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Mittwoch, 9. Oktober 2013

„Erfinde einen Deutschen“ revisited – Ein Beitrag zur Fremdsprachendidaktik


Vor 25 Jahren habe ich das Unterrichtskonzept „Erfinde einen Deutschen“ entwickelt. Vor 17 Jahren habe ich es in einer um die Möglichkeiten der Computerdidaktik erweiterten Form für meine Dissertation „Land in Sicht“ (aufgeschrieben. Ich halte es immer noch für ein modernes und nützliches Instrument der Fremdsprachendidaktik, insbesondere, was die damals noch teilweise utopischen Elemente der Computerdidaktik betrifft.
Hier ist das entsprechende Kapitel aus „Land in Sicht“ (Groningen 1997) ohne den computerdidaktischen Teil. Den bringe ich noch gesondert. Das Ganze sprengt sowieso die Grenzen des Blogs, ist aber sicher für viele niederländische Deutschlehrer interessant.


7.3     Das Begegnungsspiel: "Erfinde eine(n) Deutsche(n)"[1]


                              "Jeder Mensch trägt eineinhalb Stunden Programm mit sich herum. Lernt man jemanden kennen, erfährt man zunächst vom Geburtsort und den Ge­burts­um­ständen des Unbekannten, bekommt einige El­tern- und Ge­schwister­details zu hören, wird ein wenig über Aus­bildungs- und Ver­mögensverhält­nisse des Betreffenden informiert, danach über die Ehe oder das Schei­tern der Ehe, oder das Aus-Gu­tem-Grund-Nie-Verheiratet-Ge­wesen-Sein, schließlich folgt noch ein ge­wisses Maß an Mit­teilung à propos der beruflichen Situation und neuester Akqui­sitionen sowie dem Sieg über eine schwere Krankheit. Im Ideal­fall wer­den auch noch Fein­schmec­ker-, Film-, Theater-, Lite­ratur- und Musikvorlieben diskutiert. Nach neunzig Minuten ist die Dar­bietung, ton­bandkas­settenähnlich, ab­gelaufen. Alles Spätere wird Wiederholung oder Variation des bereits Erzähl­ten sein."

                              (Peter Stephan Jungk, Die Unruhe der Stella Federspiel, 1996)


    Bei der Vorstellung des folgenden Unterrichtsmodells geht es uns um die Darstellung einiger Prinzipien, die die Praxismöglichkeiten eines begegnungs­orientierten, dialogi­schen und partizipatori­schen Landes­kundeunterrichts illustrieren und den in Ab­schnitt 2.8.1 zusam­menge­faßten Anforderungen auf der Unterrichtsebene entsprechen. Themati­siert werden die Teile des Konzepts, die in besonderem Maße alltags­ästhetische Schemata und Deutungsmuster und ihre sprachli­che Re­präsentation betreffen. Es handelt sich also nicht um einen zeitlich und inhaltlich sequenzierten Unter­richts­entwurf. Zugrunde liegt eine Un­terrichts­reihe, die ich mit Studen­ten im ersten Semester in der Leh­rer­ausbildung einer niederländi­schen Hochschule durch­geführt habe. Das Modell ist sehr flexibel und kann leicht auf verschiedene Niveaus und Zeitrahmen zuge­schnit­ten werden.


7.3.1   Das Simulationsmodell

    Ausgangspunkt bei der Entwicklung des hier vorgeschlagenen Ver­fahrens ist die Idealvorstellung, die Lernenden während des Kurses die Kommunikationsgemein­schaft der Zielkultur simulieren zu lassen. Simulation ist Reduktion: In diesem Sinne möchten wir auch das ein­leitende Zitat von Peter Stephan Jungk verstanden wissen, dessen inhärenten Zynismus wir nicht unbedingt mit in die Didaktik trans­por­tieren wollen. Ein Simulationsspiel reduziert die chaotische Vielfalt der Realität auf ein überschaubares Maß, in dessen Rahmen­ordnung freies Spielhandeln möglich wird.

    Jeder Lerner also erfindet eine Figur, die einen Bürger der Bundes­repu­blik Deuts­chland (bzw. des jeweiligen Ziellandes) repräsentie­ren soll. Die fiktive Biographie dieser Figur wird von Unter­richtsstunde zu Unterrichts­stunde erweitert und ergänzt. Bereits in der ersten Unter­richts­stunde werden einige Grundmerk­male festgelegt und vorgestellt: Vor- und Nachname, dadurch auch das Geschlecht, Alter, Geburt­sort, Wohnort und Beruf. Bis auf eine einschränkende Regel - die Figur sollte nicht jünger als 18 Jahre alt sein; das ist das Minde­stal­ter der Gruppen­teilnehmer - sind die Kursteilnehmer dabei in ihren Entschei­dungen frei. Damit verfügt die Gruppe über eine nach relativem Zu­fallsprin­zip gestreute Minipopulation der Bundesrepu­blik Deutsch­land. Die Wohn- und Geburtsorte der Figuren werden von ihren Erfin­dern auf der Landkarte gezeigt. Dabei werden auch die Bundesländer ermittelt, in denen die Orte liegen. Die Wohnorte aller Figuren werden von den Teilnehmern auf ein Arbeitsblatt mit den politischen Grenzen der Bundesrepublik Deutschland eingezeichnet.

    In der Anfangsphase äußern sich die jeweiligen Erfinder beschrei­bend über ihre Figuren, die allmählich von "flat characters" zu "round cha­racters" werden. Sie sollten auch ihr Äußeres und ihre Charakterei­genschaften beschreiben können. Langsam erhalten die Figuren ein rudimentäres Alltagswissen über ihren Wohnort und seine Umgebung, über ihre politische und/oder weltanschauliche Einstellung und einen Überblick über ihren bisherigen Lebenslauf. Für diese Erweiterun­gen sind oft Recherchen nötig, die im Rahmen der vorhandenen Möglich­kei­ten eingeplant werden sollten. Optimal ist es, wenn diese Recher­chen mit realen oder simulierten Sprach­handlun­gen verbunden wer­den können: z.B werden Informatio­nen zum Wohnort über einen Brief an das zuständige Fremdenver­kehrsamt eingeholt und ggf. durch die Benutzung von Reiseführern und Nachschla­gewerken ergänzt. Die Verarbeitung soll nicht Referatscharakter haben, sondern in der Ge­sprächsform erfolgen, die bei einem zufälligen Kontakt mit einem Stadtfremden realisiert wird.
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    Bei der Wahl einer eventuellen parteipolitischen Einstellung der Figur wird im Vergleich mit der Parteienlandschaft des eigenen Lan­des eine bundesrepublikani­sche Partei ermittelt. Auch hier schreiben die Kurs­teilnehmer einen Brief an den zuständigen Landes- oder Be­zirks­ver­band der Partei in dem Bundesland, in dem sie ihre Figur angesie­delt haben. Das daraufhin zugesandte Material ergänzt das Unter­richts­material und kann für mehrere der folgenden Simulations­phasen aus­gewertet werden.

    Der Lebenslauf der Figur soll zunächst den persönlichen Werde­gang einer Person umfassen, wie er bei einer Bewerbung um eine Arbeits­stelle formuliert wird. Als Vorgaben sind hierzu notwendig: Beispiele von Lebensläufen und Informationsma­terial zur Schul- und Berufsaus­bildung (gut geeignet: Informationsblätter der Ar­beitsämter). Die Ver­arbeitung des Materials geschieht durch Anfertigung eines fiktiven Bewerbungsschreibens auf eine (nach Möglichkeit) authenti­sche Stel­lenanzei­ge.

    Nach diesen noch weitgehend gelenkten Phasen haben die Figuren so viel Leben gewonnen, daß sich komplexere, offene Simulati­onspha­sen ergeben können. Der Anfangsimpuls dazu wird durch Auslosung von Zufallsbegegnungen zwischen je zwei erfundenen Figuren gege­ben. Dem geht eine Phase der Bewußtmachung der Möglichkeiten im Si­mulationsrahmen voraus: Die Figuren treffen sich in einer be­stimm­ten Situation und schließen eine Zufallsbe­kanntschaft. Welche Situatio­nen können das sein? (Beispiele von Teilnehmern gewählter Situatio­nen: Auffahrunfall, Zollkontrolle, Saunabesuch, Demonstration gegen ein Treffen ehemaliger SS-Angehöriger, Besuch einer Moden­schau, Knei­pengespräch, Pause während eines Fußballspiels; vgl. hierzu Ab­schnitt 7.3.5 zu den Situations­generatoren).

    Die simulierten Kontaktgespräche dieser Zufallsbekanntschaften wer­den - u. U. hörspielartig mit Hintergrundgeräuschen - außer­halb der Unterrichtsstunden auf Kassette aufgenommen, in maxima­ler Länge von fünf Minuten, da sie vorgeführt und transkribiert werden sollen.

    Die Bewußtmachungsphase der Erfahrungsmuster in der alltägli­chen Lebenswelt beim Kennenlernen und Interagieren zweier oder mehrerer Personen sollte in einem Gruppen-Brainstorming zu einem breiten Spektrum an Möglichkeiten führen, die sich auch in unter­schiedli­cher Weise dokumentieren lassen, also über verschiede­ne Me­dien in die Teilnehmergruppe rückführbar sind.

    Die individuellen Wege, die von den Kursteilnehmern in wechseln­den Kleingrup­penzusammenstellungen jetzt gewählt werden, werden in den Unterrichtsstunden in kurzer Form präsentiert. Die lebensnahe Vielfalt von Situationen und Inhalten darf dabei durchaus auch zum Einsatz illusionsunterstützender Mittel wie Spielzeugfigürchen etc. führen bzw. durch szenisches Spiel der Teilnehmer dargestellt werden (vgl. Abschnitt 7.3.7.1).

