Reinhard Jirgl |
Cookie
Donnerstag, 28. März 2013
Mittwoch, 27. März 2013
Macht Platz fur Reinhard Jirgl – Alles von euch auf Erden
"Nichts von euch auf Erden": Welch ein
großartiger, Grauen-voller Roman! Szenen mit Entsetzlichkeiten, die nur mühsam
zu ertragen sind, wechseln mit Schilderungen von außerordentlicher Schönheit,
Kraft und Gewalt. Jirgl bedient sich vieler Motive aus der Antike, der Bibel,
der modernen und postmodernen Kultur: Muttermord, das biblische Buch Esra,
Spielbergs Indiana Jones und vieles andere mehr. Er überträgt sie in eine Zukunft des 26. Jahrhunderts, um unsere Gegenwart zu ertragen. Für Abwechslung ist gesorgt! Am Ende steht das Verschwinden der Menschen.
Und so ließen
sich noch Dutzende überwältigende oder erschreckende Besonderheiten auflisten.
Zwei der
schönsten Passagen: die Beschreibung des tropischen Gartens der Freundin des
Protagonisten, in dem das Paar dann seine erste Vereinigung erlebt. Erst also
der Garten in seiner pflanzlichen Pracht, dann das postgenitale Sexerlebnis im
26. Jahrhundert. Was das genau bedeutet, verrate ich nicht, aber es geht um
ungeahnte Körpersensationen, für die Jirgl unglaubliche Sprachergüsse und –zuckungen
bereithält, seitenlang (142-148). Die ganze Szene ist wahrscheinlich als
überhöhte Darstellung des jüdischen Laubhüttenfestes gedacht (Buch Esra!).
Ein anderes
Beispiel: die Beschreibung eines Ausflugs des Protagonisten auf der
lebensfeindlichen Marsoberfläche. Das sind Landschaftsbeschreibungen von einer
im wahrsten Sinne des Wortes überirdischen Schönheit und Rauheit. Auch diese
Szene hat einen Kulminationspunkt in der Begegnung mit einer menschenähnlichen,
aber metallisch-felsigen Struktur am Eingang einer Schlucht. Sie ähnelt in
ihrer Form dem Denker von Rodin, aber ihre wahre Natur bleibt ein Geheimnis.
Marspanorama |
Ich will
aber hier und heute eigentlich nur feststellen, dass ich mein Lesetagebuch zu
diesem Roman beende, da es nur immer wieder neue sprachliche und inhaltliche
Sensationen festhalten kann, die aber in ihrer Summe nicht zur Essenz des Ganzen
führen. Ich habe das Buch ausgelesen und bin davon beeindruckt wie von keinem
anderen deutschen Roman der letzten Jahrzehnte. Wenn ich dazu etwas schreiben
möchte, dann wird das ein langer Artikel, für den ich mich aber noch mit Jirgls
früheren Werken beschäftigen muss, deren Motive hier alle zurückkehren. Das
übersteigt zunächst einmal den Rahmen dieses Blogs.
Meine
Vermutung, dass es sich um einen BRD/DDR-Roman handelt, muss ich zum Teil zurücknehmen.
Jirgls Konzept geht um Dimensionen darüber hinaus. Und das ist offenbar auch
schon in seinen vorhergehenden Romanen (u.a.:) „ Die Stille“ (2009), „Die transatlantische
Mauer“ (2000) und „Hundsnächte“ (1997) der Fall, die ich alle bisher nicht
beachtet habe.
Ich empfehle
allen Lesern: Vergesst (oder vergesst nicht!) Ransmayr, Sebald, Krausser,
Kracht und all die anderen! Macht Platz (macht Leseplatz und
Ehrfurchtsdistanz!) für Reinhard Jirgl, den bedeutendsten deutschen
Schriftsteller der Gegenwart. Lest ihn, aber seid gewarnt: Einfach ist er
nicht! Und er ist gefährlich: Seine Sprache und Gewalt bringt euch an den Rand
der Existenz.
Hört ihm zu. Hier klingt noch alles ganz erträglich:
Sonntag, 24. März 2013
Reinhard Lakomy ist tot - Meine Jahre mit DT64
Gestern ist Reinhard Lakomy gestorben. Ich kenne seine
Lieder aus den siebziger Jahren. Wir haben damals in West-Berlin oft im DDR-Radio das Jugendstudio DT64 gehört: Puhdys,
Karat und so weiter. Lakomy hat später Kinderlieder gemacht. Ich sehe seinen
Namen heute zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder.
Aber sofort tauchte
ein Lied in meinem Kopf auf, das ich damals sehr gemocht habe: “Heute bin ich
allein” (1972). Kai Biermann hat mit dem Titel seines Nachrufs recht: “Lakomy war ein Gefühl”.
Hier ist das Lied, meine
kleine Hommage an Reinhard Lakomy:Freitag, 22. März 2013
Welttag der Poesie – Die GedichtMaschine
Da hab ich doch
ganz verschwitzt, dass gestern der Welttag der Poesie war. Den hole ich jetzt
nach mit einem fabelhaften Instrument, mit dem man aus jedem Prosatext ein
Gedicht machen kann. Hier ist die GedichtMaschine.
