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Montag, 31. August 2020

Nietzsche (10): Die Schülergedichte

Zwei Lerchen

Ich hörte zwei Lerchen singen 
Sie sangen so hell und klar 
Und flogen auf freudigen Schwingen 
Am Himmel so wunderbar.

Die eine nahte der Sonne 
Geblendet doch schrak sie zurück 
Wohl dachte sie oft noch mit Wonne 
An dies vergangene Glück.

Doch wagt sie nicht zu erheben 
Die Schwingen nach jenem Strahl 
Sie fürchtet, es möchte ihr Streben 
Ihr werden am Ende zur Qual. 

Die andre in mutigem Drange 
Schwingt sich zu der Sonne heran 
Doch schließt sie die Augen so bange 
Auf nie noch betretener Bahn. 

Sie kann doch nicht widerstehen 
Sie fühlt unbesiegbare Lust 
Die himmlischen Strahlen zu sehen 
Sich selber kaum mehr bewußt.

Sie blickt in die strahlende Sonne 
Sie schaut sie an ohne Klag 
In himmlischer Freude und Wonne, 
Bis endlich ihr Auge brach. – –??!!!




Mehr als die Hälfte der Gedichte aus dem Band "Sämtliche Gedichte" (2019) stammen aus der Schulzeit Nietzsches zwischen 1854 und 1864. Dabei handelt es sich um hunderte von Gelegenheits-, Stimmungs- und Naturgedichten, wie sie im 19. Jahrhundert von vielen deutschen Schülern geschrieben wurden, aber die Intensität und die Quantität mit der Nietzsche das tat, auch schon als Zehnjähriger, ist ungewöhnlich.

Nur wenige Gedichte ragen aus dieser Masse heraus, haben etwas Besonderes. Dazu gehört "Zwei Lerchen", das einen Vorschein von den späteren Vogelgedichten in Zusammenhang mit Nietzsches Philosophie gibt: für einen Dreizehnjährigen ein ganz ungewöhnliches Gedicht!

Außerdem "Colombo", aus demselben Jahr (1858), das erste der Kolumbusgedichte, auf die ich noch zurückkomme.

Montag, 24. August 2020

Nietzsche (9): Nietzsche und die Folgen (Andreas Urs Sommer)


Der genaueste Nietzsche-Leser unserer Zeit ist der 48jährige Schweizer Direktor der deutschen Friedrich-Nietzsche-Stiftung und der Forschungsstelle „Nietzsche-Kommentar“, Andreas Urs Sommer. Sommer hat ein halbes Dutzend dickleibige Nietzsche-Kommentare zu den einzelnen Werken geschrieben. Schon seine Dissertation ging 600 Seiten lang über Nietzsches Spätwerk „Der Anti-Christ“.

 

Nun ist von ihm ein verhältnismäßig schmaler Band, „Nietzsche und die Folgen“, erschienen (2. Auflage, Berlin 2019), in dem er zunächst auf 90 Seiten mit sprühender Intelligenz eine Zusammenfassung und Einschätzung von Nietzsches Werken gibt („Nietzsches Welt“), um sich dann 100 Seiten lang „Nietzsches Nachwelt“ zu widmen, in der er gegebenenfalls auch seinen bissigen Humor walten lässt. Hier geht es um die unglaublich vielfältige Nachwirkung Nietzsches in Deutschland, Europa und der Welt, um Nietzsche-Verehrer und Nietzsche-Hasser zwischen 1900 und jetzt. Viele Beispiele für die angebliche Nähe von Hitler und Nietzsche passieren die Revue, zum Beispiel das unsägliche Gedicht von Rolf Hochhuth aus seinem Bändchen „Nietzsches Spazierstock“ (2004):

 

„Blonde Bestien“ verbrennen mit Hitlers Gebein

Nietzsches Stock, als sie Benzin auf den gießen,

der 56 Millionen Europäer gemordet – nicht allein:

Ihm halfen, die Nietzsche mitherrschen ließen.