    F­ür die Lernenden können die hier zusammengefaßten Aufträge wie folgt formuliert werden:

      Einleitung: Wir gestalten den Unterricht mit Hilfe eines methodischen Rahmens, der das Lernen für Euch interessanter und lebensnäher machen soll. Jeder von Euch soll eine fiktive deutsche Person erfinden: Du denkst Dir eine Figur aus, einen ganz nor­malen Men­schen, der aber Merkmale haben sollte, die ihn für Dich interessant ma­chen. Du entscheidest, ob diese Figur männlich oder weiblich ist, gibst ihr einen Namen, be­stimmst das Alter, legst Geburtsort, Wohnort und Beruf fest und machst Dir ein paar Gedanken, was für ein Mensch (Charakter, Leben­sumstände) Deine Figur wohl ist. Die Figur lebt dann also ir­gendwo in der Bun­desrepublik, und Du wirst sie im Laufe unse­res Kurses weiterentwickeln und sie besser kennenler­nen. Deine Figur wird auch den anderen Figuren begeg­nen, die die anderen Teilnehmer der Gruppe erfunden haben. Sie werden miteinan­der sprechen und sich kennen­lernen, sich Briefe schreiben, sich befreun­den und zer­strei­ten können. Da die Figur aber nur in Deiner Phantasie existiert, ist sie in all ihren Eigenar­ten und Fähig­keiten völlig davon ab­hängig, was Du aus ihr machst. Du schaffst die Grundlagen für ihre Lebensum­stände, und um das tun zu können, brauchst Du auch eine Reihe von Informationen.

      In jeder Unterrichtsstunde wird es Aufträge geben, die die Entwic­klung der Figu­ren vervollständi­gen und das Verhältnis der Figuren untereinander koordinieren.

      Auftrag 1: Erfinde eine fiktive deutsche Person. Lege folgende Merk­male fest:

      - Vor- und Nachname (männlich/weiblich)

      - Geburtsjahr

      - Geburtsort

      - Wohnort

      - Ausbildung/Beruf

      - politische/weltanschauliche Einstellung 

      Auftrag 2: Du brauchst Informationen über den Wohnort Deiner Figur und dessen nähere Umgebung. Schreibe einen Brief an das Fremden­verkehrsamt oder ein Reisebü­ro des Ortes bzw. eines größeren Ortes in der Umgebung und bitte um Informations­materi­al. Zur Adressenbe­schaf­fung verwende z.B.: G. Theato (ed.), Adreßbuch Deutsch­land 1995/­96, München: Heyne 1995 oder Öckl, Taschenbuch des öffentlichen Lebens, Bonn: Festland Verlag (jeweils die neueste Auflage).

      Auftrag 3: Deine Figur hat eine politische Einstellung (sie vertritt evtl. bestimmte politi­sche Meinungen, wählt, demonstriert u.ä.). Stelle fest, welche politische Partei, Gewerk­schaft, Vereinigung, Bürgeriniti­ati­ve in Deutschland am ehesten dieser Ein­stellung entspricht und schrei­be einen Brief an den Landes- oder einen Bezirksver­band dieser Organi­sation (in dem Bundesland bzw. Bezirk, in dem Deine Figur lebt) und bitte um Informationsmaterial (zu den Adressen siehe Auftrag 2).

      Auftrag 4: Bereite einen Kurzvortrag (ca. 3 Minuten) zum Wohnort Deiner Figur und dessen näherer Umgebung vor. Benutze dazu das Material, das Dir vom Frem­den­ver­kehrsamt zugeschickt worden ist. Nötigenfalls kannst Du zusätzlich in einem größeren deutschen Lexi­kon (Brockhaus, Meyer) oder in einem Reiseführer den Ort und die Landschaft nachschlagen.

      Auftrag 5: Deine Figur hat in der Zeitung eine interessante Stellenan­zeige gesehen und will sich darauf bewerben. Schreibe für Deine Figur eine kurze Bewerbung und einen Lebenslauf (hierzu erhältst Du ein Muster). Du benötigst Informationen zur Schul- und Berufsausbil­dung in Deutschland. Hierzu kannst Du z.B. folgendes Materi­al benutzen: eine aktuelle Auflage von Tatsachen über Deutschland, Frankfurt am Main: So­cietätsver­lag; Informati­onsblätter und Broschüren der Arbeits­ämter).

      Auftrag 6: Jeweils zwei der erfundenen Figuren machen eine Zufallsbe­kanntschaft (Aus­losung der Paare). Denkt Euch eine Situation aus, in der sich Eure beiden Figuren zufällig begegnen könnten. Die Situation sollte so beschaffen sein, daß die Figuren in ein Gespräch kommen, in dem sie etwas mehr über sich, ihre Lebens­umstände und ihre welt­anschaulichen/politischen Einstellungen mitteilen und evtl. auf aktuel­le Ereignisse oder Themen in der Bundesrepublik Deutschland einge­hen.

      Beachtet dabei die eventuell vorhandenen sozialen sowie alters- und ge­schlechts­spezi­fi­schen Unterschiede Eurer Figuren und macht ad­äquaten Gebrauch davon in psycho­lo­gischer bzw. inhaltlicher und situationsbezogener Hinsicht.

      Bereitet das inhaltliche Konzept des Gesprächs gemeinsam vor und spielt die Situation dann durch. Nehmt das simulierte Gespräch mit dem Kassettenrekorder auf. Wenn Ihr Spaß daran habt, könnt Ihr die Situation mit Hintergrundgeräu­schen realistischer gestal­ten. Dauer des Gesprächs: 3-5 Minuten.

    In den reflektierenden Auswertungsphasen findet unter der Leitka­te­gorie des inter­kulturellen Lernens eine Resystematisierung der Inhal­te statt. Das Bedürfnis nach systematischem Wissen kann auch von den Kursteilnehmern selbst im Simulations­modell umgesetzt werden. So kommen Kursteilnehmer, die eine besonders junge Figur erfunden haben, ohne weiteres auf die Idee, die Eltern dieser Figur hinzuzuer­fin­den oder die Figur mit älteren Personen zu konfrontie­ren. Auf diese Weise kann in den Gesprächen auch historisches Wissen zum Zuge kommen.

7.3.2   Ouvertüre: "What's in a name"?

    Gleich die erste kreative Aktion, die Erfindung bzw. die Wahl eines Namens, bietet reichlichen Stoff für Begegnungslernen und Begeg­­nungsanalysen. Die Lernenden machen nämlich Gebrauch von ver­schiede­nen Möglichkeiten der Namengebung: Manche greifen auf die Namen konkreter Personen zurück, die sie einmal kennenge­lernt ha­ben oder die zum Bekanntenkreis ihrer Familie gehören; andere wäh­len Namen, die ihnen aus den Medien geläufig sind, vor allem die Namen von Sportlern und Figuren aus populären Fernsehserien; wie­der andere entschei­den sich für Namen, die für ihr Gefühl deutsch klingen, ohne daß sie bewußt ein bestimmtes Vorbild dafür benennen könnten; und schließlich werden auch sprechende Namen erfunden, die ganz be­wußt bereits ein Fremdbild transportieren.

    Im Anschluß an die Vorstellungsphase lassen sich zu diesen Kate­go­rien reflektierende Gespräche führen, in denen bereits die ganze Me­thodik und Zielabsicht des Begegnungsspiels zum Tragen kommt.

Wir geben im folgenden eine Reihe von Beispielen: deutsche Namen, die im Studienjahr 1992/93 in einer Gruppe 18jähriger niederländi­scher Deutsch­studenten erfunden wurden:

      Steffi Werner

      Helga von Klinkenhoffen

      Brigitte Matthäus

      Wilhelm Högel

      Dieter Tannenbaum

      Heiko Huber

      Stefan Spethmann

      Mathias Helfrich

      Heinrich Krankenstein

      Fritz Bradwurst

      Wilhelm Scholz

      Walter Buchholz

      Jürgen Klinsmann

      Otto Dohrenbusch

      Marcus Frankenstein

      Edmund Hasse

      Klaus Sämmler

      Dieter Läufer

      Wilhelm Flick

      Heinrich Bradwürst

    In der Analyse der Namengebung sind die Lernenden kompetenter als der Dozent: sie überblicken generationsbedingt ganz andere Berei­che des Alltags, des Sports, der Fernsehserien, Zeitschriften und Com­pu­terspiele, die hier zum Teil Pate gestanden haben. Viele traditionelle Realienkategorien sind hier berührt: Geschichte, Literatur, Film, Sport, Wirtschaft etc. Die Aufgabe des Dozenten ist es, dieses Spektrum für die Lern­gruppe offenzulegen und zu besprechen.


7.3.3   Zwischenspiel: Interaktion und Reflexion


    Es ist leicht nachzuvollziehen, daß in solch einem Modell alle (fremd)­sprachlichen Fähigkeiten und -fertigkeiten integriert und diffe­ren­ziert geübt werden können. Wir gehen im Rahmen dieser Arbeit nur auf ausgewählte Aspekte ein, die in besonde­rem Maße mit unse­ren dialo­gischen und interkulturell-partizipatorischen Zielset­zungen verbunden sind.

    Der Unterricht nach dem hier vorgestellten Modell vollzieht sich im ständigen Wechsel dreier Phasen: Vorbereitung, Durchführung und Dokumentation sowie Auswer­tung einer Simulationsphase. In jeweils zwei aufeinander folgenden Unterrichtsstunden sollten alle drei Pha­sen einmal durchlaufen werden. Zeitaufwendige Teile einer Phase können aus dem Unterricht ausgelagert werden, es sei es handelt sich um besonders gruppenattraktive Teile. Die Notwen­digkeit dieses ra­schen Wechsels liegt auf der Hand: Da es nicht um ein Spiel mit weni­gen festen Regeln geht, das dann stundenlang gespielt werden kann, sondern um ein Lernspiel, das von den Beteiligten mit ständig wech­selnden Inhalten gefüllt wird, muß die Vergewisserung dieser Inhalte durch Kontroll- und Reflexionspha­sen ­gewährleistet werden.

    Der Auswertungs- und Reflexionsphase kommt besondere Bedeu­tung zu, da in ihr die Interaktions- und Lernvorgänge der beiden vorange­gangenen Phasen bewußt gemacht werden, was idealerweise mit inter­kulturellen Lerneffekten verbunden ist.

    Die in der Simulationsphase auf Band festgehaltenen Dialogtexte der Kursteil­nehmer werden in der Evaluationsphase zu Unterrichts­mate­rial. Je nach Gewichtung einer Simulationsphase empfiehlt es sich dabei, die Texte (evtl. in Auszügen) transkribie­ren zu lassen und allen Mitgliedern der Gruppe auszuhändi­gen.

    Im folgenden werden Evaluationskriterien für Lernerdialoge von 3-5 Minuten Länge vorgeschlagen, die hörspielartig auf Kassette gespro­chen wurden. Die Kassette wird in der Teilnehmergruppe vorgespielt und mit der Gruppe nach drei Kategorien ausgewertet: Situationsad­äquanz, sprach­liche Adäquanz und Zielkulturadäquanz.


