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Freitag, 12. Februar 2021

Nietzsche (19): Ernst Jünger und Nietzsche

Nietzsche hat für das Frühwerk Ernst Jüngers eine große Rolle gespielt. Mit 88 Jahren hat Jünger (1895-1998) Nietzsche noch einmal neu gelesen. In seinem zehn Jahre später erschienenen Tagebuch „Siebzig verweht III“ (1993) finden sich einige markante Sätze zu seiner Lektüre:

 

Der alte Ernst Jünger
(mit einem ziemlich großen Käfer auf der Hand)

“Ich erhole mich bei Nietzsche, dessen fünfzehnbändige Ausgabe (Colli und Montinari) ich von hinten, mit den ‚Nachgelassenen Fragmenten‘ anfange“ (4. Januar 1983, 220f.).

 

„Wie würden sich Marx und Nietzsche wohl in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts zurechtfinden? Wahrscheinlich hätte Marx im Hinblick auf Lenin die besseren Nerven gezeigt als Nietzsche sie Hitler gegenüber gehabt haben würde – ein Blick auf die Vorbilder genügt“ (243).

 

„Von Hölderlin wird die Heraufkunft der Titanen als ‚der Eisernen‘ vorausgesehen und befürchtet, Schopenhauer erkennt sie in ihrer blinden Gewalt. Nietzsche hat ihnen Augen eingesetzt. Er fühlte sich, wie er sagte, im 21. Jahrhundert zu Haus“ (245).

 

„Die Gestalt des Dionysos ist vieldeutig. Wenn wir beiseite lassen, ob sich ein Gott oder ein Titan hinter ihr verbirgt, kann sie beiderweis begriffen und verehrt werden. Nietzsche als Kirchenvater des kommenden Jahrhunderts hat das Titanische an ihr erkannt und begrüßt“ (259).

 

„Nietzsche hat ein apokalyptisches Ereignis vorausgesehen, oder besser vorausgeschaut, wenn auch nicht dessen technische Umstände. (…) Kurz vor seiner Umnachtung entschließt er sich, sein Werk ‘auf die Katastrophe hin zu bauen‘. Er fordert einen Typus, der ihr gewachsen ist“ (282).

 

„Als eine der Unsitten der heutigen Geschichtsbetrachtung ist zu rügen, dass vergangene Epochen mit den Ansichten oder auch Vorurteilen der Gegenwart kritisiert werden – dass man also auch dort mit ‚der Herren eigenem Geist‘ konfrontiert wird, den man schon bis zum Überdruss aus den Zeitungen kennt. (…) Diese Unsitte überträgt sich auch auf die Lektüre und beeinträchtigt sie durch eine moralische Vorzensur“ (359f.).

 

„Nietzsches Ansicht, dass es keine Individualität gebe, sondern eine Mischung wie die einer Reihe von Spielkarten, ist oft von Dichtern und Denkern vorweggenommen worden – vor allem von Dramatikern. ‚Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust‘ – auch mehrere“ (429).

 

Zwischen Nietzsche und Jünger gibt es interessante Parallelen. Dazu mehr im nächsten Beitrag.

Dienstag, 9. Februar 2021

Jenseits von Lethen (3): Helmut Lethen, Ernst Jünger und ich

Irgendwann zwischen 1976 und Anfang 1979 habe ich Helmut Lethen einmal persönlich getroffen. Ich hatte 1975 an der Freien Universität mein erstes Promotionsprojekt unter dem Titel „Ernst Jüngers Modernität“ angemeldet. Das war für jene Berliner Jahre ein ziemlich provokativer Titel. Ich hatte auch meine Examensarbeit über Jünger geschrieben („Heliopolis“) und war es gewöhnt, dass Leute aus meiner Umgebung mit Bemerkungen reagierten wie „Wie kannst du nur?“ und „Du spinnst ja!“.


Lethen dagegen zeigte ernsthaftes Interesse und lud mich zu einem Gruppengespräch ein. Das war vielleicht in der Zeit als Karl Heinz Bohrers monumentales Jüngerbuch „Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk“ (1978) schon erschienen war und die Redaktion der „Berliner Hefte“ ihre Themanummer „Lust am Untergang“ (Mai 1979) vorbereitete. Dort erschien dann jedenfalls ein langer Artikel von Heinz-Dieter Kittsteiner und Helmut Lethen: „Jetzt zieht Leutnant Jünger seinen Mantel aus. Überlegungen zur Ästhetik des Schreckens“.