Ich hab’s einmal
mit zwei Absätzen aus meinem gestrigen Beitrag über Cro versucht. Bitteschön:
sondern auch du
bist cro
nicht nur das cro weitet
harten berliner pflaster wie sido
seine kreativ produktionen aus bietet
geöffnet kommt denn auch nicht
intelligenz zeigt sich auch beim
cro hat eine interessante einsicht
großen publikum erfolg haben will
phänomen vielleicht auch ein phantom
nicht nur das cro weitet
einsicht wer beim großen publikum
stuttgarter untergrunds cros intelligenz zeigt
nicht nur das cro weitet
harten berliner pflaster wie sido
seine kreativ produktionen aus bietet
geöffnet kommt denn auch nicht
intelligenz zeigt sich auch beim
cro hat eine interessante einsicht
großen publikum erfolg haben will
phänomen vielleicht auch ein phantom
nicht nur das cro weitet
einsicht wer beim großen publikum
stuttgarter untergrunds cros intelligenz zeigt
Donnerstag, 21. März 2013
Wir sind Cro. Widerstand ist zwecklos. – Mit Grüßen von GOETHE
Das neue Multi-Talent Cro hat das Beste aus Rap und Pop assimiliert und
produziert seit drei Jahren einen ganz spezifischen deutschen “Raop”-Stil, der national
wie international die Kids erobert.
Cro heißt eigentlich Carlo Waibel, kommt aus Stuttgart und ist erst 23. Seit 2009 hat er durch selbstproduzierte Mixtape-Videos und zum freien Download angebotene Lieder auf sich aufmerksam gemacht. Im Laufe des Jahres 2012 gelangten fünf seiner Single-Titel in die deutschen TOP-100-Charts. Seine Konzerte sind ausverkauft. Cro hat im letzten November den Bambi in der Kategorie Pop National bekommen.
Cro ist ein Phänomen, vielleicht auch ein Phantom. Cro hat
eine interessante ethnologische Einsicht: Wer beim großen Publikum Erfolg haben
will, muss eine Maske tragen. Darin war ihm der Rapper Sido schon
vorausgegangen, allerdings mit einer Totenkopfmaske, und die taugte nur zum
Rüpel-Image. Cro ist schlauer: Er trägt
eine Pandamaske. Mit dem Antlitz des beliebten Kinderbären und
Tierschutzsymbols hat er sich die Pforten zum Status des Weltkinderlieblings
geöffnet. Er kommt denn auch nicht vom harten Berliner Pflaster wie Sido und
Bushido, sondern von den sanften schwäbischen Hügeln Stuttgarts.
Cro heißt eigentlich Carlo Waibel, kommt aus Stuttgart und ist erst 23. Seit 2009 hat er durch selbstproduzierte Mixtape-Videos und zum freien Download angebotene Lieder auf sich aufmerksam gemacht. Im Laufe des Jahres 2012 gelangten fünf seiner Single-Titel in die deutschen TOP-100-Charts. Seine Konzerte sind ausverkauft. Cro hat im letzten November den Bambi in der Kategorie Pop National bekommen.
Cro |
Cro’s Intelligenz zeigt sich auch beim Konjugieren: Er sagt
nicht einfach nur “Ich bin Cro”, sondern auch “Du bist Cro” und “Wir sind Cro”.
Er gewährt uns die Assimilation, und schwupp tragen wir alle Pandamasken! Und
nicht nur das: Cro weitet seine kreativ assimilierbaren Produktionen aus und
bietet ab April bei H&M eine eigene Kollektion an, auch in den
Niederlanden! Cro-Klamotten für alle!
Ach, und Musik macht er ja auch. Eine Mischung aus Rap und
Pop, Raop also. Auf deutsch! Und sogar gereimt! Völlig gratis! Goethe, der noch
mit der nackten Faust (sic!) rapte, hätte in Cro, wenn nicht seinen Meister, so doch seine Mignon erkannt! Mignon
gehört im “Wilhelm Meister” zu einer Gruppe fahrender Akrobaten. Sie ist ein
jungenhaftes Mädchen oder ein mädchenhafter Junge - das ist bei Goethe nicht
ganz deutlich - der/die sehnsuchtsvolle Lieder singt, voller Fern- oder Heim- oder Wehweh: “Kennst du das Land, wo die
Zitronen blühn? Dahin möcht ich mit dir, mein Geliebter, ziehn.” Genau wie bei
Cro’s Video “Einmal um die Welt”. Cro bringt das klassische deutsche Ideal auf
die Höhe unserer Zeit:
Zum Mitlesen des Liedtextes und zur Fortsetzung des Beitrags bitte hier klicken:
Mittwoch, 20. März 2013
Weltgeschichtentag
Friedrich Schiller
Eine
großmütige Handlung aus der neuesten Geschichte
[…] Gegenwärtige Anekdote von zwei Deutschen – mit stolzer Freude schreib ich das nieder – hat ein unabstreitbares Verdienst: sie ist wahr. [..] Zwei Brüder, Barone von Wrmb., hatten sich beide in ein junges, vortreffliches Fräulein von Wrthr. verliebt, ohne daß der eine um des andern Leidenschaft wußte. Beider Liebe war zärtlich und stark, weil sie die erste war. Das Fräulein war schön und zur Empfindung geschaffen. Beide ließen ihre Neigung zur ganzen Leidenschaft aufwachsen, weil keiner die Gefahr kannte, die für sein Herz die schrecklichste war: seinen Bruder zum Nebenbuhler zu haben. Beide verschonten das Mädchen mit einem frühen Geständnis, und so hintergingen sich beide, bis ein unerwartetes Begegnis ihrer Empfindungen das ganze Geheimnis entdeckte.
Zur Fortsetzung hier klicken:
Dienstag, 19. März 2013
Jirgl auf Erden (5): Endlich etwas Konkretes
Nun liegt immerhin eine globale Inhaltsangabe von Rainer
Jirgls Roman “Nichts von euch auf Erden” vor und, begleitend dazu, ein Gespräch über das Buch im Deutschlandradio, in dem Helmut Böttiger von seinen
Leseerfahrungen berichtet. Böttiger ist sehr beeindruckt und prophezeit Jirgl
eine große Zukunft.
