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Donnerstag, 21. Juli 2016

Ann Cotten, Verbannt! - Ein Lesetagebuch (13): Ann's Metamorphose

Antike Herme
Das bedeutungsschwangerste Geschehen in Ann Cottens Lehrgedicht „Verbannt“ ist die Metamorphose der weiblichen Hauptfigur Ann zu einer übergroßen antiken Herme. Hermen waren im alten Griechenland Wegmarken und Orientierungspunkte, für die sehr oft der geflügelte Götterbote und Schirmherr der Reisenden Hermes als Motiv gewählt wurde. Meist handelte es sich um steinerne Pfeiler mit aufgesetztem Kopf.
Ann Cotten führt uns ihren „Hermes Wolperting“ in der eigenhändigen Zeichnung auf Seite 75 drastisch vor Augen. Der vollplastische erigierte Penis gehört zu den antiken Accessoires einer Herme (siehe das Bildbeispiel links), wenngleich Cotten ihm bei ihrem Hermes ganz besondere Dimensionen verleiht: Wie zu sehen, kann der Penis über eine im Innenraum verlaufende Treppe erstiegen werden. Nimmt man das Männlein oben in der Luke als Maßstab, ist die ganze Herme etwa 23 Meter hoch und der Penis 13 Meter lang.

Die Geschlechtsumwandlung von Ann zum priapischen Hermes vollzieht sich auf den Seiten 73-77. Ann hat die ersten Gespräche mit dem Inselbewohner Wonnekind geführt. Die Begegnung gewinnt an Intensität, Ann vermeint Geister um sich kreisen zu sehen:

„Ein Geist scheint mich zu kennen, zieht mich quasi an.
            Doch rase ich nicht mitverzückt gen Himmel,
mir scheint, ich bin, viel ernster, sein festes Gewand.
            Ein Geweih wächst mir jetzt, ein Riesenpimmel
            Statt eines Beins, das andere wird Stummel
und Fischschwanz. „Wolperting-Meerjungfrau-Herme!“,
ruft Wonnekind entzückt (...)“
 
Zeichnung: Ann Cotten, Verbannt!, Seite 75
Die Verwandlung vollzieht sich durch aufeinanderfolgende „Wehen“, wie bei einer Geburt. Im weiteren Verlauf wird die Metamorphose erweitert: Die Herme setzt sich unter dem Erdboden fort. Die Hoden sind „kilometerbreite Pilzgeflechte“ und verfügen über eine Verbindung zum Internet. Ein Kabel kommt aus der Erde, und „Pan Orama“, sozusagen der Gott des Internets, meldet sich zur Stelle. All das ist pure Fantastik. Einerseits Riesenstatue, kann Ann-Hermes sich andererseits durchaus fortbewegen und am weiteren Geschehen teilnehmen. Es ist eine Art mit vielfältiger Symbolik geladener Sommernachtstraum.

Der Leser muss bei all diesen verstörenden Geschehnissen erst einmal Luft holen. Für die traditionelle Hermeneutik der Literaturwissenschaft ist dies ein harter Brocken. Ann Cottens Poetik ist über weite Strecken von einer hermetischen Abgeschlossenheit gekennzeichnet, allerdings ohne dadurch an Faszination einzubüßen. Nur wird jeder Leser selber sehen müssen, was er hiermit anfangen kann und wohin ihn seine eigenen Assoziationen führen.

Hermes ist bekannt als Götterbote, auch als Gott der Redekunst; als Hermes Trismegistos ist er der Verfasser philosophischer und magischer Schriften und der Entwickler des griechischen Alphabets. Auch ist er ein Gaukler, Spieler und Betrüger (Gott des Handels!). Dieses Potpourri an Eigenschaften muss Ann Cotten dazu gebracht haben, ihn quasi zu ihrem Hausgott zu machen und zum Hausgott dessen, was Dichtung im 21. Jahrhundert vermag.
Dem Gauklerhaften verleiht sie Nachdruck, indem sie ihrem Hermes den Beinamen “Wolpertinger” gibt: Das ist im süddeutschen Raum ein mythisches Mischwesen mit Hirschgeweih, das noch niemand wirklich zu Gesicht bekommen hat.

Auch Ann Cotten ist von ihrer Biografie her ein ungewöhnliches Mischwesen: Ein kleines Mädchen aus Iowa kommt nach Wien und geht von dort aus nach Berlin. Wappenmäßig lässt sie sich darstellen als Doppeladler mit einem Kopf aus Iowa und einem aus Wien, aufgesetzt auf einen Bärenkörper aus Berlin. Geschlechtsrollen spielt sie nach allen Seiten aus. Als Adlerbär ist sie ganz Mann und ganz Frau, luft- und erdgebunden, unendlich schnell und wild in ihren Worten. Noch niemand hat sie wirklich gesehen.

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