Worum geht’s?
Hillenbrand hat dem Roman zwei Zitate als Motto vorangestellt:
Hillenbrand hat dem Roman zwei Zitate als Motto vorangestellt:
Motto 1:
Gern träume ich
Von einer kybernetischen Lichtung
In der Säugetiere und Computer
Zusammenleben in einträchtig
Programmierter Harmonie
Richard Brautigan
„Behütet von Maschinen der liebevollen Gnade“
Motto 2:
Do you think we’re robot clean
Does this face look almost mean
Is it time to be an android, not a man?
The Misfits, „We are 138“
Der Zweck eines Mottos ist die Vorankündigung
der Thematik. Die fünf Zeilen aus Richard Brautigans Gedicht „Behütet von
Maschinen der liebevollen Gnade“ (der englische Originaltext des ganzen
Gedichts ist hier zu lesen) sind darin deutlich: Offenbar geht es um die Utopie
eines friedlichen Zusammenlebens von Mensch und Natur unter der Obhut einer
wohlmeinenden Künstlichen Intelligenz.
Ein hochaktuelles Thema also, das dieser Tage
vielfach diskutiert wird, zumeist allerdings unter dem Aspekt, dass eine Künstliche
Intelligenz (KI) sich den Teufel um die Menschen scheren und ganz eigene Zwecke
verfolgen könnte. Hochrangige Wissenschaftler warnen nachdrücklich davor! Der
Zeitpunkt, für den man in unserer realen Welt eine KI erwartet, wird um 2040/2050
angesetzt. Genauso ist es in Hillenbrands Roman, der im Jahre 2088 spielt,
vierzig Jahre nach der ersten verwirklichten KI. Und ja: da ist etwas
schiefgegangen, so scheint es! Die KI wird jedenfalls 2048 abgeschaltet. Was
war da los?
Warum benutzt Hillenbrand das Zitat des Hippie-Poeten
Richard Brautigan aus dem Jahr 1967? Die technikfreundliche Haltung darin
entsprach keineswegs der damaligen Hippiephilosophie, und in den meisten Utopien
der letzten 50 Jahre ging es - was ja auch spannender ist - um gefährliche,
durchdrehende und zerstörerische Computer und Robots („2001 - A Space Odyssey“
ist von 1968). Interpreten haben sich damit beholfen, Brautigan habe es
ironisch gemeint, aber das bleibt doch zweifelhaft.
Tom Hillenbrand liefert uns jedenfalls einen
sehr, sehr spannenden Roman dazu!
Das zweite Motto stammt aus dem Song „We are
138“ von den Misfits (der komplette englische Text ist hier zu lesen). Auch
dazu gibt’s im Internet einen - teilweise obskuren - Interpretationsstreit, was
wohl damit gemeint sein könnte. Die gängige Auffassung ist, dass „138“ dem
Titel von George Lucas’ erstem Science-Fiction-Film „THX 1138“ (1971) entlehnt
ist. Die dem Spielfilm vorausgehende Kurzfilmfassung stammt aus dem Hippie-Jahr
1967. Ein wichtiger SF-Film, der die damalige dystopische Stimmung über den Verlust
an Freiheit in der hochtechnisierten Welt wiedergibt.
Dieser Thematik des Menschen, der zum
Androiden wird und seine Freiheit verliert, müssten wir im Roman dann auch
begegnen. Und ja: Hillenbrand konfrontiert uns mit den in der zweiten Hälfte
des 21. Jahrhunderts wachsenden Möglichkeiten der Klontechnologie, das
menschliche Bewusstsein in andere Körper zu übertragen, und mit den
unabsehbaren Folgen davon. Er lässt seine Figuren auf hohem Niveau über das
sogenannte Descartes-Rätsel nachdenken und diskutieren:
„Descartes postulierte, dass Geist und Körper
voneinander getrennt sind. Er nannte sie res cogitans und res extensa, die
denkende Sache und die ausgedehnte Sache. Er glaubte, beide würden über einen
geheimen Ort und auf unbekannte Weise miteinander interagieren.
