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Freitag, 28. August 2015

Goethe und Groningen

Komisch, dass mir das bisher nie aufgefallen ist: Der 28. August, das Jubeldatum der deutschen Kulturgeschichte, der Geburtstag des genialen deutschen Alleskönners Johann Wolfgang von Goethe (*1749), fällt zusammen mit dem seit mehr als dreihundert Jahren Jahr für Jahr gefeierten Jubelfest der niederländischen Stadt Groningen: Gronings Ontzet (1672), der Befreiung der Stadt von der Belagerung durch den schnöden Bischof von Münster, der noch heute „Bommen Berend“ – „Kanonen-Bernhard“ genannt wird.


Die zeitliche Distanz mildert den Schmerz der Zerstörungen durch des Bischofs Kanonen. Groningen feiert seitdem seine Freiheit mit einem unbeschwerten freien Tag und schönen Festen und eigenen Böllern. Nirgendwo war das Fest so schön wie im „Sleutel“ von Koos Huizenga in den neunziger Jahren.

Warum fällt mir das heute auf? Ich bin zum ersten Mal seit Jahrzehnten an diesem Tag nicht in Groningen, sondern in Berlin. Sollte ich etwa Heimweh haben?

Donnerstag, 27. August 2015

Die Stunden zwischen Buch und Handlung – In Erwartung des neuen Romans von Clemens Setz. Ein Lesetagebuch (2)

Die gute Gepflogenheit, einen Roman erst zu rezensieren, wenn der willige Leser ihn auch in der Buchhandlung erwerben kann, wird im deutschen Feuilleton gerne durchbrochen, wenn die Erwartung mindestens so groß ist wie das noch nicht verfügbare Buch.
Ijoma Mangold tarnt seine Besprechung von Clemens Setz’ “Die Stunde zwischen Frau und Gitarre” in der ZEIT dieser Woche (Nr. 35, S. 43f.) zwar als Gespräch mit dem Autor während einer lustigen Tandem-Fahrt durch Graz, klappert dabei aber schon heftig mit den Schubladen, die er für seine Analyse parat hat: “Der Roman, auf dessen gut 1000 Seiten Stephen King eine untergründige Rolle spielt, hat die Panoramastruktur eines Thrillers. Alle Figuren erzeugen fortlaufend ihre eigene Wirklichkeit, sodass eine 360-Grad-Dauerbedrohung entsteht wie bei einem Computerspiel, das die sich bekämpfenden Mitspieler stets in ihrem eigenen Sinne umprogrammieren.” Ein “radikal postpsychologischer Roman” sei es, in dem “der Freak als Phänotyp der Gegenwart“ zurückkehrt und das Erbe der Nerds antritt. Die Hauptfigur Natalie sei „die Verkörperung dieses neuen Freaktums“, dessen Austausch mit der Welt sich hauptsächlich über technische Medien vollzieht.

Mangold erzählt dann zwar noch so dies und das über Natalie, aber das Ganze dient doch mehr dazu, uns den Mund wässrig zu machen: Der Roman ist „genial“, „wird (sic! P.G.) uns alle faszinieren“ und „hat das Zeug dazu, ein Kultroman zu werden“. Na, dann mal los.

Für die Fortsetzung meines angekündigten Leserblogs bin ich allerdings gar nicht auf Ijoma Mangold oder meinen Gang zur Buchhandlung in zehn Tagen (der Roman erscheint am 6. September) angewiesen. Zwar verfüge ich nicht wie der Redakteur über ein Rezensionsexemplar, aber ich habe ja immer noch den “Blick ins Buch”, den der Verlag im Internet freigegeben hat...

Große Romane offenbaren ihr poetologisches Programm ja gerne in einer Art Ouvertüre. Mal schauen, wie das bei Clemens Setz aussieht:

Das erste Kapitel heißt “Abschluss” und erzählt vom letzten Tag der Berufsausbildung von Natalie, die mit 21 Jahren ihr Diplom für Behindertenpädagogik gemacht hat. Zum Abschluss gibt es ein Fest und zum Fest gehört ein Ausflug mit dem Heißluftballon, aber Natalie hat verschlafen: Sie ist drei Stunden zu spät, sieht die Ballone in der Ferne bereits am Himmel schweben und probiert, ihnen mit dem Taxi hinterherzufahren, hoffnungslos!