-   Situationsadäquanz: Die Teilnehmer können ihre Meinung zur An­ge­messenheit der im Dialog realisierten Situation äußern. Ist sie als Gan­zes realistisch? Ist sie in einzelnen Teilen unrealistisch? Ist sie psycho­logisch glaubwürdig? Was gefällt daran, was nicht? Die Dia­logpartner selbst erhalten Gelegenheit, ihren Text und seine Ent­stehung zu kom­mentieren und sich gegen eventuelle Kritik zur Wehr zu set­zen.

    Situation und thematisierte Inhalte des realisierten Dialogs werden sich bei diesem Gespräch nicht trennen lassen. Letztere können ange­sprochen werden, sollten aber für eine systematische Auswer­tung in der dritten Phase der Evaluation aufgehoben werden.

    Diese erste Phase hat vor allem auch die psychologische Funktion, das Bedürfnis nach Kommentar, Lob, Spannungsentladung und Heiterkeit in der Teilnehmer­gruppe zu befriedigen.


-   Sprachliche Adäquanz: Zu Beginn dieser Phase wird ggf. die Trans­kription des Dialogtextes den Kursteilnemern ausgehändigt. Spra­ch­liche Korrekturen sollten von Beginn des Evaluations­gesprächs an explizit eingebracht werden, damit niemand gezwungen ist, eventu­ell Textteile in fehlerhafter Form zu zitieren. In dieser zweiten Phase werden auffällige Fehler gesammelt und kurz bespro­chen. Dabei wird auch die idiomatische und rhetorische Angemessen­heit in sozialem und psychologischem Bezug auf die sprechenden Figuren beurteilt.


-   Zielkulturadäquanz: Bereits bei der Besprechung der Situations­ad­äquanz können Punkte genannt worden sein, deren systemati­sche Behandlung für diese Phase aufgehoben wird, in der bewußtes inter­kulturelles Lernen stimuliert werden soll.

    Der Text wird auf Fehlinformationen, Informationslücken, Vorur­teils­interferenzen und Eigenkulturinterferenzen hin untersucht.

    Die Beurteilung, ob ein Text in all seinen Einzelheiten die Zielkultur angemessen vertritt, bildet methodisch das schwierigste Problem des vorgestellten Verfahrens. Ziel der Beurteilung kann jedoch nicht eine gesellschaftswissenschaftliche Analyse des Lernerdialogs sein, sondern die punktweise Bewußtmachung, Thematisierung, Proble­ma­tisierung und Diskussion inhaltlicher Besonderheiten sowie von Fall zu Fall die Korrektur falscher Informationen und die Erteilung fehlender Informa­tionen.

    Das methodische und didaktische Problem liegt zum einen in der beschränkten Kompetenz der Lernenden, zielkultu­radäquate Situa­tio­nen darzustellen. Diese Kompetenz sollte jedoch auch nicht un­ter­schätzt werden, denn die Lernenden schöpfen - jedenfalls wenn sie einem benachbarten Kulturraum angehören - aus einem be­­trächtlichen Informations- und Erfahrungspotential. Die fiktiven Lernerdialoge sind jedoch von den alltagsästhetischen Schemata und Deutungsmustern sowie von auf die Zielkultur bezogenen Vorurtei­len, begegnungsge­schichtlichen Fossilien und verzerrtem Wissen durchwirkt.

    Zum anderen liegt das Problem in der gleichfalls beschränkten Kom­petenz des Lehrers, der - auch wenn er ein native speaker sein sollte - natürlich ebenfalls nicht in der Lage sein kann, die denkbare Vielfalt der von den Lernenden erfundenen Situationen auf ihre zielkulturel­le Adäquanz hin sicher zu beurteilen. Wir haben das Problem der kultu­rellen Doppelkompetenz des Fremdsprachenleh­rers bereits am Anfang dieses Kapitels angesprochen.


    In der Anfangsphase des Simulationsmodells konzentriert sich das Gesprächstrai­ning auf die Form des Kontaktgesprächs. Im Laufe des Kurses kann jedoch eine große Palette von Gesprächsformen trainiert werden. Eine Fülle von alltäglichen Dialogtypen sind dafür geeignet: "Plauderei, Unterhaltung, Talk-Show, Befragung, Beratung, Verhör, Examen, Interview, Kolloquium, Streit, Zank, Klatsch, Diskussion, Disput, Debatte, Diskurs, Verhandlung usw." (Hess-Lüttich 1993: 233; vgl. auch Hundsnurscher 1994).


7.3.4   Gruppenanalyse eines Kontaktgesprächs


    Der folgende Beispieldialog ist ein Produkt des Auftrags zur Her­stel­lung von Zufallsbekanntschaften zwischen jeweils zwei erfundenen Figuren (siehe oben). Wir haben für die Präsentation im Zusammen­hang dieser Arbeit aus ca. sechzig auf Kassette vorliegen­den Dialogen mit Absicht ein im Hinblick auf die Aufgaben­durchführ­ung nicht besonders positives und reichhaltiges Beispiel aus­gewählt. Die Auto­ren des Dialogs haben sich nur global an den Vorgaben orientiert, nur sehr wenig Zeit in das Vorberei­tungs­gespräch zur Inszenierung des Dialogs investiert und die performa­tive und inhaltliche Abwicklung mit allerlei Albernheiten durchsetzt, mit denen man im schulischen Alltag rechnen muß. Unsere Absicht ist zu zeigen, daß auch mit sol­chen Dialogen die Lernziele einer begegnungsorien­tierten Landes­kun­de erreichbar sind.

    Wir präsentieren den Text mit den originalen grammatischen Feh­lern der auf Kassette gesprochenen Version. In Abschnitt 7.3.4.1 - 7.3.­4.2 geben wir einen Bericht von der Gruppenanalyse dieses Dia­logs.


      Szene:  Nach einer Modenschau. Ort: Bremen


      (Marcus: ein Kellner von der Insel Sylt; Brigitte: ein Model aus Bre­men)


      Sprecher:          So, herzlichen Dank für Ihr Interesse. (Beifall)

      Marcus:            Sie waren ja wunderbar. Darf ich mir vorstellen: mein Name ist Marcus Bü­cher.

      Brigitte:            Ach, ich bin Brigitte.

      Marcus:            Wollen Sie vielleicht etwas trinken mit mir?

      Brigitte:            Ja, gern. Ein Pisang-Ambon, bitte.

      Marcus:            Können Sie mir etwas erzählen von Ihrem Beruf?

      Brigitte:            Ich bin in die Branche gekommen, weil ich eine sehr gute Figur habe. Fin­den Sie auch nicht?

      Marcus:            Ja, das finde ich auch, ja. Ja, sehr hübsch. Müssen Sie auch viel tun, um die gute Figur zu haben?

      Brigitte:            Ja, natürlich soll man das. Man muß am ersten gesund es­sen, viel Trai­ning doen ... tun, so als Fitness. Ich, äh, jeden Morgen mache ich das. Machen Sie auch Fit­ness? Sie sehen so gut aus.

      Marcus:            Ja, ich mache auch zwei Stunden in der Woche Fitness und sonst spiele ich noch ein bißchen Fußball. Aber die Möglichkeiten auf der Insel, wo­her ich kommen, sind da nicht so gut zu.

      Brigitte:            Wo kommen Sie denn her?

      Marcus:            Ich wohne auf Sylt in Norddeutschland, wissen Sie?

      Brigitte:            Nein, ich kenne den Ort nicht.

      Marcus:            Das ist eine Insel ganz oben in Deutschland. Die liegt fast an der Grenze mit Dänemark.

      Brigitte:            Ach so. Bist Du dort auch geboren?

      Marcus:            Nee, ich bin in Essen geboren, aber ich wohne da schon seit zehn Jahren. Und woher kommen Sie?

      Brigitte:            Ich komme aus dem schönen Ort Heidelberg. Das kennen Sie viel­leicht, oder nicht? Goethe spricht auch immer in seinen Bü­chern über Heidel­berg, oder lesen Sie nie Goethe?

      Marcus:            Ich lese immer die Fabelchenzeitung. Aber ich interessiere mich auch für Mode.

      Brigitte:            Ich interessiere mich schon lange für die Mode. Ich arbeite für die Zeit­schrift Burda. Das ist eine Zeitschrift für Mode, und ab und zu mache ich auch noch einige Modeshows für das Geld, wissen Sie? Und was machen Sie?

      Marcus:            Ich arbeite in einem Hotelrestaurant, und da verdiene ich mein Brot mit. Ich habe drei Monate im Jahr frei. Haben Sie viel Frei­zeit? Oder was machen Sie mit Ihrer Freizeit?

      Brigitte:            Ich gehe oft aus, weil die Männer mich lieben, und ich ma­che oft Ferien, natürlich, zum Beispiel im Östenreich im Winter, und im Sommer gehe ich immer nach Frankreich, weil das Klima dort sehr gut ist, und dann kann ich natürlich braun werden. Das ist sehr wich­tig für meinen Beruf.

      Marcus:            Ja, das verstehe ich. Ja, und interessieren Sie sich jetzt auch für Poli­tik oder so oder haben Sie da kein Interesse mehr für?

      Brigitte:            Ich finde Politik immer sehr langweilig. ich kann mich nicht so lange kon­zen­trieren, denn die reden immer zu langweilig und auch sehr schwierig. ich verstehe keine Politik, aber ich wähle FDP, und Sie?

      Marcus:            Ja, ich wähle SPD. Aber ich interessiere mich auch nicht soviel für die Poli­tik, aber ich finde es wichtig, daß ich mich doch hören lassen kann in Deutsch­land, daß meine Stimme gehört wird.

      Brigitte:            Darf ich Marcus sagen?

      Marcus:            Ja, natürlich. Dann sage ich auch Brigitte!

      Brigitte:            Ja, das ist gut. Ich wohne in der Nähe. Werden wir jetzt gehen? Wir können mit dem Auto fahren. Ich habe ein sehr schönes Auto. Ich hab' einen Ferrari.

      Marcus:            Ja, dann wollen wir jetzt mal fahren! Ist Ihr Mann nicht zuhause? Sind Sie nicht verheiratet?

      Brigitte:            Nein, ich bin nicht verheiratet. Ich bin nur 19 Jahre alt, und ich finde das zu jung, um zu heiraten. Finden Sie auch nicht?

      Marcus:            Ja, das finde ich auch. Nicht so früh heiraten!

      Brigitte:            Sind Sie verheiratet?

      Marcus:            Nein, ich wohne alleine in einer Wohnung.

      Brigitte:            Ist das nicht sehr langweilig?