Ob ich für Lethen etwas Sinnvolles beitragen konnte, weiß ich nicht. Bohrers Buch war für mich in all seiner intellektuellen und wissenschaftlichen Kraft ein ziemlicher Schock gewesen und hat letztlich dazu geführt, dass ich mein Projekt aufgegeben habe (das hätte ich natürlich nicht tun sollen).


Lethen dagegen behielt nicht nur wie ich die Faszination an Jüngers Werk, insbesondere an den Kriegsschriften, sondern schrieb mehr als zehn Jahre später seine Quintessenz dazu auch tatsächlich auf: „Verhaltenslehren der Kälte“ (1994). Das ist eine eindrucksvolle Studie zur psychosozialen Lage der deutschen Generationen der Zwischenkriegszeit mit ihrer extremen gesellschaftlichen Desintegration. Sie kommt zu dem Schluss, dass es sich unabhängig von politischen oder ideologischen Standpunkten um eine Generation zwischenmenschlicher und innergemeinschaftlicher „Kälte“ handelte.

Allerdings beschäftigt sich Lethen in diesem übrigens auch international sehr erfolgreichen Werk vornehmlich mit den Erscheinungsformen kalten Verhaltens, unter anderem eben bei Ernst Jünger, aber auch z.B. bei Bertolt Brecht. Was aber sind die Ursachen dafür?

 

Man muss sich Lethens Buch zwar als sehr interessant und perspektivenreich vorstellen, aber nicht als besonders zugänglich, auch nicht für leiderprobte Germanisten. Wenn man eine Vorstellung von der Wahrnehmung und dem Verhalten einer „kalten Person“ bekommen möchte, sollte man die Kriegsschriften Jüngers lesen. Am berüchtigsten ist „In Stahlgewittern“ (1920), kurz und schmerzvoll die Novelle „Sturm“ (1923). Ich habe auf Fragen nach meinem Interesse für Jünger immer geantwortet, dass man bei ihm die literarisch dichteste Annäherung an das bekommt, was der Große Krieg für die Soldaten auf den Schlachtfeldern bedeutet hat.

 

In seiner Autobiografie von 2020 weist Lethen darauf hin, dass die erst vor zehn Jahren veröffentlichten ursprünglichen Kriegstagebücher Jüngers ihn auf eine neue Perspektive zu den Ursachen der „Kälte“ gebracht haben:

 

„Bisher hatte ich Jüngers These aus dem ‚Abenteuerlichen Herzen‘ für richtig gehalten, das 19. Jahrhundert sei im Weltkrieg an der Flamme des 20. Jahrhunderts verbrannt. Die Tagebücher widerlegen sie. Die ‚Kälte‘ von Jüngers Beschreibungen stammt aus dem Archiv der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert. Man erlebt den Apothekerssohn als einen Abenteurer mit extrem hoher motorischer Intelligenz. Die Denkweise der harten Disziplinen des vergangenen Jahrhunderts, die (…) die ‚Wirklichkeit erfanden‘ um die Metaphysik abzuschaffen, regiert seinen Stil“ (Lethen 2020, 67). 

 

Allerdings hatte Lethen auch schon seinem Kälte-Buch von 1994 ein Zitat von Ossip Mandelstam von 1930 vorangestellt, das in die gleiche Richtung weist: „Die Kältetendenz rührt vom Eindringen der Physik in die moralische Idee“.

 

Für mich wird es dadurch so richtig interessant, denn zum einen führt der Hinweis auf die naturwissenschaftliche Kälte des 19. Jahrhunderts nicht nur zu einem grundsätzlichen Phänomen des 19. Jahrhunderts, sondern auch zu Nietzsche, der die entsprechende Kälte in seiner Philosophie anwenden wollte. Zum anderen muss ich konstatieren, dass wie immer auch die rationale methodisch-experimentelle Kälte des 19. Jahrhunderts ausgesehen hat, im 20. Jahrhundert die Rede von einer ungleich stärkeren kälteerzeugenden Kraft sein muss, und dabei handelt es sich um die ungeheuerliche traumatisierende Wirkung der Kriegsgewalt auf Millionen und Abermillionen männliche Körper und Psychen vor allem im europäischen Raum. Übrigens mit Ausnahme der Niederlande! Und das hat zweifellos etwas damit zu tun, dass Jünger in den Niederlanden mehr oder minder persona non grata ist (und in Frankreich nicht).


Wir haben es also mit zwei Kräften zu tun: der schwachen und der starken Wechselwirkung der Kälte. Wir sollten beide berücksichtigen, wann immer wir uns mit Nietzsche und Jünger beschäftigen.