philosophie ohne Transzendenz. In gewissem Sinne - und darauf weist auch Piet Gerbrandy in seiner Einführung hin - war dies eine Fortsetzung der romantischen "Universalpoesie" (Schlegel, Novalis) der Generation vor ihm und der Idee des "Gesamtkunstwerks" (Wagner). In seinem Buch Die fröhliche Wissenschaft (1882/87) wird diese kompositorische Verbindung von Lyrik und Philosophie zum ersten Mal konsequent dargestellt: Es beginnt mit einem Vorspiel von 63 Kurzgedichten und endet mit den Liedern des Prinzen Vogelfrei. Diese Gedichte sind Teil des spielerischen, parodistischen und offensiven Ansatzes des Philosophen. Formal wählt Nietzsche einfache kurze Epigramme in der Tradition Goethes und antiker Schriftsteller und Lieder in der Tradition französischer Troubadoure.

 

Die Verbindung von literarischer Sprache, Poesie und Philosophie sehen wir auch in „Also sprach Zarathustra“ (1883/85), Nietzsches berühmtestem Werk. Zarathustra ist die Bibel von Nietzsches Philosophie nach dem "Tod Gottes". Die drei hymnischen Langgedichte aus diesem Buch erweiterte Nietzsche im Januar 1889 zu dem Zyklus „Dionysische Dithyramben“. Dies war eine seiner letzten bewussten Handlungen, bevor er wahnsinnig wurde.

Fliegen, Segeln und Gehen sind metaphorische Formen der Bewegung in Nietzsches Erkenntnistheorie. In den 80er Jahren kam das Tanzen hinzu: Der philosophische Flaneur wanderte täglich stundenlang durch die Landschaft und durch die Stadt Turin, wo er das letzte Jahr vor seinem Wahnsinn verbrachte. Seine Gastgeberin erblickte ihn nackt und einsam tanzend in seinem Zimmer. Er dachte und schrieb gleichsam mit dem ganzen Körper, allen Gliedern und allen Sinnen.

Nietzsche ist als Dichter insofern besonders interessant, als wir aus seinen Gedichten etwas über seine Philosophie lernen können" (S. 284). Diesem Satz aus dem Aufsatz von Martine Prange kann ich nicht zustimmen, und auch Piet Gerbrandy zeichnet in seiner Einleitung ein anderes Bild. Zwischen den klassischen und romantischen Dichtern und Nietzsche liegen zwei, drei Generationen mit beispiellosen sozialen, politischen und wissenschaftlichen Veränderungen. Er stand in jeder Hinsicht an der Spitze des neuen Zeitalters. Als Denker war er in seiner Generation, also im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, unerreicht. Als Dichter, vor allem in den Dionysischen Dithyramben, ist er ein radikaler Erneuerer. Und wenn wir die deutschen Dichter (ungefähr) seiner Generation betrachten: den alten Biedermeierdichter Eduard Mörike, den "realistischen" Schweizer Conrad Ferdinand Meyer, den "sozialistischen" Ferdinand von Freiligrath, so kann er es in seinen schönsten Versen durchaus mit ihnen aufnehmen. Letztlich kann man bei Nietzsche den Philosophen und den Dichter nicht trennen und sollte sie nicht für sich betrachten. Mit seiner völlig neuen poetisch-philosophischen Sprache überragt er seine Zeitgenossen. Er selbst sah sich - nach Luther und Goethe - als den dritten großen Erneuerer der deutschen Sprache.

Versteckt in einer Streitschrift gegen Wagner, geschrieben kurz vor dem Ende seines Denkens um Weihnachten 1888, finden wir eines seiner schönsten Gedichte, hier in der Sprache und Klangform von Ard Posthuma:

Op de brug daar stond ik

Onlangs in bruine nacht.

Van ver klonk gezang:

Gouddruppels dreven aan

Over het trillende vlak.

Gondels, lantarens, muziek –

Dronken dreef het weg in de schemering…

 

Mijn ziel, een snarenspel,

Zong er, onzichtbaar geraakt,

Zijn heimelijk gondellied bij,

Trillend van bonte verrukking.

-Was er een luisteraar? …


Ard Posthuma hat Nietzsche zugehört. Er hat die Schönheit dieser Gedichte gesehen, gehört und erlebt. Seine Übersetzungen und sein Buch sind ein Meilenstein in der niederländischen Nietzsche-Rezeption und - wie ich hoffe - ein überraschendes Vergnügen für Tausende von Lesern.

Sonntag, 9. April 2023

Die Leseratte (25)

Die Leseratte...
hat Bultmann gelesen


Der Osterhase... 
                  
    ...ist auch nur ein Mensch