 

(Der Spazierstock Nietzsches war von seiner naziaffinen Schwester Elisabeth Hitler zum Geschenk gemacht worden.)

 

Auch die Rolle Nietzsches in der westlichen Unterhaltungsindustrie, etwa in Filmen wie „Rope“ von Hitchcock wird behandelt. In der zweiten Auflage ist noch ein Anhang hinzugefügt: „Fake Nietzsche“, in dem der Autor falsche Nietzsche-Zitate und andere Verfälschungen des Werkes auf die Reihe bringt.

 

Ein elegantes Buch, mit Konzentration und Vergnügen zu lesen!

 

Eine Schlussfolgerung, die den Standort des Autors deutlich macht, bringt das folgende Zitat: „Diejenigen, die Nietzsche bierernst nehmen, sind gezwungen, die Vielstimmigkeit Nietzsches zum Verstummen zu bringen und nur eine – möglichst die schrillste – Stimme gelten zu lassen“ (Sommer 109f.).

 

Andreas Urs Sommer eröffnet einen reichhaltigen Zugang zu Nietzsche, gerade in unseren Zeiten. In diesem Sinne können wir ihn auch in einem Gespräch auf YouTube erleben, in dem es um Nietzsche, Ressentiment und Trump geht. Dort gibt es auch weitere Beiträge mit ihm.

Mittwoch, 19. August 2020

Nietzsche (8): Die Vogel-Gedichte



Vogel Albatros

O Wunder! Fliegt er noch?
Er steigt empor, und seine Flügel ruhn!
Was hebt und trägt ihn doch?
Was ist ihm Ziel und Zug und Zügel nun?

Er flog zu höchst - nun hebt
Der Himmel selbst den siegreich Fliegenden:
Nun ruht er still und schwebt,
Den Sieg vergessend und den Siegenden.

Gleich Stern und Ewigkeit
Lebt er in Höhn jetzt, die das Leben flieht,
Mitleidig selbst dem Neid - :
Und hoch flog, wer ihn auch nur schweben sieht!

O Vogel Albatros!
Zur Höhe treibt's mit ew'gem Triebe mich!
Ich dachte dein: da floß
Mir Thrän' um Thräne - ja, ich liebe dich!


Hier ist meine komplette Auswahl von Vogelgedichten, in denen es einen Bezug zwischen dem Vogelmotiv und der Philosophie Nietzsches gibt. Prinz Vogelfrei, Vogel-Urtheil und Der Freigeist haben wir hier im Blog schon kennengelernt (die Seitenzahlen beziehen sich auf die Ausgabe sämtlicher Gedichte im Kröner Verlag, 2019:

Prinz Vogelfrei (10)
Vogel Albatros (16)
Vogel-Urtheil (17)
Im Süden (43)
Liebeserklärung (46)
Nur Narr! Nur Dichter! (55-57)
An die Melancholie (84)
Es geht ein Wanderer (90)
Schafe (120)
Der Wanderer (132)
Zwei Lerchen (255)
Auf nakter Felsenklippe (270)

Es gibt noch mehr; vor allem in den Jugendgedichten schwirren allerlei Lerchen und Nachtigallen herum, aber die haben noch nicht den speziellen Impetus.