Schon wer - wie ich - das Buch erst halb gelesen hat, wird bei Böttigers Besprechung sagen: Aber da gibt es doch noch das und das und das und vor allem: eine ganz andere Ebene, denn dies ist ein unglaublich reichhaltiges Buch. Nach meinen ersten Eindrücken ist dies einer der bedeutendsten deutschen Romane der letzten Jahrzehnte.
Anflug auf den Mars |
Endlich etwas Konkretes, aber hilft es wirklich weiter?
Kein Wort bei Helmut Böttiger über die eventuelle Thematik
BRD-DDR, auf die ich in meinem Beitrag hingewiesen habe. Liege ich da etwa
verkehrt?
Eine der vielen sprachlich großartigen Passagen im Roman ist
die Rede, die der neue Machthaber vom Mars im “Haus der Sorge”, dem ehemaligen
Reichstagsgebäude, hält. Sie trägt den Titel “WIR SETZEN NEUEN ANFANG” und ist
eine rhetorisch glanzvolle Ansprache an die Repräsentanten Zentraleuropas. Der nach Generationen zur Erde zurückgekehrte Marsmensch erläutert ihnen darin knallhart das neue politische
und gesellschaftliche Programm mit den Folgen für jeden einzelnen (vgl. Nichts von euch auf Erden, S. 162-175).
Natürlich spricht hier nicht Gerhard Schröder, an den mich
die äußere Beschreibung des Marspräsidenten erinnert hatte, aber es ist der
Typus Schröder. Und natürlich geht es hier nicht um die deutsche Vereinigung
und die Unterschiede von Ossies und Wessies, sondern es geht um die
kolonialistische Überstülpung eines zusammengebrochenen Systems durch ein
übermächtiges anderes System, eine Situation, in der die Kolonisierten de facto
nichts mehr zu sagen haben. Ort und Art der Rede legen diesen Vergleich nahe.Schon wer - wie ich - das Buch erst halb gelesen hat, wird bei Böttigers Besprechung sagen: Aber da gibt es doch noch das und das und das und vor allem: eine ganz andere Ebene, denn dies ist ein unglaublich reichhaltiges Buch. Nach meinen ersten Eindrücken ist dies einer der bedeutendsten deutschen Romane der letzten Jahrzehnte.
Montag, 18. März 2013
Jirgl auf Erden (4): Die lebendig gebratene Gans
Beim Weiterlesen in Reinhard Jirgls neuem Roman “Nichts von
euch auf Erden” ist mir klar geworden, warum die Rezensenten noch schweigen. In
diesem Buch kehren einerseits alle formalen und inhaltlichen Elemente der
früheren Romane des Autors wieder; die sind schon irritierend genug, und man muss ein guter Kenner seiner Werke sein, um damit umzugehen (ich bin das nicht!). Durch
die Gattungsverfremdung der Science fiction erhalten diese Elemente dann noch
einen besonders exotischen und oft grausigen Dreh.
Dies ist ein Buch voller schrecklicher und bewegender Dinge,
geschrieben in einer außergewöhnlich kraftvollen und kreativen Sprache. Es hat
mich gepackt, und ich brauche Zeit dafür.
Ein paar kleinere Beobachtungen werde ich weiterhin präsentieren, heute zum Beispiel das Rezept der lebendig gebratenen Gans, die sich der Protagonist in einem Restaurant auf dem Erdmond bestellt. Es steht in einem tabletartigen “Speisenbuch” mit “mikroskopisch dünnen elektrischen Leitbahnen, die 1zelne Buchstaben zu Worten und Sätzen verbanden. Und so gestaltete sich das Folgende nicht vor meinen Augen, sondern direkt=in-meinem-Gehirn:”
Ein paar kleinere Beobachtungen werde ich weiterhin präsentieren, heute zum Beispiel das Rezept der lebendig gebratenen Gans, die sich der Protagonist in einem Restaurant auf dem Erdmond bestellt. Es steht in einem tabletartigen “Speisenbuch” mit “mikroskopisch dünnen elektrischen Leitbahnen, die 1zelne Buchstaben zu Worten und Sätzen verbanden. Und so gestaltete sich das Folgende nicht vor meinen Augen, sondern direkt=in-meinem-Gehirn:”
"Nimm eine lebende Gans, berupfe sie bis auf den Hals
und Kopf, mache rings um sie ein Feuer, nicht allzu nahe, auf daß sie nicht
ersticke, sondern allgemach brate. Setze zu ihr ein Gefäß von Wasser, darunter
Honig und Salz vermischt, damit sie oft möge trinken. Darnach nimm Aepfel,
schneide sie klein, koche sie in einer Bratpfanne, beträufle damit oft die
Gans, daß sie desto eher gebraten werde, rücke das Feuer näher zu ihr, aber
doch eile nicht zu geschwind. Und wenn sie anhebt zu kochen, läuft sie inwendig
im Feuer umher und begehrt zu fliegen; da sie es wegen des Feuers nicht zuwege
bringen kann, trinkt sie ohne Unterlass, sich zu laben und zu kühlen. Und wenn
sie heiß geworden, bratet und kocht sie auch inwendig, du mußt ihr aber ohne
Unterlaß das Haupt und Herz mit einem feuchten Schwamm erkühlen. Und wenn sie
anhebt zu zappeln und zu fallen, so nimm sie hinweg vom Feuer, lege sie auf
eine Schüssel und gib sie den Gästen zu essen, so ist sie gebraten und lebt doch
noch und schreit, wenn man von ihr schneidet."
(Reinhard Jirgl, Nichts von euch auf Erden, 292)
Wahrlich ein verstörendes Rezept!
