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Dienstag, 23. Oktober 2012

Lee Miller 1945: Die Toten im Leipziger Rathaus

Einige der spektakulärsten Fotos von Lee Miller zeigen den Gruppenselbstmord im Leipziger Rathaus, der sich am 18. April 1945 ereignet hat. Der Bürgermeister Alfred Freyberg, ein NSDAP-Mitglied mit niedriger Mitgliedsnummer, und der Stadtkämmerer Kurt Lisso hatten sich, jeweils mit Frau und Tochter, vergiftet, kurz bevor die amerikanischen Truppen in Leipzig einzogen. Im Rathaus befanden sich noch weitere Leichen.

Kurt Lisso mit Frau und Tochter

Die Filmdokumentaristen der US-Armee haben die Situation beim Einzug in Leipzig in Farbe festgehalten:

 
Im Internet herrscht einige Verwirrung bezüglich der Identität der auf den Fotos abgebildeten Leichen und auch im Hinblick auf die Zuschreibung der Bilder an die beiden amerikanischen Fotografinnen, die am 19. und 20. April ihre Aufnahmen machen konnten: erst Lee Miller am 19. und danach Margaret Bourke-White am 20. April, kurz bevor die Leichen weggeschafft wurden.

Während Lee Miller beziehungsweise ihr Begleiter den Stadtkämmerer mit Frau und Tochter irrtümlicherweise für die Bürgermeisterfamilie gehalten haben, gibt Margaret Bourke-White später in ihrem Buch “Deutschland April 1945” eine korrekte Beschreibung:
“Am frühen Morgen des 20. April, eines Freitags, stürzte mein LIFE-Kollege Bill Walton zu mir herein. ‘Fahren Sie schnell zum Rathaus, ehe sie es aufräumen’, sagte er. ‘Da drin sieht es aus wie in Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett!’ […]
Wir standen in einem überladen eingerichteten Büro, mit sentimentalen Landschaftsbildern an den Wänden und schweren Möbeln, wie sie die Deutschen im neunzehnten Jahrhundert für luxuriös hielten. Auf den massiven Ledermöbeln lehnte eine Familiengruppe, die so intim und lebendig wirkte, dass man kaum glauben konnte, dass diese Menschen nicht mehr am Leben waren. Am Schreibtisch saß Dr. Kurt Lisso, den Kopf in die Hände gelegt, als ob er ausruhen wollte. Auf dem Sofa lag seine Tochter und in dem dick gepolsterten Armsessel saß seine Frau. Die Ausweise und Dokumente der ganzen Familie waren ordentlich auf dem Schreibtisch ausgebreitet, daneben stand die Flasche Pyrimal, mit dem sie sich offensichtlich umgebracht hatten. Dr. Lisso war Stadtkämmerer und Schatzmeister der Stadt Leipzig gewesen, Parteifunktionär mit einer jener niedrigen Mitgliedsnummern, die besagte, dass er es zu den Getreuen der ersten Stunde gebracht hatte. In einem Nachbarzimmer saßen ebenso lebensecht Alfred Freiberg, der Oberbürgermeister, mit seiner Frau und seiner hübschen Tochter Magdalena im Kreis. Auch andere Zimmer in der Nähe bargen solch totenstille und schweigsame Gestalten. Am auffallendsten war der Befehlshaber des Volkssturms in seiner schönen Uniform und mit einem Hitlerbild neben sich.”

Walter Kempowski, Das Echolot. Abgesang ’45. Ein kollektives Tagebuch (München 2005), 49-50

Ich habe diesen Text in Walter Kempowskis Echolot-Projekt gefunden, als ich mich auf mein Seminar zum Jahr 1945 vorbereitete. Lee Miller war mir bekannt, von Margaret Bourke-White habe ich hier zum ersten Mal gehört. Weitere Großaufnahmen zu dem Geschehen will ich hier nicht zeigen. Sie finden sich im Internet.
 

13 Kommentare:

  1. Vielen Dank für die Aufklärung. Fand es irriterend fast das gleiche Foto in einer Lee-Miller-Ausstellung und nun vor kurzem in der Bourke-White-Ausstellung zu sehen.

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  2. Danke für die Hinweise zur Identität der abgebildeten Toten, die nur als "Selbstmörder im Rathaus von Leipzig" von Margret Brourke-White in der "Geschichte der Fotografie" Herausgeber Michel Frizot bezeichnet werden.
    Ich möchte aber nicht die "künstlerische" Ungenauigkeit der Fotografen, sondern die genaue Personenangabe mit ihrer Tätigkeit u. Titeln.
    So kann ich das dort vervollständigen! Jörg Hausbrand, Heidenau in Sachsen.

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