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Montag, 11. Januar 2021

Jenseits von Lethen (2): Die Möglichkeitsformen des Kaffees

Nachdem er wegen seiner Mitgliedschaft in der KPD/AO (Kommunistische Partei Deutschlands/ Aufbauorganisation) in der Bundesrepublik ein sogenanntes und in seinem Fall auch faktisches Berufsverbot erhalten hatte, bewarb Helmuth Lethen sich erfolgreich auf eine Professur an der Universität Utrecht, die er 1977 antreten konnte. Die Niederlande boten in den siebziger Jahren vielen in Deutschland Erfolglosen oder Verbotenen eine Art Exilexistenz an. (Das trifft übrigens nicht auf mich zu: Ich kam 1980 ganz freiwillig als Batavophiler nach Groningen.)

 

Lethen lebte von 1977-1996 in den Niederlanden, fast 20 Jahre. In seinem Buch gibt es dazu vier Kapitel (von insgesamt 35): „Er is koffie na de dood“, „Zwölf Formen des deutschen Konjunktivs“, „Le Corbusier stürzt in die Trabantenstadt“ und „Der Jesuit am Küchentisch“. Alle vier zeichnen sich durch eine gewisse Negativität und Kälte gegenüber seinem Gastland aus. Jedenfalls hat er sich nicht wirklich aufgenommen gefühlt, das könnte zum Teil auch an ihm selbst gelegen haben:

 

“Das Institut an der Biltstraat, das mich aufgenommen hatte, duftete, um das Wichtigste zu sagen, nach Kaffee. (…) Der konservative Peter Delveaux quälte die Studenten mit zwölf Formen des deutschen Konjunktivs, die nur ihm geläufig waren. Ansonsten widmete er sich der Atriden-Tetralogie von Gerhart Hauptmann. Der Ordinarius Peter Küpper war ein Gelehrter alten Schlages, der es aufgegeben hatte, mit den neuen Tendenzen des Fachs Schritt zu halten (…). Aufsehenerregend war seine Theorie der Einheit: Ausnahmslos jedes literarische Werk habe drei Teile, Anfang, Mitte und Schluss – das gelte besonders für Fragmente. Die Adalbert-Stifter-Expertin Jattie Enklaar hielt zu ihm. Später kam Gerda Meijerink hinzu, die den Elan des Feminismus ins Institut trug. (…) Ein Outlaw in mancher Hinsicht war der Kollege und Dichter Gregor Laschen. (…) Mit seiner Lyrikbegeisterung steckte er eine ganze Generation von Studenten an; seine Schüler Ton Naaijkens, Gerrit-Jan Berendse, Ewout van der Knaap und Jan Gielkens traten eine akademische Laufbahn in den Niederlanden an“ (Lethen, S. 230).

 

                                Bijlmermeer


Und seine eigenen Schüler? Ich weiß es nicht. Sein Herz lag wohl in all den Jahren bei den Kontakten, die er in Berlin zurücklassen musste. Nach der Trennung von seiner niederländischen Frau lebte er eine Weile im Bijlmer (bis kurz vor der Katastrophe), dem er ein ganzes sozialkritisches Kapitel widmet. Danach wieder in Utrecht, wo er sein international erfolgreichstes Buch schrieb: „Verhaltenslehren der Kälte“ (1994). Und all die Jahre Kaffee. Der war jedenfalls heiß.

Dienstag, 5. Januar 2021

Jenseits von Lethen (1): Auf der Suche nach dem Dinghaften der Person

Helmut Lethen hat schon 2012 mit „Suche nach dem Handorakel“ ein autobiografisches Buch herausgegeben. Sein ältester Sohn, ein Niederländer (Lethen ist in erster Ehe mit einer Niederländerin verheiratet gewesen) hatte ihn gefragt, „wieso man in den 70er Jahren auf die Idee habe kommen können, Mitglied einer maoistischen Partei zu werden“ (Suche, S. 11). Zur Beantwortung dieser Frage hatte sich Lethen mit 30 Büchern zwei Wochen auf Usedom zurückgezogen und einen kurzen kopflastigen Bericht (128 Seiten) über die sechziger und siebziger Jahre in Berlin geschrieben. Die Liste der mitgenommenen Bücher, die er als „ausgelagertes Gedächtnis“ bezeichnet, ist gleich zu Anfang des Buches abgedruckt.

 

Zwei Drittel davon habe ich übrigens auch gelesen. Keines hat mit Maoismus zu tun. Auch die Klassiker des Marxismus sind nicht vertreten. Am Ende zitiert er aus dem „Handorakel“ des Jesuiten Baltasar Graciàn, einer Verhaltenslehre aus dem Jahr 1647, drei von dreihundert Regeln:

 

„Sich zu entziehen wissen“, „Nie sich beklagen“, „Nichts setzt den Menschen mehr herab, als wenn er sehn lässt, dass er ein Mensch sei…“ (Suche, S. 114f.).

