Eala frya Fresena: Diesen Spruch kenne ich seit meiner
Jugend im ostfriesischen Leer. Was immer er bedeutete, war mir lange unklar. Es
war eben der ostfriesische Wappenspruch, und er hat mir irgendwie gefallen. “Sei
frei, Friese!”, habe ich mir in späteren Jahren dazu gedacht. Nicht schlecht.
Beinah!
Die Wikipedia erzählt uns, dass die Übersetzung von “Eala frya
Fresena” umstritten ist. Nach dem Lesen des Artikels erschien mir aber dies als
die passendste Version: “Steh auf, wenn du ein Friese bist!”
Passend ist das im historischen Sinn der Bedeutung der
friesischen Freiheit und passend auch im Sinne eines gewissen heutigen
Gemeinschafts-Chors, der mir ebenfalls etwas bedeutet: “Steh auf, wenn du ein
Schalker bist!” (Mit Gelsenkirchen verbinden mich gewisse Verbindungen.) Ja, wat denn nu? Entweder Schalke oder Ostfriesland?
Also, ich könnte mir vorstellen, dass - wenn ich mal in der
Arena auf Schalke sein sollte (war ich noch nie, aber ich war einmal bei Germania Leer) - und ich höre diesen
gewaltigen Chor aus zigtausenden Stimmen, dass ich dann einfach höre: “Steh
auf, wenn du ein Friese bist.” Und dann stehe ich auf und wundere mich, denn das
habe ich in Leer/Ostfriesland noch nie gehört.
Wolfgang Herrndorf, der Autor von "Tschik" und "Sand", hat sich vorgestern in der Endphase seines Gehirntumors erschossen. Sein Blog "Arbeit und Struktur" ist beendet und nicht mehr zugänglich. Hoffentlich wird es eine gedruckte Version davon geben.
„Das Gedächtnis
klimpert mit den abgegriffenen Münzen, alle noch aus DM-Zeiten, vornehmlich
Fünfzig-Pfennig-Stücke, die einst genügten für Kino und Friseur, auf der
Rückseite die kniende Eichen-Pflanzerin mit Kopftuch, Wiederaufbaufee nach
BDM-Geschmack.
Unantastbare
Nachkriegszeit, im Gedächtnis der geschützte Code der Frühe. Ein Siegel, das
kein späteres Besserwissen brechen konnte. Erinnerungen verblassen, dafür lösen
sich Depots, die feindosiert Vergangenheit als reinen Stoff ins Blut streuen.“
Botho Strauß, Vom
Aufenthalt, München 2009, 150f.
Das ist für mich
ein spannender Text: genauso wie Strauß erfahre ich es auch. Das
Fünfzig-Pfennig-Stück fand ich als Kind besonders schön, als Silbermünze, deutlich mehr wert
als ein Groschen, mit einem konkreten Bild auf der Rückseite – ich finde immer
noch Münzen mit einem realistischen Bild schön, nicht die stilisierten Adler,
Zeichen und Köpfe – dies ist ein intensives Geldstück aus der Kindheit, ein
geschützter ‚Code der Frühe‘. Die holländischen Kwartjes und Dubbeltjes waren
damals sogar noch faszinierender: mein erstes ausländisches Geld. Die
Faszination durch Münzen hat sich gehalten. Zeitweise habe ich Münzen
gesammelt, und immer habe ich ein Auge dafür gehabt: im Europa vor dem Euro
(das war sehr schön im naiven Sinn) und im Europa seit dem Euro (das ist sehr
schön im ideellen Sinn). Ich habe ein Kästchen mit Euromünzen, deren Rückseiten
mir besonders gefallen: die griechische Eule und Europa mit dem Stier, die
Schwäne auf den finnischen Münzen.
Aber Botho Strauß
will ja mehr: das Gedächtnis ‚klimpert‘ mit den alten Münzen, aber der
erwachsene Botho sieht auf der Fünfzigpfennigmünze eine ‚Wiederaufbaufee nach
BDM- Geschmack‘. Dennoch bleibt das Stück unantastbar und versiegelt.