      Marcus:            Ja, manchmal fehlt da eine Frau, aber es hat auch einige Vorteile. Finden Sie auch nicht?

      Brigitte:            Finde ich auch, aber jetzt gehen wir.

      Marcus:            Herr Ober, können wir zahlen?

      Ober:                Ich komme gleich!

      Marcus:            Wieviel bekommen Sie von mir?

      Ober:                Mal erst sehen, mal rechnen: 10 Mark, 20, das alles 40 Mark.

      Marcus:            So, bitte. Den Rest können Sie behalten.

      Ober:                Ah, danke!!

      Marcus:            Wiedersehen!

      Ober:                Wiedersehen!

7.3.4.1    Situationsadäquanz


    Die Gesamtsituation und ihre Durchführung wird von der Gruppe in ihren ersten Reaktionen negativ beurteilt. Vor allem mit der sexuel­len Anzüglichkeit, die das Gespräch durchzieht und die sich auch expres­siv in der Präsentation ausdrückt, haben die weiblichen und ein paar männliche Gruppenteilnehmer Probleme. Der Erfinder des Mo­dels Brigitte muß erleben, daß er sich in eine unangenehme Lage ge­bracht hat und wird im weiteren Verlauf des Kurses versuchen, seine Figur mit seriöseren Merkmalen auszustatten. Daß er sie für die Zeit­schrift Burda arbeiten läßt, war übrigens seinerseits bereits eine Vor­sicht­s­maßnahme zur Abschwächung des sexuellen Elements, das von ihm vor Kenntnis dieses Gesprächsauf­trags noch stärker geplant war: Bri­gitte sollte ursprünglich für Pornozeitschriften arbeiten.

    Auch die Punkte, an denen die Kongruenz von Rolle und "perfor­man­ce" durchbrochen wird durch "Albernheiten" wie z.B. "Lesen Sie nie Goethe?" und "Ich lese immer die Fabelchenzeitung", werden von der Gruppe eher negativ bewertet, obwohl sie sich zunächst darüber amü­siert hat.

    Der Eignung des Textes für interkulturelles Lernen tun derartige Al­bernheiten jedoch keinen Abbruch, im Gegenteil: Die hier an­geführten Beispiele werden in der dritten Evaluationsphase ausdrück­lich zu Unterrichtsstoff, da sie in ihrem jeweiligen Kontext typische interkul­turelle Fehlleistungen darstellen. Aufgabe des Dozenten muß im vor­liegenden Fall also sein, den Text für die Gruppe und für den Unter­richt zu retten, indem er darauf hinweist, daß die dargestellte Situa­tion so unrealistisch nun auch wieder nicht ist, daß die ärgerli­chen bzw. befangenen Reaktionen der Gruppe auf den Text den durchaus vorhandenen sachlichen Gehalt überdecken und die beiden Autoren sich doch letztlich völlig an den Auftrag gehalten haben.


7.3.4.2    Zielkulturadäquanz


    Im obigen Abdruck des Beispieltextes sind die zu thematisierenden Anschauungs­formen und Deutungsmuster durch Kursivdruck hervor­gehoben. Es handelt sich um verschiedene Typen:


-  Kontraste

-  Interferenzen (Pisang-Ambon, Fabelchenzeitung)

-  Deutungsmuster (Goethe, Heidelberg)

-  nicht adäquat eingesetztes Sachwissen (Sylt)

-  Vorurteilsstrukturen (hohes Trinkgeld)


    Ausgangspunkt bei der Behandlung dieser Kontraststellen sollten - das wurde bereits festgestellt - den Lernenden besonders ins Auge sprin­gende Kontrastele­mente sein. Ihr Vorhandensein ist Vorausset­zung für die erstmalige Konfrontation mit diesem Verfahren in einer Gruppe. Diese Qualität der Kontraststellen ist allerdings nicht immer sicher vorhersagbar.

    Ist das Verfahren erst einmal als solches bekannt, entwickelt die Ler­nergruppe auch die Fähigkeit, zunächst nicht erkannte Kon­trast­stellen zu ermitteln, zumindest aber eine Treffsicherheit in der Äuße­rung von Vermutungen über das Vorhandensein von Kontrasten und Interferen­zen.

    Die Qualität des In-die-Augen-Springens stellt sich häufig bei fa­lsch oder übertrieben dargestellten Textteilen ein, die aus Unwissen, Unsi­cher­heit, Übermut oder Heiterkeits- und Ironiebedürfnis entste­hen. Eine der oben bereits erwähnten "Albernheiten" besitzt diese Qualität, die von der Gruppe ohne weitere Lenkung sofort erläutert werden konnte: "Ich lese nur die Fabelchenzeitung". Die Eindeut­schung des jedem Niederländer bekannten Begriffs "Fabel­tjeskrant", einer Gute-Nacht-Sendung des niederländischen Fernsehens für Kin­der, verstärkte für die Lernergruppe den komischen Effekt, der gerade aus der für jeden deutlichen Nicht-Existenz des spontan übersetzt-erfundenen Wortes in der Zielkultur hervorging.

    Niemand aus der Gruppe kannte eine deutsche Gute-Nacht-Sen­dung für Kinder, obwohl über 80% der Teilnehmer das deutsche Fern­sehen empfangen konnten. Dieses Kultursegment paßt offenbar nicht in das Blickfeld von Achtzehnjährigen. Aber in dem Zusammenhang, der sich hier ergeben hat, waren alle überzeugt, daß das eigentlich ein landes­kundliches Manko der Gruppe sei, das sich noch am gleichen Abend beheben ließe.


    Eine zweite Eigenkulturinterferenz im Beispieltext ist für die nie­der­ländischen Lernenden etwas verborgener, aber nach dem ersten Bei­spiel der "Fabelchenzei­tung" doch selbsttätig zu ers­chließen gewesen: die junge Frau trinkt einen "Pisang-Ambon". Beim ersten Abspielen der Kassette wurde auch an dieser Stelle gelacht, allerdings nicht, weil das Getränk als unpassende Interfe­renz erkannt wurde, sondern weil es sich dabei nach Meinung der Studenten eher um einen Standard­likör der kleinbürgerli­chen nieder­ländischen Hausfrau handelte. Daß Pisang-Ambon als Getränk, das aus einem ehe­maligen niederländi­schen Kolonialge­biet stammt, in Deutschland relativ unbe­kannt sein könnte, darauf kam die Grup­pe erst nach Einübung des Denksche­mas am erstgenannten Beispiel.

    Beim anschließenden Gespräch über ein adäquates Getränk aus dem deutschen Kulturkreis ergab sich die Möglichkeit, das Problem der sozialen Adäquanz einzuführen. Ein Likör (Kirschlikör?) wäre bei kleinbürgerlichem Hintergrund der Frau durchaus angemessen, eben­sogut hätte sie aber einen Schickeria-Cocktail zu sich nehmen können. Der didaktische Zweck des Ge­sprächs war, die Kategorie schichten­spezifisch verschiedener Lebens­wei­sen im Alltag in den weiteren Pro­zeß der Figurenentwic­klung einzuführen.

    Ein Beispiel für ein verzerrtes Wissen, das sich aus der Addition zwei­er klischee­hafter Wissensbrocken ergibt, ist das betonte Zusam­men­bringen von "Heidelberg" und "Goethe": "Goethe spricht auch immer in seinen Büchern über Heidelberg". Heidelberg war für den betreffen­den Lerner nur ein völlig isolierter Gleichset­zungsbe­griff für "Deutsche Kultur". Keine einzige weitergehende Informati­on stand dahinter (au­ßer "Süddeutschland"). Über "Goethe" als weiteren Begriff der deut­schen Kultur waren zwar mehr Informatio­nen vorhanden, aber doch nicht genug, um die in ihrer Formulie­rung falsche Verall­gemeinerung zu verhindern. Daß Goethe wirklich einige Male in Hei­delberg war, ändert nichts an dem hier analysier­ten Wahrnehmungs­muster. Da Heidelberg der Geburtsort der von dem Lernenden erfun­denen Figur war, ergab sich der Anschlußauf­trag für ihn, sich über die Bedeutung von Heidelberg im deutschen Kulturkon­text zu informieren und diese Informationen in einer späteren Simulationsphase seiner Figur zu verarbei­ten.

    Ein Beispiel dafür, wie eine richtige Information im Kontext der erfun­denen Situation diesen für einen deutschen Rezipienten unglaub­wür­dig macht, ergibt sich aus dem Umstand, daß das Bremer Fotomo­dell die Insel Sylt nicht kennt. Natürlich hätte der Lerner, der den Syl­ter Kellner zu betreuen hatte, diese Panne bei ausreichender Vorberei­tung der Arbeitsaufträge verhindern können. Seine Information, daß die Insel im Norden Deutschlands liege, wirkt - in Bremen ausge­spro­chen - besonders gro­tesk. Daß die Panne trotzdem auftritt, macht sie zu einer schönen Möglich­keit interkulturellen Lernes. Die nieder­ländi­schen Nordseein­seln ent­behren jeglichen mondänen und neurei­chen Ele­ments. Das gilt auch für das niederländische Bürgertum und Klein­bür­gertum unter Ein­schluß der Intellektuellen, das auf diesen Inseln Ur­laub macht. Jegliche Information über eine teure deutsche Jet-Set- und FKK-Insel Sylt wird in den Niederlanden lieber verdrängt. "Sylt" ent­hält zuviel, was Nie­derländer an Deutschen nicht gerne se­hen.

    Dieses Beispiel ließe sich hervorragend als Ausgangspunkt einer ver­gleichenden soziologischen und sozialpsychologischen Betracht­ung verwenden, und Ansätze dazu sind in dem Gespräch mit der nie­der­ländischen Lernergruppe auch zu verwirklichen gewesen. Zum Ab­schluß noch das Beispiel eines unbewußt zutreffenden einge­brachten Kulturelement: Was bei "Pisang-Ambon nicht funktionierte, funktio­nierte bei der Modezeitschrift "Burda" sehr wohl. Burda ist im nieder­ländischen Zeitschriftenhandel (in niederländischen Ausgaben) sehr breit vertreten, nur ist das Bewußtsein, daß es sich um einen deut­­schen Verlag handelt, nicht vorhanden. Der Student sprach auf dem Band das Wort "Burda" auch niederländisch aus, also "ü" statt "u". Für sein Gefühl hatte er eine niederländi­sche Zeitschrift genannt.