Man könnte an den Vogelgedichten entlang einen spannenden Artikel zum Verhältnis von Poesie und Philosophie bei Nietzsche schreiben: vom anrührenden Prinz Vogelfrei im Kreis der Vögelchen über den in fernsten Höhen schwebenden Albatros zum auf die Lämmer herabstoßenden Adler in „Nur Narr! Nur Dichter“. Und dies sind keineswegs einfach Variationen desselben Motivs und Themas. Man schaue nur auf diese Zeilen aus dem dreiseitigen Gedicht „Nur Narr! Nur Dichter!“:

.. dem Adler gleich, der lange
Lange starr in Abgründe blickt,
in seine Abgründe …
Oh wie sie sich hier hinab,
Hinunter, hinein,
In immer tiefere Tiefen ringeln! –
Dann,
plötzlich,
geraden Flugs
gezückten Zugs
auf Lämmer stoßen,
jach hinab, heißhungrig,
nach Lämmern lüstern,
gram allen Lamms-Seelen,
grimmig gram Allem, was blickt
tugendhaft, schafmäßig, krauswollig,
dumm, mit Lammsmilch-Wohlwollen …

Also
adlerhaft, pantherhaft
sind des Dichters Sehnsüchte,
sind deine Sehnsüchte unter tausend Larven,
du Narr, du Dichter! …

Dies stammt aus den Dionysos-Dithyramben, dem letzten Werk Nietzsches (1889). Aber so sehr es mich auch reizen würde, den Zusammenhängen von Lyrik und Philosophie bei Nietzsche nachzugehen, übersteigt das doch die Absichten meines Blogs.

Montag, 17. August 2020

Nietzsche (7): Das schönste Nietzsche-Gedicht

Nietzsches Gedichte waren nicht etwa eine Nebenproduktion; sie sind Bestandteil seiner Philosophie. Sein Hauptwerk, der „Zarathustra“ ist ja selbst ein Zwischending aus Poesie und Philosophie. 


Nietzsches philosophisches Ich ist etwas völlig anderes als bei den systematischen Philosophen des 19. Jahrhunderts, die auf eine Gesamterklärung der Welt abzielten. Nietzsche rechnet ab mit zweieinhalb Jahrtausenden Metaphysik und Religion. Er selbst bleibt einsam übrig als derjenige, der nach dem von ihm konstatierten Tode Gottes in äußerster Radikalität als freier Geist die Umwertung aller Werte vornehmen muss. Diese Position bringt er immer wieder auch mit poetischen Metaphern zum Ausdruck.


Als sein schönstes Gedicht gilt „Vereinsamt“ in der Fassung und mit dem Titel wie es 1894 (nicht von ihm selbst) veröffentlicht wurde. Entstanden war es schon 1884 unter dem Titel „Der Freigeist“ und um zwei Strophen länger, die genau die Position des freien und einsamen Geistes Nietzsche verdeutlichen. Ohne die zwei Strophen scheint das Gedicht ganz allgemein vom Verlust der Heimat und der daraus hervorgehenden Einsamkeit zu handeln. Verständlich, dass es in dieser Version berühmt wurde. Als existentielles Ich-Gedicht des Philosophen geht es aber nicht ohne den Fluch auf das dumpfe deutsche Stuben-Glück.


Thomas Anz geht in seinem Essay „Weh dem, der (k)eine Heimat hat“ auf beide Versionen ein.  




Der Freigeist (Vereinsamt)

 

Abschied

 

„Die Krähen schrei‘n 
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt: 
Bald wird es schnei‘n – 
Wohl dem, der jetzt noch – Heimat hat!

 

Nun stehst du starr,
Schaust rückwärts ach! wie lange schon!
Was bist du, Narr,
Vor Winters in die Welt – entflohn?

 

Die Welt – ein Tor
Zu tausend Wüsten stumm und kalt!
Wer Das verlor,
Was du verlorst,macht nirgends Halt.

 

Nun stehst du bleich,
Zur Winter-Wanderschaft verflucht,
Dem Rauche gleich,
Der stets nach kältern Himmeln sucht.

 

Flieg‘, Vogel, schnarr‘
Dein Lied im Wüsten-Vogel-Ton! –
Versteck‘ du Narr,
Dein blutend Herz in Eis und Hohn!

 

Die Krähen schrei‘n
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnei‘n –
Weh dem, der keine Heimat hat!“

 

Antwort

 

Daß Gott erbarm‘! 
Der meint, ich sehnte mich zurück 
In’s deutsche Warm, 
In’s dumpfe deutsche Stuben-Glück!