Neuroprogrammierer suchen nach diesem Ort. Wenn sie ihn finden, wäre es eine
große Sache. […] Dann könnte man ewig
leben, sich alle paar Jahrzehnte in ein frisch geklontes Gefäß uploaden lassen”
(Hologrammatica, 36).
Aber diese Möglichkeiten
bergen neben existentiellen Risiken auch neue Freiheiten und Erkenntnismöglichkeiten für die “denkende
Sache”, und darüber wird auf der Thriller-Ebene des Romans heftig und mit
dramatischen Effekten spekuliert.
Na ja, und dann gibt es
im neuen Roman technische Phänomene, die uns ähnlich schon aus “Drohnenland”
bekannt sind: das weltumspannende holographische Netz zum Beispiel, das jedem
Menschen die Möglichkeit gibt, sein persönliches Aussehen und seine Umgebung
camouflierend aufzuputzen. Weiterhin die Klimaveränderungen, die zu globalen
Wanderungsbewegungen geführt haben, die weit über das hinausgehen, was wir in
“Drohnenland” erlebt haben.
Die Hauptfigur ist
Galahad Singh, ein Privatdetektiv nach dem Muster der großen amerikanischen Krimis. Er trinkt zuviel, liebt
Bourbon-Whisky – “Old Fashioned” ist sein Lieblingscocktail (wirklich herrlich,
ich muss so etwas immer sofort probieren!), “Eagle Rare” seine Lieblingsmarke (im
Moment € 42,71 bei Gall & Gall, noch nicht von mir getestet). Galahad ist schwul
(mal was Neues für einen Dedektiv), auch daraus ergeben sich im Reigen der Klone ungeahnte Transgender-Möglichkeiten.
Eines Tages kommt eine
Auftraggeberin mit scheinbar unbegrenzten finanziellen Mitteln in Galahads
Büro: er soll eine verschwundene Softwarespezialistin aufspüren…
Jetzt geht’s los! Aber: Lest
das Buch.
Und? Keine Kritik? Ja,
doch so dies und das:
“Drohnenland” wurde auch
gerne von Leuten gelesen, die sonst kaum Science-Fiction-Romane angerührt
haben. Woran liegt das? Die beschriebene Utopie liegt näher in der Zukunft, nur
eine Generation von uns entfernt. Anders als in der Presse immer behauptet
wird, ist nicht Robert Menasses Roman “Die Hauptstadt” der erste EU-Roman,
nein, es war Tom Hillenbrands “Drohnenland”: Hier werden die zukünftige Form und Geschichte der EU und die bald anstehenden Klimaveränderungen extrapoliert: sie
sind erkennbar und ein spannender und sehr konkreter Hintergrund vor den
prognostizierten technischen Zuständen.
In “Hologrammatica”
befinden wir uns noch ein paar Jahrzehnte weiter in der Zukunft. Der
Erzählrahmen ist globaler, abstrakter, die Regionen und zukunftshistorischen
Entwicklungen weniger deutlich und erklärlich, die technologischen Dinge mit
ihren ethisch-philosophischen Konnotationen komplexer und verwirrender. Das ist
mehr etwas für Hard-Core-SF-Leser. Aber Tom Hillenbrand hat sich damit als
deutscher Top-Autor für Science Fiction etabliert.
Damit endet meine kleine
Einführung in “Hologrammatica”. Speziell hierfür habe ich mein Profilbild auf
Facebook verändert. Auf dem mit FaceApp veränderten Porträt sehe ich fast so
gut aus wie Tom Hillenbrand! Mein schöner Klon! Wie soll ich sonst neben Tom bestehen? Herzlichen
Glückwunsch zum neuen Roman!
Und noch eine Kleinigkeit: Galahad ist von London nach Nadschaf im Irak unterwegs: “Ich kann fühlen wie [das Flugzeug] sich nach rechts neigt, als der Pilot auf Südostkurs geht” (Hologrammatica, 185). Müsste es sich nicht nach links neigen?
Tom Hillenbrand, Hologrammatica, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018, 559 Seiten, € 12,00