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Montag, 11. Juli 2016

Ann Cotten, Verbannt! – Ein Lesetagebuch (7): Mensch Meyer! Ann’s Methode


In der Einleitung zu "Verbannt!" hat Ann Cotten angekündigt, „Alles“ zum Thema zu machen. Meyers Konversationslexikon ist ihr Instrument dazu. Die Form der Enzyklopädie ist seit fast 300 Jahren die Methode des aufgeklärten Zeitalters, das gesamte Wissen der Welt in alphabetischer Form zu bewahren und verfügbar zu machen. Ann hat „alles“ dabei. Ihren „Meyer“ von 1910 hat sie allerdings aus dem Müll gerettet (sic!). Bereits auf dem Boot, das sie zur Insel bringen soll, beginnt sie, in den Bänden zu blättern. Die wie zufällig ins Auge fallenden Lemmata bilden von jetzt an eine Strukturachse des Versepos. An einigen (Leuchtraketen, Bier, Seele, Wolken) arbeitet die Protagonistin ihre Assoziationen ab, aus anderen macht sie ganze Strophen: gut 90 sind es auf den Seiten 60f. – von „Seebär“ bis „Seele“ und noch einmal 90 am Ende des Buches – von „Seeleim“ bis „Seezunge“.

 
Wandmalerei mit Zitat aus Inger Christensens Gedicht "alfabet"

Alphabetische Listen bringen Ordnung ins Chaos, geben jedem Einzelnen im Vielen seinen Ort und machen es auffindbar, auch wenn die Welt als solche nicht „lesbar“ ist. Hier zeigt sich Ann Cottens Verwandtschaft zur Methode Inger Christensens in „det“ und „alfabet“ (siehe Lesetagebuch 6):



„So, wie die Buchstaben in einem Buch niemals das Buch werden lesen können, so können wir auch niemals die Welt lesen. Die Buchstaben werden es natürlich auch nicht versuchen. Wir dagegen sind gezwungen, weiterzulesen. Und stets wird es uns gehen wie in der berühmten Erzählung von Jorge Luis Borges, der Erzählung von der Landkarte, die immer größer und ausführlicher gezeichnet wird, bis sie schließlich genauso groß ist wie die ganze Welt und das bedeckt, was sie eigentlich aufdecken sollte.
In einer menschlichen Dimension muss die Karte eine Abkürzung sein. Und auf dieselbe Art und Weise muss die Sprache eine Abkürzung für die Lesbarkeit der Welt als solche sein. Eine poetische Abkürzung für all die Zeichen im Weltall, deren Verhältnisse und Bewegungen wir nicht umhin können uns anzulesen.“

Aus Inger Christensen, Der naive Leser, In: Manuskripte. Zeitschrift für Literatur, Heft 115, 1992

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