 

Mir wurde nicht deutlich, ob das nun sein Programm war oder eine Problematisierung. Ob sein Sohn mit dem Büchlein zufrieden war, ist mir nicht bekannt.




Nun hat Lethen 2020 eine umfangreichere Autobiografie (382 Seiten) geschrieben, die er seinen insgesamt fünf Söhnen widmet. Sie trägt den Titel „Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug“. Teile seiner Suche von 2012 sind darin verarbeitet. Auch in diesem Buch hangelt er sich an vielen Büchern entlang, die in seiner intellektuellen Karriere eine Rolle gespielt haben. Eine Liste davon ist weder am Anfang noch am Ende aufgenommen. Aber es gibt als Motto ein Zitat aus Theodor W. Adorno, „Negative Dialektik“:

 

„Was irgend das Ich introspektiv als Ich zu erfahren vermag, ist auch Nichtich… Eingeholt wäre das Grauen von Depersonalisierung erst von der Einsicht ins Dinghafte der Person selbst.“

 

Ich habe mich in letzter Zeit für verschiedene Formen autobiografischen Schreibens interessiert und werde nach der Beschäftigung mit Lethen weitere Beispiele besprechen. Ich bin jetzt zunächst auf der Suche nach Antworten, ob Helmut Lethen sich in seiner Autobiografie entzogen hat oder nicht, ob er sich beklagt oder nicht, ob er sehen lässt, dass er ein Mensch ist oder nicht und ob er Einsicht ins Dinghafte der Person hat oder nicht.

 

Das finde ich für ein autobiografisches Projekt eine gute Fragestellung.

 

Dazu stellt sich mir die Frage: Wenn ein Vater seine Autobiografie seinen Söhnen widmet, was kann das für Form und Inhalt des Buches bedeuten? 

Montag, 4. Januar 2021

Westberlin 1970: Radikalisierungen


In derselben Zeit und Umgebung unseres zahmen Lebensexperiments „Kommune“ 1969/70 (siehe Beitrag vom 1. Januar) kamen in Westberlin die K-Gruppen auf, eine Reihe radikalkommunistischer Organisationen, die konspirativ arbeiteten und von Anfang an vom Verfassungsschutz observiert wurden.


Foto: Jens B. Brüning


Im Sommer 1970 sitzen Jochen Schimmang, Jens B. Brüning und ich noch einmal idyllisch im Dahlemer Thielpark: Ich führte Arno Schmidts Kolossalbuch „Zettels Traum“ spazieren, das ich gerade für 295 DM erstanden hatte (mehr als mein Monatsstipendium) und das sonst feierlich aufgeschlagen auf einem Stehpult in meinem Zimmer lag. Und Jochen, das muss gesagt werden, liest hier ein Heftchen von Stalin: er war Mitglied einer „Organisation“ geworden, die uns auf Jahre voneinander entfremden sollte (er berichtet darüber in „Der schöne Vogel Phönix“, 1979, 134-141).

 

Zum selben Jahreswechsel 69/70 entstand auch die KPD/AO (=Aufbauorganisation), zu der unter anderen der junge Literaturwissenschaftler Helmut Lethen gehörte. Lethen berichtet darüber in seiner 2020 erschienenen Autobiografie "Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug" (S. 170):


„Eine ihrer ersten Zusammenkünfte sollte auf der Plattform der Siegessäule stattfinden, was manche nicht verrückt, sondern gefährlich fanden, sodass wir in die Evangelische Studentengemeinde Gelfertstraße, oft Treffpunkt des SDS, zogen – ein Ort, der für feindliche Beobachter an Transparenz nichts zu wünschen übrig ließ.“


So lagen in der ESG allerlei Schnittpunkte, und rückblickend habe ich den Eindruck, dass auch unsere liebenswerte Kommune vom Verfassungsschutz beobachtet wurde.

 

Immerhin hatte ich in jenem Sommer mein SPD-Parteibuch zurückgegeben, aus Protest gegen die Bewaffnung der Berliner Polizei mit kriegsähnlichen Waffen („Handgranatengesetz“). Das war für mich ein radikaler Akt. Übrigens war 1970 auch das Gründungsjahr der "Rote Armee Fraktion" (RAF).


Ich war als Sechzehnjähriger in die Leeraner SPD eingetreten, gegen den Willen meiner Mutter, die von Parteien die Nase voll hatte. 

 

Die Situationen bei den Demonstrationen auf Berliner Straßen konnten sehr hart sein, ein Wunder, dass es nicht mehr Tote gegeben hat. Wir haben viel gesehen, was unser Vertrauen in die Polizei, sofern es denn vorhanden war, nachhaltig zerstört hat. Unser Studentenpfarrer, Karl Bernd Hasselmann, ein großer kräftiger Mann, hat einmal bei einer Kudammdemonstration einen durchdrehenden Knüppelpolizisten von hinten festgehalten. Das hat mir schmalem langen Würstchen enorm imponiert.