Die persönliche
Kindheit mit ihren sinnlichen Prägungen und Aufregungen - und der in
Jahrzehnten geübte kritische Blick auf die fünfziger Jahre und die
Gesellschaft, in der wir aufgewachsen sind: gehört das zusammen oder gehört das
auseinander. Und was meint Strauß mit dem ‚reinen Stoff‘, der uns jetzt als
Vergangenheitsheroin ins Blut rieselt?
Jetzt ist sie da: Am morgigen Montag erscheint die neue Goethe-Biographie
von Rüdiger Safranski. Titel: “Goethe. Kunstwerk eines Lebens” (München: Hanser
2013).
Safranski ist bekannt von seinen Biographien über
Schopenhauer, Nietzsche, Heidegger und Schiller. Vor kurzem hat er ein Buch
über die Freundschaft zwischen Goethe und Schiller veröffentlicht, offenbar
eine Vorübung für sein Monumentalwerk zum deutschen Olympiker.
Im Spiegel lobt Matthias Matussek (ja: der humorlose
Krömer-Gast) das 750-Seiten-Werk über den Klee. Ich kann hier aber noch keine
Rezension linken.
Vor ca. 10 Jahren habe ich diesen Aufsatz geschrieben. Er stammt aus meiner Reihe zu deutsch-niederländischen Kulturbegegnungen. Wolfgang Koeppen war 1934-38 in einem (freiwilligen) Exil in den Niederlanden.
Schattenspiel
Wolfgang Koeppens
Romanfragment Die Jawang-Gesellschaft
In einer “Periode der Verzweiflung” entstand
in den Jahren 1937/38 während Wolfgang Koeppens freiwilligem Exil in den
Niederlanden der Plan zu dem Roman Die
Jawang-Gesellschaft. Jahrzehntelang ist in der Literaturkritik über dieses
Projekt gerätselt und spekuliert worden. Der verschmitzt-versponnene Autor, dem
nach dem Erfolg seiner drei Romane der fünfziger Jahre eine Schreibhemmung
nachgesagt wurde, schien immer für eine Überraschung gut. Und wenn es denn
nicht ein neuer Roman sein sollte, so vermutete man in seinen Schubladen
wunderbares Verstecktes. Die Hoffnungen bestätigten sich 1992, als ein Roman
von ihm neu verlegt wurde, der 1948 unter anderem Namen erschienen war.
44 Jahre lang hatte der Autor über Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem
Erdloch geschwiegen. Worüber noch? Nach Koeppens Tod im Jahre 1996 hat
Alfred Estermann eine erste Sichtung des Nachlasses vorgenommen und die
vorgefundenen Prosastücke veröffentlicht.[1] Das
umfangreichste und interessanteste Manuskript sind die drei Kapitel des
Jawang-Projektes. Koeppen hat mit knappen und teils widersprüchlichen
Äußerungen zu dem langjährigen Verwirrspiel über diesen Roman beigetragen, das
Estermann im Nachwort zur gesonderten Ausgabe des Textes[2]
dokumentiert.
Aus den erhalten gebliebenen Kapiteln ist das
Gesamtkonzept des Romans nicht abzuleiten, nicht einmal der Plot wird deutlich.
Der Roman bricht ab, bevor überhaupt die im Titel genannte “Jawang-Gesellschaft”,
eine indonesische Schattenspielgruppe, in irgendeiner Form eingeführt oder auch
nur erwähnt wird. Das Puppentheater taucht jedoch im Motto auf, einem Zitat aus
Kleists Aufsatz Über das
Marionettentheater: “Zudem, sprach er, haben diese Puppen den Vorteil, dass
sie antigrav sind. Von der Trägheit der Materie, dieser dem Tanze
entgegenstrebendsten aller Eigenschaften, wissen sie nichts: weil die Kraft,
die sie in die Lüfte erhebt, größer ist als jene, die sie an die Erde fesselt.”
Die Jukebox
von Café Deutschland muss dringend mit ein paar neueren Titeln gefüllt werden,
sonst wird das hier alles zu kopflastig.