 

Mein Freund, was hier 
Mich hemmt und hält, ist dein Verstand, 
Mitleid mit dir! 
Mitleid mit deutschem Quer-Verstand!

Freitag, 14. August 2020

Nietzsche (6):Spaß mit Nietzsche


Nietzsche, Horst Janssen, 1989

Vogel-Urtheil

 

Als ich jüngst, mich zu erquicken,

Unter dunklen Bäumen sass,

Hört‘ ich ticken, leise ticken,

Zierlich, wie nach Takt und Maass.

Böse wurd‘ ich, zog Gesichter,

Endlich aber gab ich nach,

Bis ich gar, gleich einem Dichter,

Selber mit im Tiktak sprach.

 

Wie mir so im Versemachen

Silb‘ um Silb‘ im Hopsa sprang,

Musst ich plötzlich lachen, lachen

Eine Viertelstunde lang.

Du ein Dichter? Du ein Dichter?

Stehts mit deinem Kopf so schlecht?

„Ja, mein Herr! Sie sind ein Dichter!“

Also sprach der Vogel Specht.

 

 

An Goethe

 

Das Unvergängliche

Ist nur dein Gleichniss!

Gott der Verfängliche

Ist Dichters Erschleichniss …

 

Welt-Rad, das rollende,

Streift Ziel auf Ziel:

Noth – nennt’s der Grollende,

Der Narr nennt’s – Spiel …

 

Welt-Spiel, das herrische,

Mischt Sein und Schein: -

Das Ewig-Närrische

Mischt uns – hinein! ...

 

 

Friedrich Nietzsche, Sämtliche Gedichte, Stuttgart 2019, S. 17 und 41

 

Donnerstag, 13. August 2020

Nietzsche (5): Von Lukács zu Losurdo

Den Studenten der heutigen Generation steht ein neues Nietzsche-Buch aus kommunistischer Hand zur Verfügung: Domenico Losurdo „Nietzsche, der aristokratische Rebell“ (italienisch 2002, deutsch 2012: Argument-Verlag, Berlin). Der Sprung von Lukács zu Losurdo ist kürzer, als ich zunächst dachte: Der Philosoph Losurdo (1941-2018) war von 1960 bis zu seinem Tod Mitglied der aufeinander folgenden italienischen kommunistischen Parteien, er war ein Freund von Manfred Buhr vom DDR-Philosophieinstitut (siehe Blogpost Nietzsche 4), er war Mitglied in der 1993 gegründeten Nachfolgegesellschaft der DDR-Akademie der Wissenschaften. Er gilt als Apologet des Stalinismus. Ich weiß nicht, ob die Geschichte der intensiven Kontakte zwischen deutschen und italienischen Kommunisten in den interessanten Jahrzehnten zwischen 1950 und 2000 schon erforscht worden ist; das wäre jedenfalls ein schönes Promotions-Projekt.

 


Beispiel einer Pop-Karikatur, in der der Mensch Nietzsche verzerrt dargestellt wird

Das monumentale zweibändige Nietzsche-Buch (1061 Seiten) ist im Berliner Argument-Verlag (in Zusammenarbeit mit dem Institut für kritische Theorie) veröffentlicht worden. Die Zeitschrift Argument hatte in den 60/70 Jahren personelle Überschneidungen mit der SEW, der Westberliner Abteilung der DDR-Staatspartei. Dort tummeln sich noch heute die West- und Ostberliner Altlinken der sechziger Jahre. Der Berliner Altlinke Jens Rehmann schreibt die Einleitung zur deutschen Ausgabe von Losurdo, in der er so beflissen auf die Unterschiede zwischen Losurdo und Lukács hinweist, dass ich mich frage, ob die denn wirklich so groß sind. Und dann versucht er, mögliche kritische Fragen an das Buch vorwegzunehmen:

 

„Sicherlich wird es nicht an kritischen Stimmen fehlen, die Losurdos Untersuchung der ‚Einseitigkeit‘ bezichtigen. Läuft seine methodische Entscheidung, Nietzsche als ‚philosophicus totus politicus‘ zu analysieren, nicht auf eine Überpolitisierung hinaus, die die spezifisch philosophischen und psychologischen Determinanten unsichtbar werden lässt? Geraten ihm die jeweiligen Phasen der nietzscheschen Denkentwicklung nicht doch zu kohärent, als sei es dem Philosophen vornehmlich darum gegangen, die jeweils aktuelle politische Konstellation klarsichtig und auf der Höhe der Zeit zu analysieren?“ (S.16).

 

Ja, in der Tat: diese Fragen stellen sich mir, denn bei Losurdo begegnet mir ein völlig anderer Nietzsche als in den Biographien von Safranski und Sue Prideaux, nämlich eine Art reisender Politiker und in Sachen Sklaverei und Rassenzüchtung. Überall in der Literatur wurde betont, dass Nietzsche anti-antisemitisch war, jetzt wird er auf einmal als aktiver Antisemit dargestellt.

 

So richtig wahrgenommen wird das Buch offenbar nur in der linken Medienwelt (und nicht in der deutschen Nietzsche-Forschung). Die differenzierteste Rezension, die ich gefunden habe, stammt von Moshe Zuckermann, zwar auch in der Jungen Welt, dem Nachfolgeblatt der FDJ-Zeitung, aber sehr gut formuliert und argumentiert. Die wissenschaftliche Qualität Losurdos wird darin deutlich; ohne Zweifel ist hier sehr viel Neues und Wichtiges zu Nietzsche erforscht worden. Aber dann gibt Zuckermann einige Ambivalenzen zu bedenken:


„Wenn aber Nietzsches philosophische Ungeheuerlichkeiten nur Ausdruck einer über sein Denkuniversum hinausgehenden Struktur sind, dann gilt es nicht, die ungeheuren Auswüchse seiner Philosophie zu überwinden, sondern den Weltzustand, der sie hervorgebracht hat – welchen diese Philosophie freilich ihrerseits kritisch angeht. Denn trotz allem entlarvenden Rekonstruktionswerk Losurdos kann nicht in Abrede gestellt werden – dies sagt ja Losurdo selbst –, daß gerade Nietzsches Denken zugleich auch vieles zutage fördert, was in seiner bestechenden Tiefgründigkeit und der Stringenz des unbestechlichen Blicks unabweisbare Gültigkeit wahrt: seine rigorose Kritik der westlichen Kultur und der Moderne samt ihrer pseudoemanzipatorischen Vermassungsprozesse, Entfremdungsstrukturen und Verdinglichungsmechanismen sowie ihrer ideologischen Apparaturen, die Individualität postulieren bei objektiver Entindividualisierung des Individuums; die Entlarvung der fundamentalen Verlogenheit des Politischen, das sich letztlich machtbezogenen egoistischen Antriebskräften verdankt, dies aber nach außen stets schönrednerisch kaschiert; der Nachweis des schlüpfrigen Grunds, auf dem die Annahmen des zur Hegemonie gelangten wissenschaftlichen Positivismus basieren – all dies und noch vieles mehr reiht Nietzsche zweifellos in die hehre kritische Tradition der erlauchtesten Geister der westlichen Neuzeit ein. 
Somit wären wir im hier erörterten Zusammenhang bei dem angelangt, was uns die Widersprüche und Aporien der Moderne von Anbeginn als oberstes dialektisches Gebot »gelehrt« haben: Man kommt nicht darum herum, die Ambivalenz aushalten zu müssen – die Ambivalenz gegenüber den strukturellen Ungereimtheiten des realen Lebens, aber eben auch denen seiner geistigen Durchdringung und kulturellen Reflexion.“


Das sind gute Ratschläge!