Jirgl hat von seinem ersten Roman an die Methode der
Textmontage verwendet, bei der er längere Zitate aus unterschiedlichsten Werken
in eine neue Umgebung stellt und damit erschreckende Wirkungen erzielt. Hier
gibt er einem kuriosen Text des siebzehnten Jahrhunderts die grausige Realität
einer Cyberillusionen erzeugenden SF-Küche in einer Kaverne auf dem Mond, wo
dieses Gericht real auf den Tisch kommt und verspeist wird. (Das wird auch noch
ausführlich beschrieben.)
Jirgl nennt seine Quelle nicht. Sie ist aber auf Google
schnell gefunden. Der Text stammt aus dem "Kunst- und Wunderbüchlein zur wohlbestellten Haushaltung" (Frankfurt am Main 1625) des Württemberger
Schriftstellers Balthasar Schnurr (1572-1644).
Samstag, 16. März 2013
Judith Schalansky in “Hier is… Adriaan van Dis”
Kaum ist man mal zwei Tage weg, hat man auch schon was
verpasst. Aber es gibt ja “uitzending gemist” und so konnte ich mir die einmalige
Wiederkehr der legendären Sendung “Hier is... Adriaan van Dis” doch noch ansehen. Das
erste Interview führt Adriaan van Dis auf Deutsch mit der Autorin und
Buchgestalterin Judith Schalansky. Ihr Roman “Der Hals der Giraffe” erzählt die
Geschichte einer ostdeutschen Biologielehrerin und ist gerade unter dem Titel “De
lessen van mevrouw Lohmark” auf Niederländisch erschienen.
Ein dreifacher Tusch für Adriaan van Dis für den Mut, das Interview auf Deutsch zu halten.
Judith Schalanskys Künste als Buchgestalterin habe ich in
Café Deutschland schon einmal gewürdigt.
Mittwoch, 13. März 2013
Jirgl auf Erden (3): Der Mann vom Mars
Im “Haus der Sorge” findet die große Versammlung der Marsianer mit den
Erdmenschen statt. Die Abgesandten vom Mars haben offenbar die Macht
übernommen. Der junge Protagonist des Romans entdeckt in der Vorhalle neue
Kopfskulpturen:
“Auf zentralem Platz im Entrée thront auf quaderförmigem hellen
Marmorsockel das Kopf-Bildnis 1 mit funkelnden Augen starrblickenden Mannes, in
seinen mittleren Jahren zu Stein gefügt. Die gravierte Frisur aus dünnen,
schieferartigen Locken; über der Nase zwei senkrechte, tiefe Falten; um den
Mundwinkel, versteint, 1 eisig-ironischer Zug (-,). So blickt dieser überlebensgroß
gestaltete Kopf von der Höhe seines Sockels auf die-Besucher herab. Das
Material dieser Büste ist Porphyr, aus hellem Schildpatt 1gelegt die
hervorstechenden Augen. Dem Vernehmen nach stellt diese Büste den Präsidenten des
‘Senats der Fünf’ dar: das Regierungsoberhaupt für die Marsstadtschaft Cydonia
I.”
Zum Vergleich: Jörg Immendorff, Gerhard Schröder |
(Reinhard Jirgl, Nichts von euch auf Erden, 158)
Der Präsident vom Mars. Ja, hoffentlich wird er es nicht übertreiben.
Jirgl auf Erden (2): Das “Haus der Sorge”
So fügt sich eins zum anderen. Hoffentlich wird er es nicht
übertreiben: Als konkretestes Relikt unserer Zeit präsentiert uns Reinhard Jirgl in seinem utopischen Roman ein
großes Gebäude im Zentrum der “Hauptstadt von Zentraleuropa”:
“DAS ‘HAUS DER SORGE’ ist ein wuchtiges Gebäuderelikt aus Sandstein, erbaut im späten 19. Endzeitjahrhundert, somit Heute über sechshundert Jahre alt, unverrückbar, unerfindbar, unvergessbar in seiner steinernen Beharrlichkeit. […] Dem Entrée gegenüber greift in die Empfanghalle der Aufstieg einer breiten Freitreppe hinein, die in halber Höhe, von einem Altan ausgehend, sich nach beiden Seiten jeweils in eine freischwebend den Raum durchquerende Treppe teilt. […] Jede dieser Treppen führt ihrerseits in die Höhe zur nächsten Etage auf 1 kleinen, mosaikgepflasterten Altan, der aus den Säulengalerien hervorstrebt. Von-dort-aus in die Höhe führend und so weiter & so höher, wobei diese immer schmaler werdenden Treppenzüge für die Formung des gesamten Gebäudes als gigantischen Kegelstumpf gewissermaßen das innenwandige Gerüst abgeben.”
“DAS ‘HAUS DER SORGE’ ist ein wuchtiges Gebäuderelikt aus Sandstein, erbaut im späten 19. Endzeitjahrhundert, somit Heute über sechshundert Jahre alt, unverrückbar, unerfindbar, unvergessbar in seiner steinernen Beharrlichkeit. […] Dem Entrée gegenüber greift in die Empfanghalle der Aufstieg einer breiten Freitreppe hinein, die in halber Höhe, von einem Altan ausgehend, sich nach beiden Seiten jeweils in eine freischwebend den Raum durchquerende Treppe teilt. […] Jede dieser Treppen führt ihrerseits in die Höhe zur nächsten Etage auf 1 kleinen, mosaikgepflasterten Altan, der aus den Säulengalerien hervorstrebt. Von-dort-aus in die Höhe führend und so weiter & so höher, wobei diese immer schmaler werdenden Treppenzüge für die Formung des gesamten Gebäudes als gigantischen Kegelstumpf gewissermaßen das innenwandige Gerüst abgeben.”
(Nichts von euch auf Erden, 158f.)