7.3.5   Zum Vergleich: ein Lehrwerkdialog


    Der folgende Dialog stammt aus einem Lehrwerk der neuesten Schul­buchgenera­tion in den Niederlanden. Wir haben keine systema­tische Untersuchung zur Qualität der Dialoge in niederländischen Lehrwer­ken durchgeführt und können dazu deshalb auch keine objek­tiven Aussagen machen. Dennoch möchten wir feststellen, daß es sich bei dem hier präsentierten Dialog nicht um ein ausgesuch­tes Negativ­bei­spiel handelt, sondern daß er in der Art und Weise seiner Konstru­iertheit eher ein typisches Beispiel für die derzeit gebräuch­lichen nie­derländischen Deutschlehrwerke darstellt.


      Eine Austauschschülerin kommt nach Dresden und geht mit ihrer 'Gastschwester' durch die Stadt.


      Esther:      Das ist also meine erste Bekanntschaft mit Dresden. Wo gehen wir zuerst hin?

      Käthe:      Wir laufen vom Bahnhof erst mal Richtung Stadt, in Elbrich­tung.

      Esther:      Das sieht hier ja alles ganz neu und gar nicht schön aus. Ich dachte im­mer, Dresden wird das Elbflorenz des Nordens genannt.

      Käthe:      Das muß früher auch so gewesen sein, aber kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist die Stadt völlig von Bomben zerstört worden.

      Esther:      Ja, wir haben in der Schule bei Geschichte einen Film darüber gesehen. Das war ja furchtbar. Und was geschah nach dem Krieg?

      Käthe:      Nun, nach dem Krieg, in der Zeit der DDR, hat man ganz schnell Häuser ge­baut, aber man hatte damals nicht viel Geld, also ist das entstanden.

      Esther:      Da kann man nur Mitleid haben mit den Leuten, die darin wohnen. Was ist das denn für eine Ruine?

      Käthe:      Das war eine berühmte Kirche, die 'Frauenkirche'. Man will sie jetzt wieder aufbauen, aber viele Leute meinen, man sollte die Ruine als Mahnmal stehen lassen.

      Esther:      Man hat doch aber schon viel aufgebaut, habe ich gehört?

      Käthe:      Ja, das ist auch so. Komm, wir gehen mal weiter zu den Brüh­lschen Ter­ras­sen, da kannst du sehen, was man alles aufgebaut hat und wie schön die Stadt eigent­lich war und wieder wird.

      Esther:      Das sieht ja wirklich toll aus! Was ist das denn für ein Baustil?

      Käthe:      Das ist Barock, darum nannte man die Stadt 'Elbflorenz', Florenz an der Elbe also.

      Esther:      Und das Gebäude da drüben?

      Käthe:      Das sind alte Schlösser, jetzt aber schon lange Museen. Das berühmteste ist der 'Zwinger', da gehen wir gleich hin, wenn du wi­llst.

      Esther:      Ja gern. Eigentlich mag ich Museen nicht so, aber dieses sche­int mir 'was Be­son­deres. Du, Käthe, die Kirche da, die finde ich schön. War die auch kaputt?

      Käthe:      Ja, die auch. Das ist die Hofkirche und dahinter ist die Resi­denz. Du mußt nämlich wissen, Sachsen war früher ein Fürstentum. August der Starke wurde im 17. Jahrhundert König von Polen. Er war ein mächtiger Herrscher, der Dresden als seine Hauptstadt besonders prachtvoll haben wollte.

      Esther:      Hieß er 'der Starke', weil er so kräftig war?

      Käthe:      Ja, und nicht nur deswegen. Er soll auch mehr als hundert Kinder ver­weckt [sic!] haben. Außereheliche und bei mehreren Frauen, versteht sich.

      Esther:      Nanu, daß der noch Zeit zum Regieren übrig hatte!

      Käthe:      Vielleicht brauchte man damals weniger Zeit dazu. Siehst du jenes Ge­bäude? Das ist die Semperoper.

      Esther:      Was für eine Oper?

      Käthe:      Die Semperoper. So hieß der Architekt. Es ist wirklich ein berühmtes Opern­haus. Die Karten für die Vorstellung sind kaum zu haben.

      Esther:      Ich mach' mir nichts aus Opern, aber das Gebäude möchte ich doch mal sehen.

      Käthe:      Gut, das machen wir. Und danach können wir mit dem Dam­pfer die Elbe rauffahren.

      Esther:      Prima, das würde mir tollen Spaß machen.


    (Der Text wurde folgendem Lehrwerk entnommen: Ruud Grunde­ken, Ingeborg Doornbos-Heinz­gen, Henri Pieper, Re­gen­bogen 4 Vwo. To­taalmethode Duits, Baarn: BKE 1996, 36f. Er steht im Lehrwerk in gedruckter und gesprochener Version zur Verfügung.)

    Der Grundfehler dieses synthetischen Dialogs ist der gutgemeinte Versuch, verschie­dene Kategorien landeskundlichen Realienwissens (architektonische, stadt-, landes- und kulturgeschichtliche Informatio­nen) in einen "natürlichen" Dialog zweier Schüle­rinnen zu pressen. Was dabei herauskommt, ist in jeder denkbaren Hinsicht kontra­pro­duktiv: Die Versuche der Autoren, den lebensweltlichen Hintergrund und die Wahrnehmungsperspektive der Mädchen einzubeziehen, sind entweder hilflos ("Ei­gentlich mag ich Museen nicht so, aber dieses scheint mir 'was Besonderes" und "Ich mach' mir nichts aus Opern, aber das Gebäude möchte ich doch mal sehen") oder zynisch ("Da kann man nur Mitleid haben mit den Leuten, die darin woh­nen").

    Die Autoren nehmen keinerlei Rücksicht auf die Realität und Erleb­niswelt des deutschen und nie­derländischen Mäd­chens. Schon bei der Na­mens­gebung verfallen sie in eine falsche Kli­schee­haftig­keit, in der "Käthe" als typisch deutscher und "Esther" als nie­derländi­scher Mäd­chenname erscheint. Es wird kein Ver­such ge­macht, die Situation in ihren alltagsspezifi­schen Implikationen zu erfassen. Die von nicht­pro­fessi­onellen Sprecherin­nen auf Kassette gesprochene Ver­sion ver­stärkt die Künstlichkeit des Dialogs bis ins Groteske.

    Als Resultat eines Auftrags zur Dialogerstellung im oben beschrie­be­nen Begegnungsspiel wäre dieser Text eine zwar akzeptable, aber eher eine schlechtere Leistung als unser oben präsentiertes, bewußt mäßiges Beispiel. Dazu würde sogar der für ein Lehrbuch unakzep­table idio­matische Interferenzfehler passen ("Er soll auch mehr als hundert Kinder verweckt haben").[2]

    Die sprunghafte Informati­ons­häu­fung wäre zu kritisieren und vor allem die inszenatorischen Mängel und Unbe­holfenheiten, zu denen auch der einzige Versuch im Text gehört, ein alltagssituatives Element des Nicht-Verstehens einzu­bauen: "Das ist die Semper-Oper"/"Was für eine Oper?"/"Die Semper-Oper".

    Als Lehrbuchtext jedenfalls ist dieser Dialog ungeeig­net und ab­schreckend. Auch die dazugehörigen Übungen sind nur repro­duktiv und nicht produktiv.


7.3.6   Situationsgeneratoren


    Die von Schewe (1993) geforderten "dramatischen Dialoge" sind in der Fremdsprachenwelt nur äußerst spärlich vertreten. Insbesondere Lehrwerk­dialo­ge bzw. Lehrwerktexte im allgemeinen werden zumeist auf der Grun­dla­ge einer (oft zweifelhaften) grammatischen Progressi­on, eines systema­tischen Aufbaus des Wortschatzes nach Frequenz­kriterien und/oder einer mehr oder minder intuitiven Auswahl "typi­scher" Situationen synthetisch erstellt.

    Die Professionalisierung im Umgang mit diesen Kriterien ist in den achtziger Jahren ein wichtiges Thema in der Lehrwerkforschung gewe­sen (vgl. Krumm 1982, Neuner 1989). In unserem Zusammen­hang interessieren insbesondere die "Situationen" und die in ihnen inter­agierenden "Personen": sie stellen schließlich den notwendigen Reali­sierungs­rahmen von Dialogen dar. Auch zu dieser Thematik gibt es eingehende Überle­gungen in der Sprachlehrforschung (vgl. Gutzat/ Nie­haus/Kemme 1983). Neuere sozial- und persönlichkeits­psycho­logi­sche Untersu­chun­gen können hier jedoch zur Systemati­sierung eines situations­orientierten Fremdsprache­nunter­richts beitragen und uns auch in der didaktischen Anwen­dung von "dramati­schen" Dialogen un­terstützen. Die Dezentrierung des Ich, die wir anhand unseres phä­nomenologi­schen Rahmens in Abschnitt 6.1 angesprochen haben, führ­te in einer entsprechenden Entwicklung in der Psychologie weg von der Betrach­tung des von seiner Umgebung isolierten Menschen und hin zur Er­klärung des menschlichen Verhaltens und des "Charakters" aus sozia­len Prozessen.

    In der modernen Sozialpsycho­logie spielt der Situationsbegriff eine zentrale Rolle: "In het algemeen neigt men binnen de psychologie naar een subjectieve opvatting van het begrip situatie, zodat de 'situatie' niet los te zien is van degene die hem waar­neemt. Het is niet alleen zijn of haar situatie in die zin dat men zich erin bevindt, maar ook in de zin dat men er een eigen visie op heeft en eigen ideeën kan hebben over in die situatie passend gedrag. Tezelfderzijd echter wordt de situatie niet opgevat als zuiver idiosyncra­tisch. Leden van bepaalde groepen, bezetters van bepaalde rollen, of bepaalde typen personen worden geacht een min of meer gedeelde visie, een common sense in de zin van Vico, op de situatie te hebben" [Im allgemeinen neigt man in der Psychologie zu einer subjekti­ven Auffassung des Situationsbe­griffs, in dem Sinne, daß die 'Situation' nicht getrennt von demjenigen gesehen werden kann, der sie wahr­nim­mt. Es ist nicht nur seine oder ihre Situation in dem Sinne, daß man sich darin befindet, sondern auch in dem Sinne, daß man eine eigene Auffas­sung zur betreffenden Situation und eigene Vorstellun­gen zum situations­adäquaten Verhal­ten haben kann. Zugleich wird die Situation aber nicht als rein idio­synkra­tisch verstanden. Man geht davon aus, daß Mitglieder bestimm­ter Gruppen, Spieler bestimmter Rollen oder bestimmte Typen von Personen mehr oder minder über eine gemein­same Vorstellung, über einen common sense im Sinne von Vico, in bezug auf die Situation verfügen] (Van de Sande 1996: 26f.).

