Seit langer Zeit habe ich nicht mehr einen
derart anregenden literaturwissenschaftlichen Essay gelesen wie “Kinematik des
Erzählens. Zum Stand der amerikanischen Fernsehserie” von Helmut Müller-Sievers
im Juli-Heft des Merkur.
Das erste Resultat dieser Lektüre war, dass
ich, statt irgendeine Wiederholung von "Tatort", angefangen habe, mir “Breaking Bad” anzusehen (und zwar dann gleich zeitgemäß auf Netflix). Ich habe einen
Riesenrückstand, was die großen
amerikanischen Fernsehserien der letzten 15 Jahre betrifft. Und Vorurteile! Und
eine Blockade: Ich konnte mir zum Beispiel nicht vorstellen, dass ich an einem
Abend mehrere Folgen hintereinander gucken würde.
Breaking Bad: Walter White |
Und entsprechend macht er
die Verzögerung der industriellen Revolution in Deutschland für das Ausbleiben
des realistischen deutschen Romans auf dem Niveau der angelsächsischen Welt
verantwortlich. Fontane kommt mit „Effi Briest“ (1896) erst 60 Jahre nach
Dickens. Die modernen deutschen Autoren um 1900 demontieren den Realismus,
bevor er überhaupt richtig angekommen ist. Dementsprechend fehlt diese
Tradition und die mit ihr verbundene „Technik“ des Erzählens in der deutschen
Literatur bis heute.
Wunderbar: Endlich habe
ich die wirkliche Erklärung dafür, warum ich mit wachsender Begeisterung die
Romane von John Updike, Philip Roth, Richard Ford, Richard Powers etc. lese,
während mich die deutschen Autoren entweder mit Langeweile oder mit
geschichtsphilosophischem Unbehagen erfüllen. Es geht um den „technischen Kern
des Realismus“ oder – mit einem mir von früher her geläufigen Wort – um die
Produktionsbedingungen:
„Es gehört zu den tragischen
Missverständnissen vornehmlich der akademischen Literaturkritik, den
literarischen Realismus als Eigenschaft der Repräsentation und nicht als Form
der Produktion und Rezeption verstanden zu haben. Dies gilt insbesondere für
die deutsche Kritik, in der Fragen der Geschichtsphilosophie, der Ästhetik und
der Anthropologie die Anerkennung des technischen Kerns des Realismus
verhindert haben.“
Helmut Müller-Sievers, Kinematik des
Erzählens, Merkur Nr. 794, Juli 2015, 19-29, hier: 20
Wenn man dementsprechend die heutige
Erzählproduktion in Literatur und Fernsehen auf ihren technischen Kern befragt,
sind spannende Antworten und Einsichten zu erwarten.
“Wer denkt nicht beim Tatort sofort an die endlose Wiederkehr der Stopfkuchen-Provinz, bei Breaking
Bad dagegen an Great Expectations?”
Na ja, ich nicht und viele andere wohl auch nicht, aber dass Helmut Müller-Sievers hier das Provinzielle des Stopfkuchen-Romans (1890) von Wilhelm Raabe mit dem heutigen Tatort (1970-2???) verbindet und die Modernität von Dickens Roman Great Expectations (1861) mit den atemberaubenden Staffeln von Breaking Bad (2008-2013), das ist - im Vergleich mit den einheimischen Germanisten - doch ein bemerkenswerter Erkenntnisfortschritt eines deutschen Literaturwissenschaftlers, der nun schon seit vielen Jahren in den USA lehrt und forscht.
Deutschland - die verspätete Nation: Helmut Plessners griffige Formel passt auch auf die deutsche Literatur- und Fernsehnation - und auf die Germanistik.
Deutschland - die verspätete Nation: Helmut Plessners griffige Formel passt auch auf die deutsche Literatur- und Fernsehnation - und auf die Germanistik.
Fortsetzung folgt (das passt ja auch gut!).
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