Dienstag, 12. März 2013
Reinhard Jirgl, Nichts von euch auf Erden: BRD und DDR, kosmosschwer!
Natürlich habe ich Reinhard Jirgls neuen Roman nicht liegen
lassen können und schon mal hundert Seiten hineingelesen, 110, 120, 130… Da kam
ein furchtbarer Verdacht in mir auf:
“Meine Faszination war wohl nicht zuletzt entzündet von der bohrend-intensiven Auseinandersetzung mit der Schrott-Welt namens DDR, die uns der 1953 in Ost-Berlin Geborene [Jirgl] ‘aufhob’ im Hegelschen Doppelsinn des Wortes. Von diesem Mini-Kosmos hat Jirgl sich nun in seinem neuen Roman gänzlich gelöst.”
Pustekuchen! Jirgl hat ganz im Gegenteil diesen Mini-Kosmos in
seinem neuen Roman zu einem Maxi-Kosmos aufgebläht und uns die “Schrott-Welt” der
DDR in einer “kosmosschweren” Parabel aufgehoben. “Damit wir nicht vergessen das Land, das in den Abend gehend Dienacht
betrat”: so die erste Zeile des Romans.
Was wäre, wenn mit dieser episch breit ansetzenden utopischen Erzählwelt,
die uns die Geschichte der kommenden fünf Jahrhunderte vorführt, in denen sich
ein durch Genmanipulation befriedeter Teil der Menschheit auf der Erde und ein
agressiver, dynamischerer Teil auf dem Mars weiterentwickelt hat, was wäre,
wenn mit dieser Erzählwelt eine wild auswuchernde Parabel des geteilten
Deutschland beabsichtigt ist?
Fritz Raddatz hat sich nämlich von Jirgl aufs falsche Gleis
lenken lassen, als er in der immer noch einzigen größeren Rezension tief enttäuscht schrieb:“Meine Faszination war wohl nicht zuletzt entzündet von der bohrend-intensiven Auseinandersetzung mit der Schrott-Welt namens DDR, die uns der 1953 in Ost-Berlin Geborene [Jirgl] ‘aufhob’ im Hegelschen Doppelsinn des Wortes. Von diesem Mini-Kosmos hat Jirgl sich nun in seinem neuen Roman gänzlich gelöst.”
Reinhard Jirgl |
Der Roman zoomt nach den episch erzählenden Teilen auf den Tag
im 25. Jahrhundert ein, an dem die Mars-Menschen auf die Erde zurückkehren. Just
in jener Nacht wird die “Imagosphäre” zerstört, die die Erdmenschen vor den Unbilden
der Natur beschützt und unter einer Art Kontrollschirm gehalten hat. Der Leser
erlebt den Vorgang aus der Perspektive der 25jährigen Hauptfigur (die
Orthographie ist Jirgls Spezialität):
“!Welch gewandeltes
Bild, !welch Anblick: Auch jetzt füllt den Platz Einegroßemenge Menschen,
vermutlich auch sie auf der Suche nach Demfehler im kommunalen Großrechner,
unterhalb dieser Esplanade stationiert. ?Weshalb
aber harren sie hier=?oben aus. Die meisten offenbar aus dem Schlaf
gerissen, ungeschminkt nachlässig die Leiber mit Irgendkleidungsstücken dürftig
verhüllt, drängen sie dichtandicht zu 1ander, - schweigend kein Laut – und der
Meisten Köpfe gehoben, dorthin wo in Hundertemetern über uns bis vor-Kurzem noch
die Imagosfäre ausgespannt schwebte. -? Warum ist Unser=Himmel ?erloschen.”
(Jirgl, Nichts von euch auf Erden, 129)
Das ist die Nacht des Mauerfalls! Seite 129. Solange habe
ich gebraucht, um darauf zu kommen! Das zeigt das Erzählte in einem neuen Licht.
Jirgl könnte zwei literarische Utopien als Vorbilder für
seinen Einfall benutzt haben: Alfred Döblins “Berge, Meere und Giganten” (1924)
und Kurd Lasswitz’, “Auf zwei Planeten” (1897). Um meine Hypothese zu
untermauern, werde ich in diesem Blog ein Lesetagebuch führen.
Sonntag, 10. März 2013
Der Film “Stellet licht”, die Russlandmennoniten und das Plautdietsch
In unserem privaten Filmclub habe ich einen Film und eine
damit verbundene ethnisch-religiöse Minderheit kennengelernt, die mir bisher
völlig unbekannt waren. Der langsame und ruhige Film “Stilles Licht” (2007) des
mexikanischen Regisseurs Carlos Reygadas handelt von einem Liebesdrama in der
mennonitischen Gemeinde von Cuauhtémoc in Mexiko.
Das Besondere an dem Film ist die völlige Abwesenheit negativer Emotionen und das, obwohl die Handlung mit Ehebruch und Tod doch genug Anlass dazu gäbe. Oder auch eine Familie mit sechs Kindern: kein Streit weit und breit! Leben im Einklang mit der Umgebung und der Natur: die perfekte bildliche und handlungsmäßige Umsetzung der mennonitischen Lebensregeln.
Der historische Hintergrund läuft übrigens parallel zum Pennsylvania Dutch bei den Amish, über das ich anlässlich des Romans “Schau heimwärts, Engel” geschrieben hatte.
Von den weltweit etwa 500.000 Mennoniten, die Plautdietsch sprechen, leben seit 1990 etwa 200.000 in Deutschland. Diese in der Sowjetunion jahrzehntelang grausam verfolgte Minderheit ist nach dem Verschwinden des Eisernen Vorhangs nahezu geschlossen nach Deutschland ausgewandert, wo sie als Russlanddeutsche Anspruch auf die deutsche Staatsbürgerschaft hatten.
