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Dienstag, 27. Januar 2015

Die Tänzerin von Auschwitz – Worüber man nicht schweigen kann, darüber muss man reden

Paul Glaser, der Autor des jetzt auf Deutsch im Aufbau Verlag erschienenen Buches „Die Tänzerin von Auschwitz“ (niederländischer Originaltitel: „Tante Roosje“, 2010), ist ein begnadeter Redner. Er hielt gestern Abend die Zuhörerschaft im voll besetzten Vortragssaal der niederländischen Botschaft in Berlin anderthalb Stunden in seinem Bann, und zwar so wie ich es selten erlebt habe.

Dabei hat er nur die Lebensgeschichte seiner Tante erzählt. Nein, er hat noch eine andere Geschichte erzählt: seine eigene. Lange Zeit hatte er (geboren 1947 in Maastricht) angenommen, ein ganz normaler katholischer Niederländer zu sein, bis er bruchstückweise dahinter kam, dass da etwas anderes war, etwas das sein Vater konsequent beschwieg (und bis heute beschweigt).

Tante Roosje
Glaser erfährt erst als erwachsener Mann, dass seine Familie jüdisch ist und zum größten Teil im Holocaust ausgerottet wurde. Aber da gab es noch eine Tante in Stockholm. Und von ihr, Rosa Glaser, die während der Besatzungszeit eine Tanzschule unterhalten hatte und später, in Auschwitz, mit SS-Offizieren um ihr Überleben tanzte, hört er seine Familiengeschichte und Tante Roosjes merkwürdiges Schicksal, das sie nach vier-, fünffachem Verrat durch Niederländer nach Auschwitz führte.

Der Schweigeknoten, der sich auch in ihm gebildet hatte, brach erst, als er 2002 bei einem Besuch in Auschwitz unter den dort ausgestellten Koffern einen aus den Niederlanden mit dem Namen Glaser darauf entdeckte. Seitdem hat er sich der Dokumentation des Lebens von Tante Roosje gewidmet und redet darüber - auf Dutzenden Veranstaltungen in den Niederlanden und jetzt auch in Deutschland.


Seine Geschichte bewirkt nicht das bleierne Schweigen und die Betroffenheit, die so oft an diesem Tag des Gedenkens an Auschwitz zelebriert werden, sondern Rührung durch die Lebensfreude dieser Frau und Einsicht in die Wirkungsweisen von Faschismus und Verrat. Und Hoffnung auf die Kraft der Rede.

Samstag, 24. Januar 2015

Adolph Menzels „Eisenwalzwerk“ im Google Art Project

Beim Betrachten von Adolph Menzels Bild „Eisenwalzwerk“ (1875) in der Alten Nationalgalerie in Berlin fiel mir auf, wie unglaublich viel mehr auf dem Original zu sehen ist, als auf fast allen Fotografien, die man in Google aufrufen kann. Das ist gerade bei diesem Gemälde ganz extrem, weil sich die hundertfältigen Details um das zentrale, hell glühende Eisen herum auf den Fotografien im Dunkel verlieren.
Adolph Menzel, Eisenwalzwerk (1875)
Das große Bild (253 x 153 cm) erzeugt, wenn man davor steht, einen überwältigenden Gesamteindruck. Es muss mit seiner Darstellung des Arbeitsprozesses für die Zeitgenossen absolut revolutionär gewesen sein. Und das von dem Maler, der eher für seine zahlreichen Darstellungen der preußischen Könige, vor allem Friedrichs des Großen, bekannt war. Dass Menzel sehr viel mehr zu bieten hat, ist inzwischen in vielen Ausstellungen deutlich geworden. Er gilt heute als der größte deutsche Maler und Zeichner des 19. Jahrhunderts.

Nun gibt es seit 2011 das Google Art Project, das sich zum Ziel gesetzt hat, genau dieses Manko der unzureichenden Internetabbildungen aufzuheben, indem die Kunstwerke mit einer Auflösung von 7 Gigapixeln und mit einer Zoomfunktion für eine äußerst detaillierte Betrachtung angeboten werden.