 

Mittwoch, 12. August 2020

Hier ist der Nietzsche-Artikel von Rudolf Augstein aus dem Spiegel 24/1981: 

https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-14338130.html

Nietzsche (4): Nietzsche und seine Feinde

Nietzsche hat sich mit seinen Werken sofort zwei machtvolle internationale Organisationen zum Feind gemacht: das Christentum und den Sozialismus. Diese Feindschaft besteht jetzt seit 150 Jahren und erreicht in jeder Generation nach Nietzsche neue Höhepunkte (in meinem vorigen Blogpost habe ich eine kleine Kostprobe gegeben). 

In meiner Studenten-Generation war das das dreiteilige Werk „Die Zerstörung der Vernunft“ (1952) des ungarischen Philosophen Georg Lukács (1885-1971), in dem der marxistische Autor in einem Rundumschlag fast die gesamte deutsche Geistesgeschichte seit der Romantik auf eine Einbahnstraße in Richtung Hitler schickt. Sein zentrales Schuldobjekt darin ist Nietzsche. 1966 lässt er einige Kapitel daraus unter dem Titel „Von Nietzsche zu Hitler“ als Fischer-Taschenbuch herausgeben. Diese Ausgabe wurde damals in der linken deutschen Studentenschaft sehr viel gelesen und hat unser Nietzsche-Bild stark geprägt (bis man ihn einfach mal selbst gelesen hat). 


Dort stehen dann Sätze wie dieser: „Ist es wirklich eine Verleumdung Nietzsches, wenn man sagt: 'Hitler und Himmler, Goebbels und Göring haben zu ihren Taten objektiv in Nietzsches ‚alles ist erlaubt‘ einen geistig-moralischen Verbündeten gefunden?'“ (S. 11). 

„Die Zerstörung der Vernunft“ wurde dann quasi die Bibel des 1960 von Manfred Buhr und anderen gegründeten Zentralinstituts für Philosophie in Ost-Berlin, DDR. Das Werk wird heute als Lukács‘ schlechtestes gesehen. Theodor Adorno war damals schon hellsichtig und spricht von der Zerstörung von Lukács‘ eigener Vernunft: „Nietzsche und Freud wurden ihm schlicht zu Faschisten, und er brachte es über sich, im herablassenden Ton eines wilhelminischen Provinzialschulrats von Nietzsches nicht alltäglicher Begabung zu reden“ (Noten zur Literatur II, Frankfurt 1961, S. 153). 

Die Gedanken des einsamen, kranken Mannes Nietzsche, der niemals eine Partei oder welche Bewegung auch immer gründen wollte: sie haben solch eine Kraft entwickelt? Warum?

Dienstag, 11. August 2020

Nietzsche (3): Satanische Philosophie?


Spiegel-Titelblatt 26/1981

Wer sich heute mit Nietzsche beschäftigt und sich in der gerade in den letzten Jahren wieder stark angewachsenen Sekundärliteratur zu orientieren versucht, begegnet merkwürdigen Extremen und deutlichen Fällen von Lagerbildung: So erhielt die umfangreiche Untersuchung der Kölner Philosophin Edith Düsing, “Nietzsches Denkweg: Theologie – Darwinismus – Nihilismus“, München 2006, hauptsächlich Rezensionen aus dem konservativ-katholischen Bereich. Der Brite John Laughland beendet seine auch sonst skurrile Besprechung dieses wissenschaftlich offenbar soliden Buches fast übergangslos mit folgenden Zeilen: 


“The fact is that the late Nietzsche wrote that the noble man (= Nietzsches ‘Übermensch’, P.G.), untrammelled by the slave morality of good and evil, would happily and gayly commit acts of mass killing, rape and torture, and return from these atrocities exhilarated like a student from the prank, the fact is too that Hitler said exactly the same thing. It is this veneration of evil which makes Nazism, like Nietzsches philosophy, truly Satanic.” (John Laughland, The Heythrop Journal 50 nr. 2 März 2009, S. 345-346)

 

„The Heythrop Journal“ ist eine wissenschaftliche Zeitschrift zu den Beziehungen von Philosophie und Theologie. Sie wird von den Jesuiten in Großbritannien finanziert. Auch Edith Düsing hält ihre Vorträge vorzugsweise vor religiösem Publikum.