Die Gesamtzahl der ab 1990 nach Deutschland emigrierten Russlanddeutschen beträgt mehr als zwei Millionen. Bei 10% von ihnen handelt es sich also um Russlandmennoniten, die heute vor allem im Ruhrgebiet leben und dort auch ihre religiösen und kulturellen Organisationen haben.
Vom Ausmaß und vom vorhergehenden Leid dieser Völkerwanderung hat man in den letzten zwanzig Jahren nicht sehr viel gehört.
Das Besondere an dem Film ist die völlige Abwesenheit negativer Emotionen und das, obwohl die Handlung mit Ehebruch und Tod doch genug Anlass dazu gäbe. Oder auch eine Familie mit sechs Kindern: kein Streit weit und breit! Leben im Einklang mit der Umgebung und der Natur: die perfekte bildliche und handlungsmäßige Umsetzung der mennonitischen Lebensregeln.
In Mexiko gibt es heute ungefähr 25.000 Mennoniten, die
ihren pazifistischen Glauben mehr oder weniger orthodox und
modernitätsfeindlich leben. Ihre Vorfahren sind nach Einführung der allgemeinen
Wehrpflicht in Russland 1870 vor allem in die USA eingewandert und dann zum
Teil nach Mexiko gelangt. Als gemeinsame Sprache brachten sie das Plautdietsch
mit, eine Mischung aus Deutsch, Friesisch und Niederländisch, die dort noch
heute neben dem Spanischen gesprochen wird. Der Film “Stilles Licht” ist in
dieser Sprache gedreht, was ihm einen zusätzlichen, befremdlichen Akzent gibt:
Je länger man zuhört, desto mehr versteht man, obwohl man das Gehörte keiner
bekannten Sprache zuordnen kann.
Die Medien - und auch wir - hatten eine lebhafte Diskussion zu dem Film.
Von den weltweit etwa 500.000 Mennoniten, die Plautdietsch sprechen, leben seit 1990 etwa 200.000 in Deutschland. Diese in der Sowjetunion jahrzehntelang grausam verfolgte Minderheit ist nach dem Verschwinden des Eisernen Vorhangs nahezu geschlossen nach Deutschland ausgewandert, wo sie als Russlanddeutsche Anspruch auf die deutsche Staatsbürgerschaft hatten.
Die Gesamtzahl der ab 1990 nach Deutschland emigrierten Russlanddeutschen beträgt mehr als zwei Millionen. Bei 10% von ihnen handelt es sich also um Russlandmennoniten, die heute vor allem im Ruhrgebiet leben und dort auch ihre religiösen und kulturellen Organisationen haben.
Vom Ausmaß und vom vorhergehenden Leid dieser Völkerwanderung hat man in den letzten zwanzig Jahren nicht sehr viel gehört.
Samstag, 9. März 2013
Ypke Gietema ist tot
Eine der konstantesten Erscheinungen im Groninger Altstadtbild war der
ehemalige sozialdemokratische Stadtrat Ypke Gietema (PvdA). Viele nennen ihn
noch heute den „Wethouder“ (Gesetzeshüter), was die offizielle niederländische
Bezeichnung für „Stadtrat“ ist.
Ypke ist Friese und das steht für Eigensinnigkeit. Sein Name spricht sich „Iepke“ und ist natürlich auch friesisch. Eigentlich können sich Groninger und Friesen nicht ausstehen, es sind ja zwei benachbarte Provinzen, und dann ist das so. Und Ypke war ein Friese aus dem Bilderbuch.
1992 übernahm Ypke die politische Verantwortung für irgendeinen Finanzierungsskandal und trat zurück. Seitdem war er Rentner und ging durch seine Stadt (kein Auto, kein Fahrrad: er läuft, wie ich). Er und seine schöne Frau (und sein Hund) gehörten deshalb zum täglichen Stadtbild, nach ihrer Krankheit sah man ihn häufiger alleine. Er bewegte sich von Kneipe zu Kneipe (aber in strenger Auswahl nur die guten, also vier bis fünf, darunter der Sleutel und das Wolthoorn) und machte ein Schwätzchen.
Ypke ist Friese und das steht für Eigensinnigkeit. Sein Name spricht sich „Iepke“ und ist natürlich auch friesisch. Eigentlich können sich Groninger und Friesen nicht ausstehen, es sind ja zwei benachbarte Provinzen, und dann ist das so. Und Ypke war ein Friese aus dem Bilderbuch.
Ypke hat als Stadtrat für Raumordnung von 1978-1992 zum Gelingen mehrerer
spektakulärer und schöner Bauprojekte in Groningen beigetragen. Dazu gehört
auch das Stadtmuseum, das gegen heftigen konservativen Widerstand als
schrill-schräger postmoderner Bau ins Wasser am Rande der Altstadt gesetzt
wurde und internationale Berühmtheit erlangt hat. Ich kam in der Zeit, als ich
täglich nach Leeuwarden (Friesland) fahren musste, monatelang an der Baustelle
gegenüber dem Bahnhof vorbei und habe mich auf den Augenblick gefreut, wo es
fertig wurde (1994).
1992 übernahm Ypke die politische Verantwortung für irgendeinen Finanzierungsskandal und trat zurück. Seitdem war er Rentner und ging durch seine Stadt (kein Auto, kein Fahrrad: er läuft, wie ich). Er und seine schöne Frau (und sein Hund) gehörten deshalb zum täglichen Stadtbild, nach ihrer Krankheit sah man ihn häufiger alleine. Er bewegte sich von Kneipe zu Kneipe (aber in strenger Auswahl nur die guten, also vier bis fünf, darunter der Sleutel und das Wolthoorn) und machte ein Schwätzchen.