In diesen ersten zehn Seiten erfährt der Leser viel über die sinnliche Weltwahrnehmung der jungen Frau, die immer wieder von Dimensionsverkehrungen und –verschränkungen bestimmt ist: zwischen oben und unten - das Taxi soll den Ballon erreichen, der Ballon ist “ein fingerhutgroßer umgekehrter Wassertropfen” (5); zwischen Natalies Körper und ihrer Umgebung – sie hat früher Anfälle gehabt: “Aura, aurig. Es war so, als wäre man in unangenehm heißer, dichter und intimer Verbindung mit der Umgebung” (11); zwischen nah und fern - die Ballone erscheinen ihr als “Glaskörpertrübungen”, die sie aber mit einem Trick scharf stellen kann (12); zwischen Realität und Computerspiel - Natalie lässt ein imaginiertes Skateboard auf Leitplanken und Überlandleitungen fahren (13) und stellt sich eine aus dem Auto ragende Klinge vor, die Masten, Zäune und Bäume abschneidet (13); zwischen groß und klein – der letzte Satz des Kapitels lautet: “Und Sterne: Welten, die so klein waren, dass Hunderte von ihnen zwischen ein paar abendliche Baumäste passten” (16).
Neben all diese Assoziationen an ihrem Abschlusstag schieben sich Erinnerungen aus dem Berufspraktikum, in denen die Übergänge zwischen geistig-körperlicher Normalität und krankhafter Abweichung manifest werden.
Zwischendurch wird uns Natalies Vorliebe für die Romane von Stephen King und Peter Straub mitgeteilt – die Großmeister des fantastischen Thrillers.

Der Autor tut das Seine hinzu und lässt seinen Anfang “Abschluss” heißen.

Fazit: Natalie ist eine moderne junge Frau mit einem Hang zum Fantastischen. Sie funktioniert auf professionelle Weise in ihrer harten Arbeitswelt und ist in ihrer privaten Wahrnehmung und Sinngebung offen für fließende Übergänge, Verkehrungen, Imaginationen, Experimente…


Die ersten zehn von tausend Seiten. Die Ouvertüre zeigt: Da kommt noch etwas auf uns zu.

Samstag, 22. August 2015

Mensch, Meyer!

Brütend liegt ein heißes Schweigen
Über Tal und Bergesjoch,
Evoe und Winzerreigen
Schlummern in der Traube noch.
Purpurne Veltlinertraube
Kochend in der Sonne Schein
Heute möcht ich unterm Laube
Deine vollste Beere sein!
Mein unbändiges Geblüte,
Strotzend von der Scholle Kraft,
Trunken von des Himmels Güte,
Sprengte schier der Hülse Haft!
Aus der Laube niederhangend,
Glutdurchwogt und üppig rund,
Schwebt ich dunkelpurpurprangend
Über einem roten Mund!


Conrad Ferdinand Meyer, Die Veltlinertraube, in: Deutsche Gedichte, hg. von Hans-Joachim Simm, Frankfurt am Main 2009, S. 782

Freitag, 21. August 2015

Clemens Setz, Die Stunde zwischen Frau und Gitarre – Ein Lesetagebuch (1)

Ich wähle mir jedes Jahr einen Roman aus der Longlist für den Deutschen Buchpreis, dem ich ein Lesetagebuch widme. Diesmal ist das: Clemens Setz „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“, 1021 Seiten, Berlin: Suhrkamp Verlag 2015, € 29,95 (erhältlich ab 6. September).

Dass dieser Roman nun auch das diesjährige Flaggschiff des bekanntesten deutschen Literaturverlages ist, der ihn sogar mit einem Buchtrailer auf Youtube bewirbt, kann mich dabei nicht stören. Auch nicht, dass er noch gar nicht erschienen ist. Suhrkamp hat einen dreißigseitigen Blick ins Buch zur Verfügung gestellt, in dem wir Setz’ Hauptfigur Natalie kennenlernen: Das genügt für meine Entscheidung; es sind dreißig Seiten große Literatur. Auch der Trailer lässt das sehen:



Fürs erste – und um die Wartezeit bis zum Erscheinen des Romans zu überbrücken – habe ich mir ein Zitat ausgesucht, das eine kleine Übung beschreibt, die mir ganz besonders gefällt:


Über ihrer Badewanne hing ein riesiges Poster mit Kaiserpinguinen. Die auberginenrunden Vögel hatten sich unter der tiefstehenden Polarsonne wie Schachfiguren verteilt, still und abwartend, und warfen lange, herausfordernde Schatten übers Eis. Natalie salutierte – manchmal in echt, manchmal nur innerlich – jeden Morgen vor den Pinguinen. Dabei hielt sie für einen Augenblick die Luft an und wölbte den Bauch nach vorn. Es versetzte ihr einen kleinen, hellblauen Stromstoß von Glück“ (Die Stunde zwischen Frau und Gitarre, S. 22).

Donnerstag, 20. August 2015

Es ist was es ist sagt der Hass

Foto: piedschi
Erich Fried lässt in seinem Gedicht “Es ist was es ist” allerlei innere Instanzen zum Phänomen „Liebe“ Stellung nehmen. In einem Artikel der Journalistin Elisabeth Raether über den Hass der linken und rechten Extremisten (“Feuer im Kopf”, Die Zeit Nr. 33) fand ich den Vorschlag, das Wort “Liebe” in dem Gedicht durch “Hass” zu ersetzen. Dann kommt dies heraus:

Es ist was es ist

Es ist Unsinn
sagt die Vernunft
Es ist was es ist
sagt der Hass

Es ist Unglück
sagt die Berechnung
Es ist nichts als Schmerz
sagt die Angst
Es ist aussichtslos
sagt die Einsicht
Es ist was es ist
sagt der Hass

Es ist lächerlich
sagt der Stolz
Es ist leichtsinnig
sagt die Vorsicht
Es ist unmöglich
sagt die Erfahrung
Es ist was es ist
sagt der Hass


Interessant! Nur bei der Zeile “Es ist lächerlich, sagt der Stolz” habe ich meine Zweifel.

Mittwoch, 19. August 2015

Die Longlist für den Deutschen Buchpreis 2015 ist da

Die Longlist ist da, eine Überraschung wie immer: dünne und dicke Romane (ein sehr dicker von Setz!), kurze und lange Titel (ein sehr langer von Witzel!). Noch kann ich nicht viel dazu sagen. Steffen Kopetzkys “Risiko” ist der einzige, den ich schon gelesen habe. In dieser bunten Reihe traue ich ihm absolut das Potential zu, den Preis zu gewinnen: ein Buch für Leser!


Alina Bronsky: Baba Dunjas letzte Liebe (Kiepenheuer & Witsch, August 2015)
Ralph Dutli: Die Liebenden von Mantua (Wallstein, August 2015)
Jenny Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen (Knaus, August 2015)
Valerie Fritsch: Winters Garten (Suhrkamp, März 2015)
Heinz Helle: Eigentlich müssten wir tanzen (Suhrkamp, September 2015)
Gertraud Klemm: Aberland (Droschl, Februar 2015)
Steffen Kopetzky: Risiko (Klett-Cotta, Februar 2015)
Rolf Lappert: Über den Winter (Carl Hanser, August 2015)
Inger-Maria Mahlke: Wie Ihr wollt (Berlin Verlag, März 2015)
Ulrich Peltzer: Das bessere Leben (S. Fischer, Juli 2015)
Peter Richter: 89/90 (Luchterhand, März 2015)
Monique Schwitter: Eins im Andern (Droschl, August 2015)
Clemens J. Setz: Die Stunde zwischen Frau und Gitarre (Suhrkamp, September 2015)
Anke Stelling: Bodentiefe Fenster (Verbrecher Verlag, März 2015)
Ilija Trojanow: Macht und Widerstand (S. Fischer, August 2015)
Vladimir Vertlib: Lucia Binar und die russische Seele (Paul Zsolnay, Februar 2015)
Kai Weyand: Applaus für Bronikowski (Wallstein, März 2015)
Frank Witzel: Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969 (Matthes & Seitz, Februar 2015)
Christine Wunnicke: Der Fuchs und Dr. Shimamura (Berenberg, März 2015)
Feridun Zaimoglu: Siebentürmeviertel (Kiepenheuer & Witsch, August 2015)