Antike Herme |
Das bedeutungsschwangerste Geschehen in Ann Cottens
Lehrgedicht „Verbannt“ ist die Metamorphose der weiblichen Hauptfigur Ann zu
einer übergroßen antiken Herme. Hermen waren im alten Griechenland Wegmarken
und Orientierungspunkte, für die sehr oft der geflügelte Götterbote und Schirmherr der
Reisenden Hermes als Motiv gewählt wurde. Meist handelte es sich um steinerne
Pfeiler mit aufgesetztem Kopf.
Ann Cotten führt uns ihren „Hermes Wolperting“ in der
eigenhändigen Zeichnung auf Seite 75 drastisch vor Augen. Der vollplastische
erigierte Penis gehört zu den antiken Accessoires einer Herme (siehe das Bildbeispiel links), wenngleich Cotten ihm bei ihrem Hermes ganz besondere Dimensionen verleiht:
Wie zu sehen, kann der Penis über eine im Innenraum verlaufende Treppe erstiegen
werden. Nimmt man das Männlein oben in der Luke als Maßstab, ist die ganze
Herme etwa 23 Meter hoch und der Penis 13 Meter lang.
Die Geschlechtsumwandlung von Ann zum priapischen Hermes
vollzieht sich auf den Seiten 73-77. Ann hat die ersten Gespräche mit dem
Inselbewohner Wonnekind geführt. Die Begegnung gewinnt an Intensität, Ann
vermeint Geister um sich kreisen zu sehen:
„Ein Geist scheint mich zu kennen, zieht mich quasi an.
Doch rase
ich nicht mitverzückt gen Himmel,
mir scheint, ich bin, viel ernster, sein festes Gewand.
Ein Geweih
wächst mir jetzt, ein Riesenpimmel
Statt eines
Beins, das andere wird Stummel
und Fischschwanz. „Wolperting-Meerjungfrau-Herme!“,
ruft Wonnekind entzückt (...)“
Die Verwandlung vollzieht sich durch aufeinanderfolgende „Wehen“,
wie bei einer Geburt. Im weiteren Verlauf wird die Metamorphose erweitert: Die
Herme setzt sich unter dem Erdboden fort. Die Hoden sind „kilometerbreite
Pilzgeflechte“ und verfügen über eine Verbindung zum Internet. Ein Kabel kommt
aus der Erde, und „Pan Orama“, sozusagen der Gott des Internets, meldet sich
zur Stelle. All das ist pure Fantastik. Einerseits Riesenstatue, kann
Ann-Hermes sich andererseits durchaus fortbewegen und am weiteren Geschehen
teilnehmen. Es ist eine Art mit vielfältiger Symbolik geladener Sommernachtstraum.
Der Leser muss bei all diesen verstörenden Geschehnissen
erst einmal Luft holen. Für die traditionelle Hermeneutik der
Literaturwissenschaft ist dies ein harter Brocken. Ann Cottens Poetik ist über
weite Strecken von einer hermetischen Abgeschlossenheit gekennzeichnet,
allerdings ohne dadurch an Faszination einzubüßen. Nur wird jeder Leser selber sehen müssen, was er hiermit anfangen kann
und wohin ihn seine eigenen Assoziationen führen.
Hermes ist
bekannt als Götterbote, auch als Gott der Redekunst; als Hermes Trismegistos
ist er der Verfasser philosophischer und magischer Schriften und der Entwickler
des griechischen Alphabets. Auch ist er ein Gaukler, Spieler und Betrüger (Gott
des Handels!). Dieses Potpourri an Eigenschaften muss Ann Cotten dazu gebracht
haben, ihn quasi zu ihrem Hausgott zu machen und zum Hausgott dessen, was
Dichtung im 21. Jahrhundert vermag.
Dem Gauklerhaften
verleiht sie Nachdruck, indem sie ihrem Hermes den Beinamen “Wolpertinger”
gibt: Das ist im süddeutschen Raum ein mythisches Mischwesen mit Hirschgeweih,
das noch niemand wirklich zu Gesicht bekommen hat.
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