Nach dem Ende des legendären Sleutel
sah man ihn regelmäßig zusammen mit Koos
(dem ehemaligen Wirt) auf der kleinen Terrasse vor einem neuen Café, das zu
Anfang des Rauchverbots unter dem sinnigen Namen „De Sigaar“ eröffnet worden
war. Koos, der alte Groninger, hat mal ein Antifriesenlied gemacht: „Friesen
sind schlecht“, ein ironisches Spiel mit einem seiner besten Kunden.
Man konnte also beinahe nicht durch die Altstadt laufen, ohne Ypke zu
begegnen. Wenn wir ihn trafen, gab es immer dasselbe Spielchen: Er grüßte
freundlich und wandte sich – mit einem Augenzwinkern in meine Richtung – an G.,
machte ihr ein Kompliment, wie schön und außergewöhnlich sie doch sei und wie
schade, dass sie schon vergeben ist. G. antwortete mit Komplimenten zu seiner
politischen Vergangenheit. Über mehr haben wir eigentlich nie gesprochen. Aber
wir sind uns all die Jahre sehr nahe gewesen.
Ypke ist heute gestorben.
Freitag, 8. März 2013
Trude Herr, Ich will keine Schokolade!
Trude Herr war eine super Frau! Vielen sagt der Name nichts
mehr. Zeit für die Jukebox: “Ich will keine Schokolade”(1959) in einer Aufnahme
aus dem Jahr 1965...
Wer den Text mitlesen will, kann hier klicken:
Zum Frauentag
“Die Frauen haben den Mann nur verschieden interpretiert;
es kömmt drauf an, ihn zu verändern.”
(Alte Weisheit)
es kömmt drauf an, ihn zu verändern.”
(Alte Weisheit)
Donnerstag, 7. März 2013
Laing: Drei Frauen im Paradies
Das Erscheinen der ersten CD der Berliner Frauenpopgruppe
“Laing” mit dem Titel “Paradies naiv”
hat zum Rauschen im deutschen Blätterwald geführt. So bin ich nun endlich auch
darauf aufmerksam geworden. Ich kannte ja nicht einmal ihr berühmtestes Lied
“Morgens immer müde”. Und ich wurde auch erst wach, als ich las, dass sie es
von Trude Herr abgeguckt haben.
Aber bleiben wir erst mal bei Laing: Die schreiben auch
eigene Dinge. Nach ein paar Kostproben auf YouTube habe ich mich für “Neue
Liebe” entschieden: Das gefällt mir wirklich!
Ernst-Wilhelm Händler, Der Überlebende: Noch ein Gegenwartsroman im SF-Modus
Wupps, schon wieder einer: Wieder bedient sich einer der
wichtigsten deutschen Gegenwartsautoren zumindest ansatzweise eines
Science-Fiction-Motivs: der Entwicklung intelligenter Roboter. Aber auch wenn
es darum nicht eigentlich geht und das einzige wirkliche
Science-Fiction-Element in dem Roman der fertiggestellte neue Flughafen
Berlin-Brandenburg ist, setzt sich hier doch ein Trend fort, den ich letztens angezeigt habe.
Im wesentlichen ist dieser Roman ein Komplementärbuch zu
Rainald Goetz’ ”Johann Holtrop”.
Die erste Rezension dazu findet sich wieder in der “Welt”.
Mittwoch, 6. März 2013
Literaturbeilagen im März 2013
Vom 14.-17. März findet die Leipziger Buchmesse 2013 statt.
Im Vorfeld bringen verschiedene Zeitungen eine
Literaturbeilage, zum Beispiel:
Die FAZ am Samstag, dem 9. März
Die FAS (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung) am 10. März
Die Zeit am Donnerstag, dem 14. März
Dienstag, 5. März 2013
Wohnen an der Berliner Mauer: Der Leuschnerdamm
Die exotischste
Straße, in der ich je gewohnt habe, war der Leuschnerdamm in Berlin-Kreuzberg
zur Zeit der Teilung: die Mauer verlief längs in der Straßenmitte und teilte
den Leuschnerdamm in eine Hälfte West und eine Hälfte Ost. Da ich im Souterrain
wohnte, hatte ich immer nur den Blick auf die Mauer in fünf Meter Entfernung.
Was dahinter lag, konnte ich nicht sehen.
Eingang zum Leuschnerdamm |
Das kellerartige
Souterrain mit Außentoilette im Hinterhof würde heute keiner mehr als Wohnung
akzeptieren. Ich teilte die drei Räume, von denen zwei fensterlos waren, mit
meinem italienischen Freund Franco G. Franco hatte die Decke des Wohnzimmers
mit Aluminiumfolie bekleidet, um für etwas mehr Licht zu sorgen. Er war es
auch, der die Mauer an dieser Stelle mit ein paar bunten Blumen bemalt hat.
Damit war er 1968 einer der ersten Mauermaler überhaupt. Die vollständige
Bedeckung mit Graffiti kam erst später.
Wir heizten fast
das ganze Jahr durch mit einem schlecht funktionierenden Ölofen, dessen Ruß mir
Asthmaanfälle besorgte. Ich hatte mir in dem Sommer in den Kopf gesetzt, mein
Graecum zu machen, um Theologie studieren zu können. Die Kurse waren
frühmorgens am anderen Ende von Westberlin. Ein Theologe bin ich dann auch
nicht geworden.
An der Ecke
Leuschnerdamm/Waldemarstraße befand sich damals das „Litfin“, eine Kneipe, in
der es die besten halben Hähnchen von ganz Berlin gab. An dem Mythos muss was
dran gewesen sein, denn noch heute gibt es dort unter dem neuen Namen „Henne“
eine Gaststätte, die sich ihrer Hähnchen rühmt und auf ihrer Website stolz von
der Geschichte des Hauses berichtet.