Ich hatte das damals kurz zur Kenntnis genommen und bin jetzt überrascht, wie reichhaltig das Angebot inzwischen geworden ist. Es macht Spaß, sich dort eine eigene Galerie zusammenzustellen. Menzels “Eisenwalzwerk” ist das erste Objekt in meiner Sammlung.

Seht's euch an. Der Unterschied ist enorm.

Freitag, 23. Januar 2015

Sitzpinkler versus Stehpinkler – Zur deutschen Kultur der Gegenwart

Die deutschen Sitzpinkler haben eine Niederlage erlitten. Das hat sogar die niederländische Presse erreicht, wenn auch überall mit dem gleichen monotonen Kurzbericht.

Aber freuen wir uns nicht zu früh: Wenn ihr mal in einen deutschen Privathaushalt eingeladen seid und auf der Toilette diesem oder ähnlichen Aufklebern begegnet, lasst euch bitte nicht wegen verletzter Männerehre auf eine Diskussion mit der Hausfrau ein: Dies ist bitterer Ernst, und ihr kennt ja die polarisierende deutsche Diskussionskultur. Also: gut abschließen!

Da Niederländer das Ampelmännchen lieben, ist der entsprechende Aufkleber vielleicht ein geeignetes Mittel, die Kultur des Sitzpinkelns auch in den Niederlanden weiter zu verbreiten.


P.S.: Im WC von Café Deutschland muss irgendwo ein Urinoir sein. Damit erübrigt sich jede Diskussion.

Donnerstag, 22. Januar 2015

Vielsagende Rechtschreibung

Beim Lesen deutscher Bücher, die zwischen 1996 und 2006 gedruckt wurden, fallen einem die Kuriositäten der Rechtschreibereform von 1996 ins Auge:


„ein nichts sagender Tisch“

Da habe ich doch lieber einen viel sagenden Tisch:



Mittwoch, 21. Januar 2015

Heimerziehung, so richtig deutsch

In Giorgio Scerbanencos Kriminalroman „Der lombardische Kurier“ (ursprünglicher Titel „I ragazzi del massacro“, Mailand 1968) kommt eine italienische Sozialarbeiterin vor, die vier Seiten lang ihr Praktikum in einem Westberliner Wohnheim für Kinder von Straftätern beschreibt. Hier ein Auszug:

Und dann nahm sie mich mit in einen großen Hof, in den jeden Donnerstagnachmittag drei oder vier alte Autos oder Möbelstücke zum Demolieren gebracht wurden. Nun teilten sich die Jungen und Mädchen in Altersgruppen auf. Jedes Kind war mit einer großen Axt und einer Eisenkeule augerüstet, damit mussten sie die Autos, Stühle, Schränke und so weiter systematisch zerstören. Sie konnten jedoch nicht einfach blindwütig draufhauen, denn die verschiedenen Materialien – Gummi und Holz, Eisen und Messing, Stoff und Glas – mussten voneinander getrennt werden. (…) Zwanzig Kinder, die mit riesigen Äxten bewaffnet auf ein Zeichen hin alle gleichzeitig anfingen, auf die Dinge vor ihnen einzudreschen und dadurch ihrer Aggressivität in sinnvoller Form Ausdruck verleihen konnten! (...) Es war eine vorbildliche Einrichtung, Herr Doktor, so richtig deutsch, und ich bin überzeugt, dass keines dieser Kinder den Weg seiner Eltern einschlagen wird.

Giorgio Scerbanenco, Der lombardische Kurier (2004), S. 128f.

Giorgio Scerbanenco (1911-1969)
Der Roman stammt aus dem Jahr 1968. Das beschriebene Konzept der Heimerziehung von Problemkindern müsste also vorher entwickelt worden sein. Vielleicht hat es in der frühen Apo-Zeit in Westberlin tatsächlich so etwas oder etwas Ähnliches zum Lösen von Aggressionsstaus gegeben. Das würde mich mal interessieren. Die „Heimkampagne“ von Apo-Gruppen lief aber erst ab 1969 an.


Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass Kinder mit Äxten und Eisenstangen ein Auto in seine verschiedenen Materialien zerlegen können und vermute deshalb, dass es sich bei dieser Mülltrennung um ein ironisch übertreibendes Element des Autors handelt: Heimerziehung, „so richtig deutsch“.