    Van de Sande referiert kurz die Entwicklung der sozialpsychologi­­schen und soziologischen Forschung im Hinblick auf den "common sense" bzw. auf die "gemeinsa­men Vorstellungen", die hier ange­spro­chen sind (49-52). Die in diesem Zusammenhang thematisierten "socia­le representaties" [sozialen Repräsentationen] korrespondie­ren deutlich mit unseren in Kapitel 5 und 6 entwickelten alltags­ästheti­schen Sche­mata und Deutung­smus­tern, die in einer konkreten Situa­tion aktuali­siert werden. Der Begriff "Situation" selber deckt sich in diesem Ver­ständnis weitge­hend mit unserem Begegnungsbe­griff.


7.3.6.1    Taxonomie der Situationen


    Van de Sande führt eine Reihe von sozialpsychologischen Untersu­chungen an, deren Ziel eine universelle Taxonomie der Situationen ist. Auf die erkenntnis­theoreti­schen und methodologischen Probleme bei der Aufstellung derartiger Taxonomien können wir an dieser Stelle nicht weiter eingehen (s. dazu Van de Sande 1996: 59-80). Uns inter­essiert im Zusammenhang dieses Kapitels, ob sich hier ein Instrument zur Erzeugung von Situationen und damit von Dialogen anbietet, das für den Fremdsprachenunterricht im allgemeinen und unsere oben entwickel­ten Konzepte im besonderen adaptierbar ist.

    Eine Situationstaxonomie kann aufgrund kategorialer und dimensio­naler Eintei­lungskriterien erstellt werden. Kategoriale Kriterien gehen von einer traditionellen Realiensystematik aus, z.B. Religion, Handel, Freizeit. In handlungsorientierter Formulierung lassen sich mit ihnen die Situationen der Lebenswelt beschreiben: eine Religion­ ausüben, Handel treiben oder Freizeit gestal­ten. Dimensionale Kriterien betref­fen die Verhaltensmerkmale der in der Situation interagierenden Per­sonen: z.B. ob wir es mit einer kooperativen oder kompetitiven Situa­tion zu tun haben bzw. ob die in der Situation agierenden Interaktan­ten einander freundlich oder feindlich gesinnt sind (z. B. eine Religion fanatisch und intolerant ausüben, jemanden im Handel übervortei­len, seine Freizeit agressiv gestalten).

    Van de Sande nennt als Beispiel für eine globale Taxonomie nach kategorialen Kriterien die Untersuchung von Van Heck (1984), die auf der Grundlage empirischer Forschungen erstellt wurde. Wir geben hier nur die zehn Hauptkategorien Van Hecks in deutscher Überset­zung wieder (für die komplette Liste s. Van Heck 1984: 158-161):


       1.  Interpersonaler Konflikt, Katastrophen

       2.  Zusammenarbeit und Ideenaustausch

       3.  Intimität und sexuelle Aktivität, interpersonale Beziehungen

       4.  Erholung, Amusement, Feste; formell und informell

       5.  Reisen

       6.  Religion, Rituale und Begräbnisse

       7.  Sport und Wettbewerb

       8.  Exzesse: sexuelle, alkoholische und Rauschmittelorgien

       9.  Haushalt, Bedienung

      10.  Kaufen und Verkaufen, Handel treiben


    Taxonomien mit universalistischem Anspruch geraten schnell in Pro­bleme mit der Komplexität der real existierenden Lebenswelten und sind zur Reduktion gezwungen. Ein Ausweg, der sich anbietet, ist die Beschränkung auf ein spezielles Segment der sozialen Wirklichkeit und/oder auf eine Auswahl dimensionaler Faktoren.

    Van de Sande selbst schlägt eine dimensionale Taxonomie vor: einen festen taxonomischen Rahmen mit einer kleinen Auswahl uni­versali­stischer Faktoren, der in Anwendung auf verschiedene Ziel­gruppen unter­schiedlich gefüllt werden kann. Seine Dimensionen sind (Van de Sande 1996: 96):


      - Gruppengröße: Dyade, Triade und Kleingruppe

      - kooperativ-kompetitiv

      - physisch-verbal

      - freundlich-feindlich

      - formell-informell


    Die Kombination dieser Dimensionen erzeugt einen Rahmen von 48 abstrakten Situationsbeschreibun­gen, jeweils 16 für die verschiede­nen Gruppengrößen Dyade, Triade und Kleingruppe (Van de Sande 1996: 196f.):


      01  dyade koop phys freund form

      02  dyade koop phys freund inform

      03  dyade koop phys feind form

      04  dyade koop phys feind inform

      05  dyade koop verb freund form

      06  dyade koop verb freund inform

      07  dyade koop verb feind form

      08  dyade koop verb feind inform


      09  dyade komp phys freund form

      10  dyade komp phys freund inform

      11  dyade komp phys feind form

      12  dyade komp phys feind inform

      13  dyade komp verb freund form

      14  dyade komp verb freund inform

      15  dyade komp verb feind form

      16  dyade komp verb feind inform

      usw.


    Van de Sande ordnet diesen abstrakten Situationsdefinitionen in sei­nen empirischen Untersuchungen mit Versuchspersonen konkrete ziel­gruppen­adäquate Situationsbeschreibungen zu. Wir geben hier in deutscher Übersetzung seine Beispielliste für die Zielgruppe Studenten wieder:


      01 dyade koop phys freund form:

               Dein Vater hat dich in ein Restaurant eingeladen und versucht, dir ein Ge­richt aufzu­drängen, das du nicht essen möchtest. Er zahlt.


      02 dyade koop phys freund inform:

               Du bist bei einem Freund zu Besuch und langweilst dich tödlich.   


      03 dyade koop phys feind form:

               Du hast einen Ferienjob und mußt zusammen mit einem merkwürdi­gen Typ schwere Lasten verladen.


      04 dyade koop phys feind inform:

               Du gehst auf der Straße und siehst, daß ein Bekannter, den du nicht beson­ders magst, sein Auto nicht in Gang kriegt.


      05 dyade koop verb freund form:

               Auf dem Geburtstagsfest deiner Mutter gerätst du mit einer konserva­tiven Tante in eine Diskussion zum Thema Schwanger­schaftsabbruch.


      06 dyade koop verb freund inform:

               Du hast ein gutes Gespräch mit einem Bekannten. Er macht plötzlich eine für dich verletzende Bemerkung.


      07 dyade koop verb feind form:

               Ein Polizist behauptet, daß du bei Rot über die Straße gegangen bist. Er will dich anzei­gen.


      08 dyade koop verb feind inform:

               Du diskutierst mit deinem Dozenten über die ungenügende Note, die er dir gerade gegeben hat.


      09 dyade komp phys freund form:

               Du arbeitest an einem schwierigen Referat. Bei den Nachbarn spielt jemand seit einer Stunde so laut und so schlecht Klavier, daß du dich nicht kon­zen­trieren kannst.


      10 dyade komp phys freund inform:

               Du bist früh ins Bett gegangen, aber dein Mitbewohner hat den Fern­seher so laut an­stehen, daß du nicht schlafen kannst.


      11 dyade komp phys feind form:

               In der Auslage für "Schnäppchen" liegt noch ein Pullover, den sowohl du, als auch ein für dich Wildfremder haben möchte.


      12 dyade komp phys feind inform:

               Du stößt auf der Straße mit einem merkwürdigen Typen zusammen, der danach so schnell wegläuft, daß du denkst, daß er dir etwas ge­stohlen hat.


      13 dyade komp verb freund form:

               Dein Freund will die Partie Tischtennis, mit der ihr gerade beschäf­tigt wart, nicht zu­ende machen, weil du seiner Meinung nach nichts da­von verstehst.


      14 dyade komp verb freund inform:

               Du machst mit einer guten Freundin einen Spaziergang durch den Park. An der näch­sten Kreuzung willst du nach rechts, sie aber nach links.


      15 dyade komp verb feind form:

               Als du den Supermarkt verläßt, wirst du von jemandem in einem Regenman­tel ange­hal­ten, der behauptet, du hättest etwas mitgenom­men, ohne zu be­zahlen.


      16 dyade komp verb feind inform:

               Du willst in die Diskothek. Der Portier behauptet, daß sie voll besetzt ist und will dich wegschicken. Jemand, der nach dir kommt, gibt ihm fünf Mark und darf rein.


    Jeder der hier beschriebenen Situationen ist eine dramatische Span­nung eigen, die den dramapädagogischen Forderungen Manfred Sche­wes genügt. Die Kon­zeption und Formulierung ver­gleich­­barer Situa­tio­nen für die jeweilige Zielgruppe im Fremdspra­chenunter­richt kann Bestandteil des Unterrichts sein, als Teilschritt in der Vor­bereitung von Rollenspie­len und in der Herstellung von Sze­nenfolgen.

7.3.6.2    Populäre Situationsgeneratoren


    Das Bedürfnis, die Varietät möglicher Situationen menschlicher Le­benswelten in einem relativ einfach hantierbaren System zu erfassen und für bestimmte Zwecke zu operationalisieren, ist nicht erst in der modernen Sozialpsychologie entstanden, sondern hat Vorbilder in allen Kulturräumen und -zeiten: es ist universal.

    Derartige Systeme dienten in der Vergangenheit meist eher "magi­sche­n" Zwecken: der Herstellung von Macht über das Schicksal ande­rer z.B. durch Prophezeiungen und "Wahrsagen" von Situatio­nen, in de­nen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf geschick­te Weise miteinander verbunden werden. Ein schönes Beispiel für ein sprach­lich und organisatorisch relativ komplexes System ist das chinesische I Ging, ein Beispiel für ein stärker abstrahiertes System das Tarot-Spiel.

