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Donnerstag, 27. August 2015

Die Stunden zwischen Buch und Handlung – In Erwartung des neuen Romans von Clemens Setz. Ein Lesetagebuch (2)

Die gute Gepflogenheit, einen Roman erst zu rezensieren, wenn der willige Leser ihn auch in der Buchhandlung erwerben kann, wird im deutschen Feuilleton gerne durchbrochen, wenn die Erwartung mindestens so groß ist wie das noch nicht verfügbare Buch.
Ijoma Mangold tarnt seine Besprechung von Clemens Setz’ “Die Stunde zwischen Frau und Gitarre” in der ZEIT dieser Woche (Nr. 35, S. 43f.) zwar als Gespräch mit dem Autor während einer lustigen Tandem-Fahrt durch Graz, klappert dabei aber schon heftig mit den Schubladen, die er für seine Analyse parat hat: “Der Roman, auf dessen gut 1000 Seiten Stephen King eine untergründige Rolle spielt, hat die Panoramastruktur eines Thrillers. Alle Figuren erzeugen fortlaufend ihre eigene Wirklichkeit, sodass eine 360-Grad-Dauerbedrohung entsteht wie bei einem Computerspiel, das die sich bekämpfenden Mitspieler stets in ihrem eigenen Sinne umprogrammieren.” Ein “radikal postpsychologischer Roman” sei es, in dem “der Freak als Phänotyp der Gegenwart“ zurückkehrt und das Erbe der Nerds antritt. Die Hauptfigur Natalie sei „die Verkörperung dieses neuen Freaktums“, dessen Austausch mit der Welt sich hauptsächlich über technische Medien vollzieht.

Mangold erzählt dann zwar noch so dies und das über Natalie, aber das Ganze dient doch mehr dazu, uns den Mund wässrig zu machen: Der Roman ist „genial“, „wird (sic! P.G.) uns alle faszinieren“ und „hat das Zeug dazu, ein Kultroman zu werden“. Na, dann mal los.

Für die Fortsetzung meines angekündigten Leserblogs bin ich allerdings gar nicht auf Ijoma Mangold oder meinen Gang zur Buchhandlung in zehn Tagen (der Roman erscheint am 6. September) angewiesen. Zwar verfüge ich nicht wie der Redakteur über ein Rezensionsexemplar, aber ich habe ja immer noch den “Blick ins Buch”, den der Verlag im Internet freigegeben hat...

Große Romane offenbaren ihr poetologisches Programm ja gerne in einer Art Ouvertüre. Mal schauen, wie das bei Clemens Setz aussieht:

Das erste Kapitel heißt “Abschluss” und erzählt vom letzten Tag der Berufsausbildung von Natalie, die mit 21 Jahren ihr Diplom für Behindertenpädagogik gemacht hat. Zum Abschluss gibt es ein Fest und zum Fest gehört ein Ausflug mit dem Heißluftballon, aber Natalie hat verschlafen: Sie ist drei Stunden zu spät, sieht die Ballone in der Ferne bereits am Himmel schweben und probiert, ihnen mit dem Taxi hinterherzufahren, hoffnungslos!


In diesen ersten zehn Seiten erfährt der Leser viel über die sinnliche Weltwahrnehmung der jungen Frau, die immer wieder von Dimensionsverkehrungen und –verschränkungen bestimmt ist: zwischen oben und unten - das Taxi soll den Ballon erreichen, der Ballon ist “ein fingerhutgroßer umgekehrter Wassertropfen” (5); zwischen Natalies Körper und ihrer Umgebung – sie hat früher Anfälle gehabt: “Aura, aurig. Es war so, als wäre man in unangenehm heißer, dichter und intimer Verbindung mit der Umgebung” (11); zwischen nah und fern - die Ballone erscheinen ihr als “Glaskörpertrübungen”, die sie aber mit einem Trick scharf stellen kann (12); zwischen Realität und Computerspiel - Natalie lässt ein imaginiertes Skateboard auf Leitplanken und Überlandleitungen fahren (13) und stellt sich eine aus dem Auto ragende Klinge vor, die Masten, Zäune und Bäume abschneidet (13); zwischen groß und klein – der letzte Satz des Kapitels lautet: “Und Sterne: Welten, die so klein waren, dass Hunderte von ihnen zwischen ein paar abendliche Baumäste passten” (16).
Neben all diese Assoziationen an ihrem Abschlusstag schieben sich Erinnerungen aus dem Berufspraktikum, in denen die Übergänge zwischen geistig-körperlicher Normalität und krankhafter Abweichung manifest werden.
Zwischendurch wird uns Natalies Vorliebe für die Romane von Stephen King und Peter Straub mitgeteilt – die Großmeister des fantastischen Thrillers.

Der Autor tut das Seine hinzu und lässt seinen Anfang “Abschluss” heißen.

Fazit: Natalie ist eine moderne junge Frau mit einem Hang zum Fantastischen. Sie funktioniert auf professionelle Weise in ihrer harten Arbeitswelt und ist in ihrer privaten Wahrnehmung und Sinngebung offen für fließende Übergänge, Verkehrungen, Imaginationen, Experimente…


Die ersten zehn von tausend Seiten. Die Ouvertüre zeigt: Da kommt noch etwas auf uns zu.

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