Die gute Gepflogenheit, einen Roman erst zu rezensieren,
wenn der willige Leser ihn auch in der Buchhandlung erwerben kann, wird im
deutschen Feuilleton gerne durchbrochen, wenn die Erwartung mindestens so groß ist wie das noch nicht verfügbare
Buch.
Ijoma Mangold
tarnt seine Besprechung von Clemens Setz’ “Die Stunde zwischen Frau und
Gitarre” in der ZEIT dieser Woche (Nr. 35, S. 43f.) zwar als Gespräch mit dem
Autor während einer lustigen Tandem-Fahrt durch Graz, klappert dabei aber schon
heftig mit den Schubladen, die er für seine Analyse parat hat: “Der Roman, auf
dessen gut 1000 Seiten Stephen King eine untergründige Rolle spielt, hat die
Panoramastruktur eines Thrillers. Alle Figuren erzeugen fortlaufend ihre eigene
Wirklichkeit, sodass eine 360-Grad-Dauerbedrohung entsteht wie bei einem Computerspiel,
das die sich bekämpfenden Mitspieler stets in ihrem eigenen Sinne
umprogrammieren.” Ein “radikal postpsychologischer Roman” sei es, in dem “der
Freak als Phänotyp der Gegenwart“ zurückkehrt und das Erbe der Nerds antritt.
Die Hauptfigur Natalie sei „die Verkörperung dieses neuen Freaktums“, dessen
Austausch mit der Welt sich hauptsächlich über technische Medien vollzieht.
Mangold erzählt dann zwar noch so dies und das über Natalie,
aber das Ganze dient doch mehr dazu, uns den Mund wässrig zu machen: Der Roman
ist „genial“, „wird (sic! P.G.) uns alle faszinieren“ und „hat das Zeug dazu, ein Kultroman
zu werden“. Na, dann mal los.
Für die
Fortsetzung meines angekündigten Leserblogs bin ich allerdings gar nicht auf Ijoma
Mangold oder meinen Gang zur Buchhandlung in zehn Tagen (der Roman erscheint am
6. September) angewiesen. Zwar verfüge ich nicht wie der Redakteur über ein
Rezensionsexemplar, aber ich habe ja immer noch den “Blick ins Buch”,
den der Verlag im Internet freigegeben hat...
Große Romane
offenbaren ihr poetologisches Programm ja gerne in einer Art Ouvertüre. Mal
schauen, wie das bei Clemens Setz aussieht:
Das erste Kapitel
heißt “Abschluss” und erzählt
vom letzten Tag der Berufsausbildung von Natalie, die mit 21 Jahren ihr Diplom
für Behindertenpädagogik gemacht hat. Zum Abschluss gibt es ein Fest und zum
Fest gehört ein Ausflug mit dem Heißluftballon, aber Natalie hat verschlafen: Sie ist drei Stunden zu spät, sieht
die Ballone in der Ferne bereits am Himmel schweben und probiert, ihnen mit dem
Taxi hinterherzufahren, hoffnungslos!
In diesen ersten
zehn Seiten erfährt der Leser viel über die sinnliche Weltwahrnehmung der
jungen Frau, die immer wieder von Dimensionsverkehrungen und –verschränkungen
bestimmt ist: zwischen oben und unten - das Taxi soll den Ballon erreichen, der
Ballon ist “ein fingerhutgroßer umgekehrter Wassertropfen” (5); zwischen Natalies Körper und ihrer
Umgebung – sie hat früher Anfälle gehabt: “Aura, aurig. Es war so, als wäre man
in unangenehm heißer, dichter
und intimer Verbindung mit der Umgebung” (11); zwischen nah und fern - die
Ballone erscheinen ihr als “Glaskörpertrübungen”, die sie aber mit einem Trick
scharf stellen kann (12); zwischen Realität und Computerspiel - Natalie lässt
ein imaginiertes Skateboard auf Leitplanken und Überlandleitungen fahren (13)
und stellt sich eine aus dem Auto ragende Klinge vor, die Masten, Zäune und
Bäume abschneidet (13); zwischen groß und klein – der letzte Satz des Kapitels lautet: “Und Sterne: Welten, die
so klein waren, dass Hunderte von ihnen zwischen ein paar abendliche Baumäste
passten” (16).
Neben all diese
Assoziationen an ihrem Abschlusstag schieben sich Erinnerungen aus dem
Berufspraktikum, in denen die Übergänge zwischen geistig-körperlicher Normalität
und krankhafter Abweichung manifest werden.
Zwischendurch
wird uns Natalies Vorliebe für die Romane von Stephen King und Peter Straub
mitgeteilt – die Großmeister
des fantastischen Thrillers.
Der Autor tut das
Seine hinzu und lässt seinen Anfang “Abschluss” heißen.
Fazit: Natalie
ist eine moderne junge Frau mit einem Hang zum Fantastischen. Sie funktioniert auf
professionelle Weise in ihrer harten Arbeitswelt und ist in ihrer privaten
Wahrnehmung und Sinngebung offen für fließende Übergänge, Verkehrungen, Imaginationen,
Experimente…
Die ersten zehn
von tausend Seiten. Die Ouvertüre zeigt: Da kommt noch etwas auf uns zu.
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