 

Überraschend finde ich nicht den Hitler-Nietzsche-Vergleich an sich - der wird öfter gemacht -, sondern die emotionale Heftigkeit, mit der er vorgetragen wird und in der alle wissenschaftliche Sorgfalt auf einmal wegbricht. Ja, Nietzsche wirkt auf einmal fast schlimmer als Hitler!

 

Satan Nietzsche? - - - Nun, ich würde sagen: Jesuitische Kriegsführung!


Der Hass muss Gründe haben. Wo liegen sie? Was hat unser Prinz Vogelfrei angestellt?

Montag, 10. August 2020

Nietzsche (2): Vier kurze Gedichte

Viel mehr als lange angenommen, sind die Gedichte ein programmatischer Teil der Philosophie Nietzsches. Und es gibt auch viel mehr davon als wir lange geahnt haben. Sie waren in den nachgelassenen Schriften verborgen. 

Das Neben- und Ineinander der Formen hatte es schon in der Frühromantik gegeben, aber noch nie so konsequent. So wie der von ihm zeitweise sehr bewunderte Richard Wagner völlig neue Gesamtkunstwerke in der Musik geschaffen hat, hat Nietzsche aus Dichtung, Literatur und Philosophie Gesamtkunstwerke geschaffen. Die wissenschaftliche Forschung hat sich lange auf nur die philosophischen Texte konzentriert.

 

Die Gedichte müssen grundsätzlich in Bezug auf Nietzsches Philosophie gesehen werden. Die poetischen Aussagen sind von gleicher Bedeutung wie die aphoristischen und philosophischen Texte, sie sind nur anders instrumentiert. Erst in den letzten Jahrzehnten gibt es dazu erhellende Untersuchungen.

 

Nietzsche hat seine poetologischen Prinzipien sogar humorvoll in Gedichtform formuliert:

 

Lieder und Sinnsprüche

 

Takt als Anfang, Reim als Endung

Und als Seele stets Musik:

Solch ein göttliches Gequiek

Nennt man Lied. Mit kürzrer Wendung,

Lied heißt: “Worte als Musik”.

 

Sinnspruch hat ein neu Gebiet:

Er kann spotten, schwärmen, springen,

niemals kann der Sinnspruch singen;

Sinnspruch heißt: „Sinn ohne Lied”. –

 

Darf ich euch von Beidem bringen?

 

Aus: Friedrich Nietzsche, Idyllen aus Messina (1882)

 

Heute vier kurze Beispiele für Gedichte zum Eingewöhnen in den Nietzsche-Sound:

 

Der Einsame

 

Verhasst ist mir das Folgen und das Führen.

Gehorchen? Nein! Und aber nein - Regieren!

Wer sich nicht schrecklich ist, macht niemand Schrecken:

Und nur wer Schrecken macht, kann andre führen.

Verhasst ist mirs schon, selber mich zu führen!

Ich liebe es, gleich Wald- und Meerestieren,

mich für ein gutes Weilchen zu verlieren,

in holder Irrnis grüblerisch zu hocken,

von ferne her mich endlich heimzulocken,

mich selber zu mir selber - zu verführen.

 


Ecce homo

Ja! Ich weiß, woher ich stamme!
Ungesättigt gleich der Flamme
Glühe und verzehr’ ich mich.
Licht wird alles, was ich fasse,
Kohle alles, was ich lasse:

Flamme bin ich sicherlich.