    Wir stellen hier ein dem Tarot verwandtes, jedoch weniger abstrak­tes System vor: die "Kipper Wahrsagekarten" (im Spielzeughandel erhält­lich). Es handelt sich um 36 Karten, die nach einem bestimmten Sy­stem aufgelegt werden. Die dadurch entstehenden Konstellationen definieren Situationen, die als Grundlage für das "Wahrsagen" dienen. Die Universalität der auf diese Weise generierten Situatio­nen führt bei der Person, deren Zukunft geweissagt werden soll, sofort zu Eigen­assoziationen und Wiedererkennungseffekten aus selbster­lebten Situa­tio­nen, gegenwärtigen Existenzfaktoren und Erwar­tungshaltungen. Deren Eigendynamik erlaubt es einem psychologisch einigermaßen versier­ten "Wahrsager", das Erwartung­smuster seines Klienten zu bedienen und ein "magi­sches" Wissen zu dessen vergangenem und zukünftigem Schicksal aufzubauen. Die 36 Karten weisen neben einer bildlichen Darstellung eine kurze verbale Klassifizierung auf:


       1. Hauptperson (männlich)                         19. Todesfall

       2. Hauptperson (weiblich)                           20. Haus

       3. Ehestandskarte                                        21. Wohnzimmer

       4. Zusammenkunft                                      22. Militärperson

       5. Guter Herr                                               23. Gericht

       6. Gute Dame                                              24. Diebstahl

       7. Angenehmer Brief                                  25. Hohe Ehre

       8. Falsche Person                                        26. Unerwartetes, großes Glück

       9. Eine Veränderung                                   27. Unerhofftes Geld

      10. Eine Reise                                              28. Erwartung

      11. Viel Geld gewinnen                                29. Gefängnis

      12. Reiches Mädchen                                   30. Gerichtsperson

      13. Reicher, guter Herr                                 31. Krankheit

      14. Traurige Nachricht                                 32. Kummer

      15. Guter Ausgang in der Liebe                    33. Trübe Gedanken

      16. Seine Gedanken                                     34. Arbeit

      17. Ein Geschenk bekommen                      35. Langer Weg

      18. Ein kleines Kind                                    36. Hoffnung


    Die Kombination von kategorialen und dimensionalen Kriterien erhöht den Reiz dieses Systems. Beide Verfahren - die Taxonomie Van de Sandes und Kippers Wahrsagekarten - können für einen begeg­­­­­nungs­orie­ntierten Fremdsprachenun­ter­richt adaptiert werden. Bei der Ver­wen­dung von Karten ist darauf zu achten, daß das "mysti­sche" Ele­ment der angeblichen Zukunftsdeutung schon bei der Einführung der Un­terrichtssequenz entmystifiziert wird.


7.3.6.3    Taxonomie der Persönlichkeit


    John/Goldberg/Angleitner (1984) haben in ihren empirischen Un­ter­suchungen aus Tausenden persönlichkeitsbeschreibenden Adjekti­ven der englischen, deutschen und niederländischen Sprache eine "short­list" der "Bipolar Scales Measuring the 'Big Five' Personali­ty Factors" herausdestilliert. Wir geben den deutsch­sprachigen Teil der Liste[3] im folgen­den ungekürzt wieder (John/Goldberg/Angleitner 1984: 95):



      I. Surgency


      passiv - aktiv

      untätig - tatkräftig

      nachgiebig - dominant

      furchtsam - mutig

      abhängig - unabhängig

      bescheiden - stolz

      schüchtern - durchsetzungsfähig

      zurückgezogen - gesellig



      II. Agreeableness


      kalt - warm

      ungefällig - gefällig

      kritisch - nachsichtig

      stur - flexibel

      misstrauisch - vertrauensvoll

      unfair - fair

      selbstsüchtig - selbstlos

      undiplomatisch - taktvoll



      III. Conscientiousness


      unzuverlässig - zuverlässig

      nachlässig - gewissenhaft

      unachtsam - sorgfältig

      unsystematisch - systematisch

      faul - fleißig

      modern - traditionell

      liberal - konservativ

      ungeschickt - praktisch



      IV. Emotional Stability


      unausgeglichen - beständig

      unsicher - selbstsicher

      nervös - gelassen

      angespannt - entspannt

      launisch - ausgeglichen

      reizbar - ruhig

      unzufrieden - zufrieden

      gefühlsbetont - kühl



      V. Culture


      ungebildet - gebildet

      unwissend - informiert

      dumm - intelligent

      beschränkt - scharfsinnig

      einfallslos - einfallsreich

      einfach - kompliziert

      uninteressiert - wissbegierig

      intuitiv - rational



    Diese 40 polaren Eigenschaftspaare können als Grundwortschatz der Persönlichkeits­beschreibung der sprachlichen und inhaltlichen Diffe­renzierung im Rahmen des hier vorgestellten Unterrichtsmodells die­nen.



7.3.7   Situationen für den Unterricht


7.3.7.1    Szenisches Spiel: "Ein Tag im Leben von..."


    Für die erste Phase des Begegnungsspiels haben wir die Definition der Situationen für Kontaktgespräche den Lernenden selbst überlassen. Zur Erzeugung einer größeren Variation lebensweltli­cher Situationen mit unterschiedli­chen Begeg­nungsaspekten läßt sich die Taxonomie von Van de Sande verwenden. Die konkrete Ausfüllung von Situatio­nen aus der Gruppe der im Abschnitt 7.3.6.1 vorgestellten 48 abstrak­ten Definitionen wird durch die Lernenden geleistet: Sie formulieren für ihre erfundene Figur eine Reihe lebensweltlich adäquater Begeg­nungsrahmen. Für die adäquate Berücksichtigung der dimensionalen Kategorien durch die Lernenden muß eine Trainingspha­se eingeschal­tet werden. Der Aufbau einer Situation wird durch die Vorgabe von Beispielen demonstriert und in der Gesamtgrup­pe eingeübt.

    Die didaktische Einbettung in das Begegnungsspiel ist dramapäda­gogisch auf verschiedene Weisen zu leisten. Unser Beispiel ist das Pro­jekt "Ein Tag im Leben von...": Die Lernenden arbeiten in Kleingrup­pen von bis zu fünf Personen. Jede Gruppe wählt eine der erfundenen Figuren als Zentralfigur aus und definiert gemeinsam fünf Situationen aus deren Lebenswelt, die sich an einem normalen (Arbeits-) Tag ab­spielen könnten. Die fünf Situationen sollten sich durch eine möglichst große Unter­schiedlichkeit der dimensionalen Faktoren auszeichnen und - wie bei den oben genannten Beispielen Van de Sandes - jeweils ein besonderes Spannung­smoment enthalten. Die Situationen können - müssen aber nicht - einen szenischen Zusammenhang aufweisen. Je nach dem Zeitrahmen und den Arbeitsbedingungen des Projekts wer­den die definierten Situationen vorbereitet, inszeniert und vorgeführt, wobei die Teilnehmer der einzelnen Gruppen das zur Verfügung ste­hende Ensemble darstel­len, das die Rollen unter sich verteilt.



7.3.7.2    Sprechfertigkeit: "Wahrsagen"


    Wahrsagekarten wie das oben in Abschnitt 7.4.6.2 vorgestellte Bei­spiel können leicht von einer Lernergruppe selbst hergestellt werden. Sie sind aber auch in allerlei Varianten im Buch- und Spielwa­renhan­del erhältlich. Der Lehrer teilt ein Merkblatt zur Methode des Aufle­gens und der Interpretation der Karten aus, erläutert es und führt ein Bei­spiel selbst vor. Die Lernenden führen dann in wechselnden Zwei­er­gruppen "Wahrsagungen" für die von ihnen erfundenen Figuren aus.



7.3.7.3    Sprechfertigkeit: Situationen erzählen


    Auch für reine Sprechfertigkeitsübungen sind die oben vorge­stellten Verfahren adaptierbar. Hierzu können gleichfalls die "Wahrsagekarten" verwendet werden. Die Kartenkategorien können aber auch vom Do­zenten nach eigenen Maßstäben variiert und/oder reduziert werden. Wir geben im folgenden ein Beispiel für ein Kartenset, das wir selbst zur Erzählstimulierung entwickelt haben. Es handelt sich um drei Stapel Kärtchen zur Situationsbestimmung:




      I  Agierende Personen (Hauptperson + ...)


      Vater

      Mutter

      Freund/Verwandter/Bekannter

      Freundin/Verwandte/Bekannte

      Unbekannte(r)



      II Thema


      Tier

      Wetter

      Krankheit

      Reise

      Fest

      Schule

      Arbeit

      Geld

      Meinungsverschiedenheit/Streit

      wichtiger Gegenstand



      III Emotion


      Liebe

      Eifersucht

      Angst

      Gewalt

      Freude

      Schmerz

      Wut

      Haß

      Mitleid



    Von jedem Stapel wird eine Karte gezogen. Die drei Karten definie­ren die Situation, die erzählerisch gestaltet werden soll: z.B. Mutter-Reise-Schmerz, Kind-Fest-Haß, Freund-wichtiger Gegen­stand-Wut.           Nicht jede Kombination wird den jeweiligen Lernenden in seiner Pha­ntasie anregen; deshalb sollte man auch die Möglichkeit einbauen, ein oder zweimal zu "passen".






7.3.7.4    Finale: "Party"


    Am Ende einer Unterrichtsreihe oder eines Projekts "Erfinde eine(n) Deutsche(n)" kann eine "Party" stehen, auf der die erfundenen Figuren sich als Kommunikationsgemeinschaft treffen und in einem Reigen von Small-talk-Begegnungen die erworbenen Inhalte und Formen des Begegnungsspiels austauschen und durch Wiederholung in wech­seln­den Kommunikationsmustern festigen. Die Teilnehmer erhalten da­durch die Gelegenheit, die Figuren, mit denen sie im Laufe des Unter­richts weniger Kontakt hatten, in kurzen Gesprä­chen kennenzuler­nen.

    Der Grad der Simulation steht im Ermessen des verantwortli­chen Lehrers. Wir plädieren für eine Party, die so frei und natürlich ist wie möglich (Getränke, Snacks, Musik) und so geordnet wie nötig: Die Teilnehmer sollen nicht "aus der Rolle fallen". Eventuelle Hintergrund­musik sollte der persönlichen Vorliebe der erfundenen Figuren ent­sprechen (wenn dies im Projekt thematisiert worden ist), müßte aber aus verständlichen Gründen relativ leise sein.



