Vor 25 Jahren habe ich das Unterrichtskonzept „Erfinde
einen Deutschen“ entwickelt. Vor 17 Jahren habe ich es in einer um die
Möglichkeiten der Computerdidaktik erweiterten Form für meine Dissertation „Land
in Sicht“ (aufgeschrieben. Ich halte es immer noch für ein modernes und
nützliches Instrument der Fremdsprachendidaktik, insbesondere, was die damals
noch teilweise utopischen Elemente der Computerdidaktik betrifft.
Hier ist das entsprechende Kapitel aus „Land in Sicht“
(Groningen 1997) ohne den computerdidaktischen Teil. Den bringe ich noch gesondert. Das Ganze
sprengt sowieso die Grenzen des Blogs, ist aber sicher für viele
niederländische Deutschlehrer interessant.
7.3 Das
Begegnungsspiel: "Erfinde eine(n) Deutsche(n)"
"Jeder
Mensch trägt eineinhalb Stunden Programm mit sich herum. Lernt man jemanden
kennen, erfährt man zunächst vom Geburtsort und den Geburtsumständen des
Unbekannten, bekommt einige Eltern- und Geschwisterdetails zu hören, wird
ein wenig über Ausbildungs- und Vermögensverhältnisse des Betreffenden
informiert, danach über die Ehe oder das Scheitern der Ehe, oder das Aus-Gutem-Grund-Nie-Verheiratet-Gewesen-Sein,
schließlich folgt noch ein gewisses Maß an Mitteilung à propos der
beruflichen Situation und neuester Akquisitionen sowie dem Sieg über eine
schwere Krankheit. Im Idealfall werden auch noch Feinschmecker-, Film-,
Theater-, Literatur- und Musikvorlieben diskutiert. Nach neunzig Minuten ist
die Darbietung, tonbandkassettenähnlich, abgelaufen. Alles Spätere wird
Wiederholung oder Variation des bereits Erzählten sein."
(Peter
Stephan Jungk, Die Unruhe der Stella
Federspiel, 1996)
Bei der Vorstellung des folgenden
Unterrichtsmodells geht es uns um die Darstellung einiger Prinzipien, die die
Praxismöglichkeiten eines begegnungsorientierten, dialogischen und
partizipatorischen Landeskundeunterrichts illustrieren und den in Abschnitt
2.8.1 zusammengefaßten Anforderungen auf der Unterrichtsebene entsprechen.
Thematisiert werden die Teile des Konzepts, die in besonderem Maße alltagsästhetische
Schemata und Deutungsmuster und ihre sprachliche Repräsentation betreffen. Es
handelt sich also nicht um einen zeitlich und inhaltlich sequenzierten Unterrichtsentwurf.
Zugrunde liegt eine Unterrichtsreihe, die ich mit Studenten im ersten
Semester in der Lehrerausbildung einer niederländischen Hochschule durchgeführt
habe. Das Modell ist sehr flexibel und kann leicht auf verschiedene Niveaus und
Zeitrahmen zugeschnitten werden.
7.3.1 Das
Simulationsmodell
Ausgangspunkt bei der Entwicklung des hier
vorgeschlagenen Verfahrens ist die Idealvorstellung, die Lernenden während des
Kurses die Kommunikationsgemeinschaft der Zielkultur simulieren zu lassen.
Simulation ist Reduktion: In diesem Sinne möchten wir auch das einleitende
Zitat von Peter Stephan Jungk verstanden wissen, dessen inhärenten Zynismus wir
nicht unbedingt mit in die Didaktik transportieren wollen. Ein
Simulationsspiel reduziert die chaotische Vielfalt der Realität auf ein
überschaubares Maß, in dessen Rahmenordnung freies Spielhandeln möglich wird.
Jeder Lerner also erfindet eine Figur, die
einen Bürger der Bundesrepublik Deutschland (bzw. des jeweiligen Ziellandes)
repräsentieren soll. Die fiktive Biographie dieser Figur wird von Unterrichtsstunde
zu Unterrichtsstunde erweitert und ergänzt. Bereits in der ersten Unterrichtsstunde
werden einige Grundmerkmale festgelegt und vorgestellt: Vor- und Nachname,
dadurch auch das Geschlecht, Alter, Geburtsort, Wohnort und Beruf. Bis auf
eine einschränkende Regel - die Figur sollte nicht jünger als 18 Jahre alt
sein; das ist das Mindestalter der Gruppenteilnehmer - sind die
Kursteilnehmer dabei in ihren Entscheidungen frei. Damit verfügt die Gruppe
über eine nach relativem Zufallsprinzip gestreute Minipopulation der
Bundesrepublik Deutschland. Die Wohn- und Geburtsorte der Figuren werden von
ihren Erfindern auf der Landkarte gezeigt. Dabei werden auch die Bundesländer
ermittelt, in denen die Orte liegen. Die Wohnorte aller Figuren werden von den
Teilnehmern auf ein Arbeitsblatt mit den politischen Grenzen der Bundesrepublik
Deutschland eingezeichnet.
In der Anfangsphase äußern sich die jeweiligen
Erfinder beschreibend über ihre Figuren, die allmählich von "flat
characters" zu "round characters" werden. Sie sollten auch ihr
Äußeres und ihre Charaktereigenschaften beschreiben können. Langsam erhalten
die Figuren ein rudimentäres Alltagswissen über ihren Wohnort und seine
Umgebung, über ihre politische und/oder weltanschauliche Einstellung und einen
Überblick über ihren bisherigen Lebenslauf. Für diese Erweiterungen sind oft
Recherchen nötig, die im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten eingeplant
werden sollten. Optimal ist es, wenn diese Recherchen mit realen oder
simulierten Sprachhandlungen verbunden werden können: z.B werden Informationen
zum Wohnort über einen Brief an das zuständige Fremdenverkehrsamt eingeholt
und ggf. durch die Benutzung von Reiseführern und Nachschlagewerken ergänzt.
Die Verarbeitung soll nicht Referatscharakter haben, sondern in der Gesprächsform
erfolgen, die bei einem zufälligen Kontakt mit einem Stadtfremden realisiert
wird.
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