Als ich nach dem
Mauerfall zurückkam, habe ich die Straße und die ganze Gegend nicht
wiedererkannt. Sie liegt heute in einer weitläufigen und abwechslungsreichen
Stadtlandschaft, in der das damals zugeschüttete Engelbecken wieder erstanden
und der ganze Bereich zwischen
Oranienplatz und St. Michaelskirche (der
ehemalige Luisenstädter Kanal) zu einer Grünanlage geworden ist.Das Engelbecken |
Montag, 4. März 2013
Fritz Raddatz über Jirgls Roman “Nichts von euch auf Erden” – eine Null-Information
Jetzt ist die erste größere Rezension zu Reinhards Jirgls
neuem Roman “Nichts von euch auf Erden” (2013) erschienen. Sie stammt von Fritz J. Raddatz, den die Älteren unter uns
noch als Feuilletonchef der ZEIT kennen.
Meine eigene Rezension ist hier.
Ich hatte in Café Deutschland vor zwei Wochen auf die
wachsende Zahl literarischer Utopien im deutschen Sprachraum hingewiesen.
Jirgls Roman handelt von der Auswanderung eines Teils der Menschheit im 23.
Jahrhundert auf den Mars und von der späteren Rückwanderungsbewegung: ein
Gegenwartsroman im Kleid der Science fiction.
Ich werde noch Wochen oder Monate brauchen, bis ich dieses
dicke und sperrige Buch lesen kann und habe mir von einer Rezension erhofft,
etwas mehr darüber zu erfahren. Raddatz gibt sich ausführlich als Jirgl-Fan zu
erkennen (Jirgls frühere Romane handeln vom Leben in der DDR) und zeigt sich
höchst irritiert, dass es jetzt um etwas ganz Anderes geht.
Ich bekomme durch diese Rezension weniger Informationen zu
diesem Buch als durch den Klappentext des Verlages. Mir fällt immer wieder mal
auf, dass Rezensenten wenig Zeit für ihre Texte haben und manchmal das
betreffende Buch nicht sorgfältig lesen. Dieser Zeitdruck kann aber beim
82jährigen Raddatz kaum eine Rolle gespielt haben. Und doch: Er weist nur auf ein
paar Stellen am Anfang des Romans hin, erklärt den Autor für unfähig, eine
fiktive Zukunftswelt zu beschreiben, und das war’s.
Vielleicht sollte die Tageszeitung “Die Welt”, die ihm dieses
Podium bietet, etwas mehr auf den Sinn und Zweck von Rezensionen achten. Raddatz
ist vielleicht zu alt, um außer an sich selbst auch noch an ein Publikum zu
denken.Meine eigene Rezension ist hier.
Freitag, 1. März 2013
Rainald Goetz, Johann Holtrop oder Der Kältetod des Romans
Rainald Goetz: Das ist, als ob Thomas Bernhard und Elfriede
Jelinek einen ungewollten und ungeliebten Sohn gehabt hätten, der in seiner Verzweiflung , in seinem unbändigen
Willen, es beiden, Papa und Mama, recht zu machen, ihnen ebenbürtig, ja ihnen
überlegen zu sein, den großen Roman seiner Zeit schreiben wollte und diesen mit
“Johann Holtrop” (2012) nun auch vorgelegt hat, eine eiskalte Erzählung vom
Kapitalismus der Nuller Jahre, in der die Wut des Autors immer wieder zwischen
den Zeilen hervorquillt; der passende Gegenwartsroman zu Schirrmachers “Ego"-Buch.
Ich selbst predige ja auch seit längerem, dass ich die ewigen DDR-Erinnerungs- und Vergangenheitsbewältigungsromane satt bin, die seit Jahren die Buchpreise abräumen. Nach meiner Lektüre von “Johann Holtrop” kann ich nur zustimmen, dass dieser Roman preiswürdig ist, und das obwohl ich das Buch nicht mag. Ich stimme Volker Weidermann zu: Es ist so kalt.
Eine kleine Kostprobe:
“Holtrop könnte jeden […] überzeugen, dass etwas Schöneres
gar nicht vorstellbar wäre, als zwischen sieben und acht Uhr früh über diese Ostautobahn
zu brausen, eng im Pulk mit all den anderen Verrückten, Stoßstange an
Stoßstange hintereinander her, siebenfacher ABS, ixfacher Safeassistent,
Driveself, Airbag allseits, und jeder auf die Art vollgas in seiner eigenen
rasenden Einzelzelle unterwegs und mit anderen Absichten, Hoffnungen,
Urdringlichkeiten befasst und davon gejagt, jeder anders verrückt und alle
zusammen doch auch perfekt koordiniert bei Tempo 180. So fetzte Holtrop also
durch dieses kranke Mitteldeutschland dahin, ostwärts, hoch, tief, runter,
rüber, weiter. Und der ganze Osten schnaubte, schniefte Rotz und Wasser,
brodelte.”
Rainald Goetz, Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft
(2012) 32
Man hört manche Klage, dass dies der beste Roman des letzten
Jahres sei, ein wirklicher Gegenwartsroman, der auch den Deutschen Buchpreis
verdient gehabt hätte, es aber leider nur bis auf die Longlist geschafft hat.Ich selbst predige ja auch seit längerem, dass ich die ewigen DDR-Erinnerungs- und Vergangenheitsbewältigungsromane satt bin, die seit Jahren die Buchpreise abräumen. Nach meiner Lektüre von “Johann Holtrop” kann ich nur zustimmen, dass dieser Roman preiswürdig ist, und das obwohl ich das Buch nicht mag. Ich stimme Volker Weidermann zu: Es ist so kalt.
Abonnieren
Posts (Atom)