7.3.8   Aspekte des Spracherwerbs im Begegnungsspiel


7.3.8.1    Aufbau eines begegnungsorientierten Wortschatzes


    Taxonomien zu Situations- und Persönlichkeitsmerkmalen eignen sich zur Adaptierung für eine lebensweltorientierte Wortschatzarbeit. Zur Sicherung des Wortschatzes ist zu empfehlen, daß die Lernenden sich ein spezielles Heft, eine kleine Kartei (A 7) oder eine Datei in einem Textverar­beitungsprogramm bzw. einem Vokabeltrai­ner anle­gen, worin sie die neuen Wörter und idiomati­schen Wen­dungen ein­tragen. Als Gliederungsprinzip schlagen wir das folgende katego­ria­le Zuord­nungsschema vor, das wir aus ver­schiedenen Le­benswelt­taxono­mien übernommen und weiterentwickelt haben:


Zuordnungsschema für Wortschat­zarbeit


Ich und meine Familie


 1. Wohnort, Umgebung, Wohnviertel

 2. Wohnung, Haus und Garten

 3. Familie, Verwandte, Freunde, Haustiere

 4. Aussehen, Eigenschaften

 5. Haushaltsführung, Haushaltsgerätschaften

Ich und mein Körper


 6. Körper, Körperfunktionen

 7. Körperpflege

 8. Kleidung

 9. Kochen, Essen und Trinken

10. Krankheit, Unfall, Verletzung, Tod


Womit ich mich gern beschäftige


11. Freizeit, Hobbys, Spiele

12. Sport

13. Fernsehen, Kino, Massenmedien

14. Kunst, Musik, Literatur, Theater

15. Computer, Computer- und Videospiele


Was ich glaube, liebe, hoffe


16. Geschmack, Werte, Normen

17. Glaube, Weltanschauung

18. positive Gefühle, Glück, Liebe, Sex

19. negative Gefühle, Unglück, Haß, Streit, Gewalt

20. Diskussion, Meinungsfindung, Kooperation


Wie ich die Welt erfahre


21. Fahrrad, Auto, öffentliche Verkehrsmittel

22. Reisen, Urlaub, Ferien

23. Länder und Völker

24. Landschaften, Natur, Umwelt

25. Pflanzen, Tiere


... und die Arbeitswelt


26. Schule, Ausbildung, Fortbildung

27. Berufe, Arbeit, Arbeitslosigkeit

28. Geld, Geldverkehr, Einkaufen

29. Wirtschaft, Warenverkehr

30. Wissenschaft, Technik


Ich und die Gesellschaft


31. Gemeinde, Provinz, Staat, Europa

32. Institutionen, soziale Rechte und Pflichten

33. Normverstöße, Verbrechen, Strafe

34. Recht

35. Politik, Geschichte, Krieg und Frieden



    Das Schema umfaßt in 35 Kategorien ein breites Spektrum alltägli­chen Lebens und kann ggf. erweitert und differenziert werden. So könnten z.B. bestimmte spezialisti­sche Bereiche, die sich auf die Be­rufsausbil­dung und -perspektive der jugendlichen Lerner beziehen, als eigene Kategorie hinzugefügt werden. Je nach der Lernkultur der Unterricht­sinstitution können die Worteinträge einsprachig deutsch oder zwei­sprachig und mit bzw. ohne Hin­zufügung eines Beispielsat­zes vor­genom­men werden.

    Für dimensionale Aspekte sind die Kategorien 16 - 20 vorgesehen. Das Schema wird hier als ein für den gesamten Fremdsprachenunter­richt sinnvolles Instrument vorgestellt. In der Praxis wird man fest­stellen, daß bei der sprachlichen Bewältig­ung spezieller Bereiche im­mer wie­der auch Begriffe anderer sachlicher und emotionaler Bereiche eine Rolle spielen und daß es dementsprechend zu Proble­men bei der Zu­ordnung kommt. ­Und natürlich gibt es sehr viele Wörter und idio­ma­tische Wendungen, die nicht in diesem lebensweltli­chen Katego­rien­schema unterzubringen sind. Hierfür kann man eine Zusatzkatego­rie für "Unklassifizierbares" einführen. Dennoch behält dieses Eintei­lungs­schema seinen Nutzen als Instru­ment für eine sinnvolle Wort­schatzer­weiterung.

    Das vorgeschlagene Verfahren für die Arbeit in Kleingruppen, die verschie­dene Situatio­nen simulieren, führt zu individuell verschie­de­nen Wortlis­ten. Die Lernenden haben damit auch die Möglichkeit, Bereiche, die sie besonders interessieren, ausführlicher aufnehmen zu können. Damit es bei eventuellen Tests nicht zu ungleichmäßigen Belastungen kommt, müßten Absprachen bezüglich der Gesamtzahl (und/oder der Mindestzahl pro Kategorie) der Einträge in die Wortli­sten gemacht werden. (Wenn die Lernkultur einer Schule keine indivi­duel­len Wortlisten zuläßt, muß der Lehrer über eine stärkere Steue­rung zu einer einheitlichen Liste kommen.)



7.3.8.2    Zur Arbeit mit Versandhauskatalogen und Werbeprospekten


    Versandhauskataloge sind die billigsten und umfangreichsten Kom­pendien der Wirtschafts- und Warenwelt, die den Alltag in den west­lichen Industrieländern bestimmt. Neckermann, Quelle, Otto sind die größten deutschen Versandhäuser. Der Otto-Kata­log z.B. bietet auf rund 1400 Seiten mit Regis­ter den ganzen Kosmos des mit­telständi­schen Konsumismus in Wort und Bild. Er verbindet dabei die Vorzüge eines Bildwör­terbuchs mit äußer­ster Aktualität. Inzwischen bieten die meisten Versandhäuser ihre Katalo­ge auch in einer CD-ROM-Version an, was die Ein­satzmöglichkei­ten für Unterrichtszwec­ke noch vergrös­sert.

    Wir möchten also vorschlagen, die Wortschätze des wirtschaftli­chen Alltags, die in diesen Katalogen zu entdecken sind, für einen partizi­patorischen und situations­orientierten Fremdsprachenunter­richt zu nutzen. Der Inhalt des Otto-Kataloges 1995 z.B. umfaßt folgende Spar­ten:


      Junge Mode

      Aktuelle Mode

      Wäsche

      Kindermode

      Männermode

      Freizeit & Sport

      Heim & Haus

      Wohnen

      Haushalt

      High tech

      Service


    Natürlich ist der Welterfahrungsrahmen der großen Versandhaus­kata­loge auf die Domäne der kleinbürgerlich-mittelständischen Welt be­grenzt. Für die unmittelba­ren Zwecke eines Unterrichtspro­jekts ist das keine störende Beschränkung. Wer mehr Variation und Exotik in das Projekt bringen möchte, kann das mit Hilfe spezielle­rer Kataloge zu den verschiedensten Bereichen der Lebenswelt tun.

    Neben den Katalogen bietet sich natürlich auch die unübersehbare Fülle der Werbeprospekte an. (Wenn eine Gruppe auf Klassenrei­se nach Deutschland geht, kann man sie bergeweise mitnehmen.) Aber solche Entscheidungen muß man auch von der Zielgruppe abhän­gig machen.

    Die Beschreibungen der einzelnen Artikel im Warenkatalog enthal­ten viel spezielles Vokabular, dessen Erlernung für die Schüler nicht sinn­voll ist und das auch bei den meisten Mut­tersprachlern nicht zum aktiven Wortschatz gehört. Der passive verstehende Umgang mit der­artigem Sprachmaterial muß jedoch geübt werden. Die Wirt­schafts- und Warenwelt ist schließlich voll davon!

    Die erste Aufgabe bei der Arbeit mit einer Artikelbeschreibung ist, das Kernwort bzw. die Kernwörter zu finden, die in der Alltags­spra­che den abgebildeten Artikel bzw. seine Bestandteile bezeich­nen. Diese Kernwörter verbergen sich oft in einem ungewöhnlichen Kompositum und müssen von "überflüssigen" Be­stand­teilen befreit werden. Wir betrachten diese Problema­tik einmal an einem Beispiel­text:


      Trilobalanzug für Sie & Ihn. Oberteil:

      Stehkragen mit Reißverschluß, 2 Reißver-

      schlußtaschen. Kordel mit Kordelstop­pern

      am Taillenbund. Ärmel mit Bündchen und

      GO FOR IT-Stickerei. Großer Rücken­druck

      und Label vorne. Hinten länger. Kontrast-

      nähte. Netzfutter. Hose: Kordel­boxer­bund,

      Beinabschluß mit Bündchen und Reißvers­chluß.

      Kontrastfarbi­ge Nähte. 2-Seiten-Reißver-

      schlußtaschen. Label vorne. Gefüttert.

      100% Polya­mid. Futter Jacke: 100% Polyester.

      Hose: 65% Polyes­ter, 35% Baumwolle.

      blau/schwarz 767518 1

      rot/schwarz  767273 6

      Gr S(3), M(4/5) 99.-

      Gr L(6/7), XL(8) 115.- XXL(9) 132.-


      (Quelle: Otto-Katalog Frühjahr/Sommer 1995, S. 762)


    Die Syntax eines solchen Textes bereitet keine Probleme, da sie auf ein Mindest­maß reduziert ist. Dagegen behindern ungewöhnliche und komplizierte Komposi­ta wie "Trilobalanzug", "Kordelstop­per" oder "Kordel­boxerbund" das Verständ­nis. Die Schüler müssen auf die Suche nach den einfachen Begriffen gehen, die den beschriebe­nen Artikel in der Alltagssprache bezeichnen. Dabei hilft die Abbildung, die im Kata­log zu jedem Artikel vorhanden ist.

    Die Oberbegriffe in diesem Text sind "Anzug", "Oberteil" ("Jacke") und "Hose". Frequente Begriffe, die Bestandteile und Verarbei­tungs­aspekte des Anzugs bezeichnen, sind: "Kragen", "Reißver­schluß", "Bund­", "Stic­kerei", "Naht", "Fut­ter"/"gefüttert", "Ta­sche" und "Baum­wolle".

    Diese Wörter eignen sich zum Eintrag in die Liste, wobei jeweils der korrekte Artikel und die Pluralform hinzugefügt werden sollten. Das heißt: Wörterbuchar­beit. Da die Lernenden in Kleingruppen arbei­ten, können sie arbeitsteilig vorgehen: während der eine die Wörter aus­sucht, schlägt der andere nach. Nur müssen diese Funktionen auch einmal ausgetauscht werden.







[1]    Bei der Darstellung des Unterrichtsmodells "Erfinde eine(n) Deut­sche(n) handelt es sich um eine überarbeitete und erweiterte Fassung eines früher von mir veröffent­lichten Artikels (vgl. Groenewold 1989).
[2]    Das niederländische Verb "verwekken" bedeutet "zeugen".
[3]    Die Überschriften zu den fünf Adjektivgruppen stehen bei John/Gold­berg/Angleit­ner in englischer Sprache.

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