Wenn es von der Intention
und von Form & Inhalt her ein Parallelwerk zu “Verbannt!” in der deutschen
Literatur gibt, dann ist das Friedrich Schlegels “Lucinde” (1799). Das wäre
jedenfalls mein Tipp für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Ann Cottens
Werk, die über dieses Lesetagebuch hinausgeht.
Kein Zufall also,
dass Ann auf den Seiten über den Tokamak und die Kernverschmelzung auch von den
“beiden Schlegeln” (S. 46) spricht (Friedrich Schlegel und sein Bruder August
Wilhelm; eventuell meint sie auch Friedrichs Frau Dorothea). Anns Thema der
Verschmelzung von Männlichkeit und Weiblichkeit, ist – für die damalige Zeit
skandalös – bei Schlegel im Kapitel “Dithyrambische Fantasie über die schönste Situation”
formuliert:
Eine unter allen ist die witzigste und die schönste:
wenn wir die Rollen vertauschen und mit kindischer Lust wetteifern, wer den
andern täuschender nachäffen kann, ob dir die schonende Heftigkeit des Mannes
besser gelingt, oder mir die anziehende Hingebung des Weibes. Aber weißt du
wohl, daß dieses süße Spiel für mich noch ganz andre Reize hat als seine
eignen? Es ist auch nicht bloß die Wollust der Ermattung oder das Vorgefühl der
Rache. Ich sehe hier eine wunderbare sinnreich bedeutende Allegorie auf die
Vollendung des Männlichen und Weiblichen zur vollen ganzen Menschheit.
Der komplette Text von “Lucinde” kann im
Gutenberg-Projekt aufgerufen warden.
Arabeske in der Kunst |
Der Text verfolgt keine epische
Erzählung, sondern bietet seinem (gemäß dem „unbezweifelte[n] Verwirrungsrecht“
des Erzählers/Autors) verwirrten Leser Stimmungen und Reflexionen der
Hauptfigur Julius. Es ist stets unsicher, in welchem Bezug ein Textstück zu
einem anderen steht. Und erahnt der Leser einen Zusammenhang, der einer
Handlung ähnelt, wird dieser Eindruck bald wieder zertrümmert. Den Sprüngen im
Text kann der überforderte Leser kaum folgen. Damit sind Merkmale des modernen
Romans vorweggenommen.
Das alles trifft auch auf "Verbannt!" zu. Dabei muss ich es hier und jetzt
belassen. Ich werde mein Lesetagebuch mit zwei, drei weiteren Beiträgen
abrunden. Vielleicht gibt’s mal eine zweite Runde, denn vieles ist noch
ungesagt. Aber ich muss auch mal was anderes machen.
Auch Ann
Cotten scheint am Ende etwas genug gehabt zu haben von ihrem Projekt. In der
“Welt” gibt es ein schönes, aufschlussreiches Interview mit ihr. Hier ein
kleiner Auszug:
Die Welt: Es beginnt ja eigentlich recht pompös. Die Musen werden angerufen. Und
Sex wird auch versprochen.
Cotten: Ich bin auch enttäuscht von diesem Abfall gegen Ende hin. Während ich
immer dachte, dass es endlich losgeht, habe ich gespürt, dass ich allmählich
genug habe von diesem Versmaß. Sex gibt's übrigens bei Hermes Wolpertinger. Man
muss halt kapieren, dass das Sex ist und nicht einfach ein Trip.
Tja, das mit dem in der Einleitung
angekündigten Sex hat mich auch beschäftigt. Jetzt weiß ich
jedenfalls, wo ich ihn suchen muss: bei Hermes Wolpertinger. Und da gehört er
ja auch hin.
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