Als ich G. den Anfang von „Verbannt!“ vorlas, sagte sie spontan:
das klingt wie Benn, und wirklich: Ann Cotten bedient sich wie Benn der
sprachlichen Repertoires von Antike und Gegenwart, von Mythologie und
modernster Technik und Wissenschaft. Und sie hat auch etwas von seinem raunenden
Sound, aber anders als bei Benn ist dieser nicht geprägt von pathetischem
Ernst, sondern von einem spielerischen Unernst und einer formalen Witzigkeit (vgl.
den kommenden Beitrag Ann’s Reime!). Das ganz und gar Besondere aber ist, dass
dieser durchgehende Unernst ständig von der Radikalität des Gesagten gebrochen
wird. Das ist mir in der Literatur noch nie begegnet: Nicht Ironie bricht
Ernst, sondern anders herum! Die Leichtigkeit der Verse verhüllt die Schwere
der Aussage. Dieses Versepos ist in der modernen deutschen Literaturgeschichte
ohne Vergleich!
Natürlich hat Cotten ihre Lehrmeister, demonstrativ sogar:
Sie streut die Namen von einem guten Dutzend Dichtern und Denkern in den Text ein
und zitiert auch ab und zu ein paar Zeilen. Vier Dichter scheinen für ihre
radikale epische Konstruktion und ihre Sprache eine besondere
Rolle zu spielen: sie werden mit Vor- und Zunamen genannt: Inger Christensen (S. 8), Edna Millay (S. 40), Gottfried Benn (S. 44), John Giorno (S. 48).
Zu Inger Christensen (1935-2009) habe ich gleich in meinem ersten Beitrag etwas gesagt.
Sie hat mit ihrem 230seitigen Gedichtzyklus „det“ wohl das Vorbild für die kühne Größe des Versprojekts von Cotten gegeben und
für den Anspruch, ein Weltgedicht über “Alles” präsentieren zu wollen.
Mit Gottfried Benn (1886-1956) verbindet Cotten außer den oben angesprochenen Faktoren die radikale Zivilisationskritik wie
sie etwa in seinem Gedicht “Qui sait” formuliert ist. Wenn ich mich nicht täusche,
schwingen Aussagen dieses Bennschen Gedichts in Strophe 1 und 2 auf Seite 44
von “Verbannt!” im Hintergrund mit („Die Wirklichkeit ist blöd. Ich habe
Horror vor/vor allem unserer menschlichen Geschichte“).
Und der amerikanische Dichter und Performancekünstler John Giorno (geboren 1936, "We ARE the god. We ARE Computers", Zitat S. 48) hat bereits vor 50 Jahren bemerkt, dass die Lyrik 75
Jahre hinter Malerei und Skulptur, Musik und Tanz hinterherhinke. Daran, diesen Rückstand aufzuholen, hat er zeitlebens gearbeitet.
Und glaubt’s mir: Ann Cotten tut das auch!
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