 

Jochen und Helmut kamen auf die schwarzen Listen, was ihren Berufsweg behindert und beeinflusst hat („Berufsverbot“). Helmut Lethen war Anfang der siebziger Jahre Wissenschaftlicher Assistent bei den Germanisten, danach ging er nach Utrecht. Ich war in keiner seiner Lehrveranstaltungen, aber zu Anfang meiner eigenen Assistentenzeit an der FU suchte er einmal Kontakt zu mir.

 

Dazu schreibe ich mehr in einer kleinen Serie über Lethens 2020 erschienene Autobiografie „Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug“. Ab morgen in diesem Theater.

Freitag, 1. Januar 2021

Ernsthaftigkeit: Die Dahlemer ESG-Kommune

Jens B. Brüning und ich waren ein unernstes Sängerpaar im Klassik-Chor der Studentengemeinde. Wir standen im Bass nebeneinander, bei den Proben und bei den Auftritten: im Sommer 1969 bei 21 Konzerten auf einer herrlichen Reise durch die USA. Wir hatten immer viel Spaß.

 

Jens B. Brüning, 1970


Im April 1969 waren wir beide in die „Kommune“ eingezogen, einem Projekt der Evangelischen Studentengemeinde Berlin. In der ESG waren 1967/68 auch die Kreise um Rudi Dutschke zu Gast. Rudi hat während eines „Hungerstreiks“ gern mal ein Bockwürstchen im Büro gegessen. Auch bei ihm gab es Grenzen der Ernsthaftigkeit.

 

Im Wintersemester 1968/69 hatten wir einen Arbeitskreis zu „Sexualität und Herrschaft“, einem der Hauptthemen der 68er Bewegung. Daraus gingen ernsthafte Bemühungen hervor, zu neuen Formen des Zusammenlebens zu kommen. Der damalige Studentenpfarrer Karl Bernd Hasselmann unterstützte die Initiative und sorgte dafür, dass wir – 10 Studenten und 6 Studentinnen - in das Studentenheim im Burckhardthaus in Dahlem einziehen konnten.

 

Das Burckhardthaus im Rudeloffweg


Theoriepapiere dazu habe ich keine mehr gefunden, aber es ging um eine evangelisch-progressive Wohngemeinschaft, tägliche Diskussionen und Aktionen zu Theorie und Praxis inbegriffen: mehr als die damals üblichen WGs, jedoch weniger radikal als die berüchtigte Kommune 1. In diesen Dingen herrschte in der damaligen Studentengeneration Ernsthaftigkeit, und die betraf alle Lebensbereiche: Politik, Kirche, Religion, Alltagsleben, politisch-religiöse Kontakte nach außen, gemeinsame Reisen nach Israel, London und westdeutschen Tagungsorten. Das Wort „Kommune“ gebrauchten wir nur in Anführungszeichen. Jens und ich schrieben zum Ausgleich absurde „Kommune-Lyrik“; der „Zwergenzyklus“ war ein Teil davon (siehe meinen Beitrag "Unernsthaftigkeit" vom 31.12.2020).

 

Die Tage um Silvester 1969/70 verbrachte die Gruppe in Dagebüll/Schleswig-Holstein. Wir wollten uns mit A.S. Neills Buch „Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung“ auseinandersetzen. Das ging ziemlich schief. Ich schrieb später an einen Freund: „Einige waren und sind furchtbar sauer, weil sich wieder erwiesen hat, dass die Kommune nicht zusammen an einem Thema arbeiten kann. So ist der Zustand der sechzehn Leute aus dem dritten Stock im Rudeloffweg vom Anfang einer gruppenauflösenden Krise gekennzeichnet.“ Sechzehn ziemlich diverse Leute sind eben doch etwas viel für solch ein Projekt. Es hatten sich auch schon vier, fünf Pärchen gebildet, die zum Teil eigene Wege gingen.

 

Nachdem eine gemeinsame Wohnungssuche mit Jens nichts gebracht hatte, zog ich im September 1970 zu meinem italienischen Freund Franco G. in eine Drei-Zimmer-Kellerwohnung am Leuschnerdamm in Kreuzberg, drei Meter von der Berliner Mauer entfernt, kein Bad, Außenklo, 68 DM Monatsmiete. Jens kam ab und zu zu Besuch. Franco bemalte das Stück Mauer gegenüber den Kellerfenstern mit bunten Blumen. Die Wohnzimmerdecke hatte er mit Alufolie ausgelegt, um etwas Licht in die Bude zu bringen.

 

Danach habe ich Jens seltener gesehen. Er ist Journalist geworden, hat die Bücher von Gabriele Tergit für Deutschland wiederentdeckt und veröffentlicht und Reportagen über sie gemacht. Hier ist er im Gespräch mit ihr zu hören. Jens ist 2011 an einer Lungenentzündung gestorben.