Steff la Cheffe
Bei der
Suche lief mir die Schweizer Rapsängerin Steff la Cheffe über den Weg. Von den
Titeln auf YouTube gefällt mir im Moment „Im Momänt“ von ihrem Debütalbum „Bittersüessi
Pille“ (2010) am besten.
Gerade ist
ihr zweites Album „Vögu zum Geburtstag“ erschienen, das in der Schweizer
Hitparade auf Platz 1 steht.
Nicht-Schweizer
brauchen eine Texttranskription, um sie zu verstehen. Auf ihrer YouTube-Website
sind alle zu finden. Dort kann man auch ihre CDs bestellen.
Steff la
Cheffe ist auch Vizeweltmeisterin im Genre „Beatboxing“. Das liegt mir nicht
so. Aber wer sich die Finalrunde antun möchte, kann sie hier sehen und hören.
Zu Helmut Lethen bin ich irgendwie nicht gekommen, obwohl
er mir näher steht als die beiden anderen und mir sein kleines Büchlein sehr
gefallen hat. Aber genau das ist wohl der Grund dafür. Dann habe ich entdeckt, dass Jochen Schimmang es in der taz
besprochen hat. Er steht dem Autor noch näher und kann besser als ich über sich selbst und die wilden siebziger Jahre schreiben. Hier ist sein Beitrag zu Lethens Buch: Artikel von Jochen Schimmang in der taz.
Die Longlist für
den Buchpreis ist da. Zwanzig Titel. Von acht Autoren habe ich noch nie etwas gehört. Das ist
ein gutes Zeichen.
Elf Romane erscheinen im August/September. Was soll ich
dazu sagen?
Das absolute Schwergewicht ist Reinhard Jirgls „Nichts von
euch auf Erden“ und wird den Preis nicht bekommen.
Warum Jirgl nicht?
Schaut auf letztes Jahr, als Ursula Krechels “Landgericht” den Preis bekam.
Stinklangweilige politisch-literarische Korrektheit als Auswahlkriterium.
Warum sollte es
dieses Jahr anders sein?
Aber die restlichen neunzehn könnten Stück für Stück großartige Literatur sein. So hat die Liste doch ihren Sinn.
• Mirko
Bonné: Nie mehr Nacht (Schöffling & Co., August 2013)
• Ralph
Dutli: Soutines letzte Fahrt (Wallstein, März 2013)
• Thomas
Glavinic: Das größere Wunder (Hanser, August 2013)
• Norbert
Gstrein: Eine Ahnung vom Anfang (Hanser, Mai 2013)
• Reinhard
Jirgl: Nichts von euch auf Erden (Hanser, Februar 2013)
• Daniel
Kehlmann: F (Rowohlt, September 2013)
• Judith
Kuckart: Wünsche (DuMont, März 2013)
• Olaf Kühl: Der
wahre Sohn (Rowohlt.Berlin, September 2013)
• Dagmar
Leupold: Unter der Hand (Jung und Jung, Juli 2013)
• Jonas
Lüscher: Frühling der Barbaren (C. H. Beck, Januar 2013)
• Clemens
Meyer: Im Stein (S. Fischer, August 2013)
• Joachim
Meyerhoff: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war (Kiepenheuer
& Witsch, Februar 2013)
• Terézia
Mora: Das Ungeheuer (Luchterhand, September 2013)
• Marion
Poschmann: Die Sonnenposition (Suhrkamp, August 2013)
• Thomas
Stangl: Regeln des Tanzes (Droschl, September 2013)
• Jens
Steiner: Carambole (Dörlemann, August 2013)
• Uwe Timm: Vogelweide
(Kiepenheuer & Witsch, August 2013)
• Nellja
Veremej: Berlin liegt im Osten (Jung und Jung, Februar 2013)
• Urs Widmer:
Reise an den Rand des Universums (Diogenes, August 2013)
• Monika Zeiner: Die Ordnung
der Sterne über Como (Blumenbar, März 2013)