 


Pinie und Blitz

 

Hoch wuchs ich über Mensch und Tier;

Und sprech ich - niemand spricht mit mir.

 

Zu einsam wuchs ich und zu hoch -

Ich warte: worauf wart′ ich doch?

 

Zu nah ist mir der Wolken Sitz, -

Ich warte auf den ersten Blitz.

 

 

Prinz Vogelfrei

 

So häng ich denn auf krummem Aste
Hoch über Meer und Hügelchen:
Ein Vogel lud mich her zu Gaste
Ich flog ihm nach und rast' und raste
Und schlage mit den Flügelchen.

Das weiße Meer ist eingeschlafen,
Es schläft mir jedes Weh und Ach.
Vergessen hab' ich Ziel und Hafen,
Vergessen Furcht und Lob und Strafen:
Jetzt flieg ich jedem Vogel nach.

Nur Schritt für Schritt - das ist kein Leben!
Stets Bein vor Bein macht müd und schwer!
Ich lass mich von den Winden heben,
Ich liebe es, mit Flügeln schweben
Und hinter jedem Vogel her.

Vernunft? - das ist ein bös Geschäfte:
Vernunft und Zunge stolpern viel!
Das Fliegen gab mir neue Kräfte
Und lehrt' mich schönere Geschäfte,
Gesang und Scherz und Liederspiel.

Einsam zu denken - das ist weise.
Einsam zu singen - das ist dumm!
So horcht mir denn auf meine Weise
Und setzt euch still um mich im Kreise,
Ihr schönen Vögelchen, herum!

Nietzsche (1): Ard Posthumas Übersetzung der Gedichte Nietzsches



Am 4. September 2020 soll Ard Posthumas Übersetzung der Gedichte Friedrich Nietzsches erscheinen (Historische Uitgeverij Groningen), ein gewaltiges Projekt, scheint mir. Viele kennen Nietzsche nur als den Philosophen mit den berühmt-berüchtigten Formeln vom „Willen zur Macht“, "Gott ist tot" und dem „Übermensch“. Dass er qualitativ und quantitativ auch ein großer Dichter war, ist weniger bekannt. In den Anthologien steht immer dasselbe halbe Dutzend. Das gilt auch für Deutschland: Die erste Gesamtausgabe von Nietzsches Gedichten ist erst 2019 erschienen (527 Seiten!).


Ich weiß nicht, wie viele Gedichte Ard Posthuma für sein Projekt ausgesucht hat, aber ein schmales Bändchen wird es nicht sein (es kostet auch stattliche 35 €). Normalerweise würden wir im September mit der Groninger Buchhandlung Godert Walther einen gemeinsamen Abend mit dem Übersetzer veranstalten. Ob das möglich sein wird, ist wegen Corona noch ungewiss.


Da wir mit einigen Alt-Kollegen zur Zeit auf Abstand eine Art Nietzsche-Disput abhalten, der zu interessanten Uneinigkeiten geführt hat, nutze ich die Gelegenheit, mein Blog wiederzubeleben: mit einer Nietzsche-Reihe; nicht linear und wissenschaftlich, sondern kreuz und quer und unterhaltsam. Serendipity!

 

Zum Abschluss für heute eine Übersetzungskostprobe von Ard Posthuma, der bereits vor zwei Jahren die Gedichte aus Nietzsches „Die fröhliche Wissenschaft“ veröffentlicht hat (bei Vantilt, Nijmegen):

 

Vademecum – Vadetecum

 

Es lockt dich meine Art und Sprach,

Du folgest mir, du gehst mir nach?

Geh nur dir selber treulich nach: -

So folgst du mir – gemach! gemach!


        Mijn taal, mijn wezen vind je goed?

        Volg je me daarom op de voet?

        Blijf liever in je eigen baan –

        Dan volg je mij – en doe kalm aan!