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Sonntag, 16. August 2015

Volker Hage, Die freie Liebe

„Drei Figuren auf engstem Raum (...)“, die Erinnerung an eine Liebe, kaum ein Roman zu nennen, eine Inszenierung in kleiner Form: Lasst uns eine Geschichte machen...

Volker Hage
Wenn jemand, der wie Volker Hage auf den Flaggschiffen des deutschen Feuilletons jahrzehntelang in leitenden Positionen im Literaturteil gearbeitet hat (FAZ, Zeit und Spiegel), nach seiner Pensionierung auf einmal selber einen Roman veröffentlicht, kann er sich der Aufmerksamkeit seiner Nachfolger und ehemaligen Kollegen sicher sein.
Und wenn dieser Roman dann auch noch „Die freie Liebe“ heißt und im angeblich freizügigen Studentenmilieu der frühen siebziger Jahre spielt, bleiben hämische Kommentare nicht aus: “Soft-Porno vom Literaturkritiker” titelt Helmut Böttiger im “Deutschlandradio Kultur” in einer ungewohnt oberflächlichen Rezension, und Julia Seeliger schreibt in absoluter Verkennung der Intentionen und der Qualitäten dieses Romans: “Wer es nicht schafft, in einem Buch namens Freie Liebe zumindest eine gute Sexszene unterzubringen, hat eigentlich schon verloren” (Julia Seeliger im "Freitag"). Damit liegt sie nun völlig daneben!

Der kleine Roman (Die freie Liebe, Luchterhand Literaturverlag München 2015, 160 Seiten, 16,99€) hat eine Rahmenhandlung: Zwei gerade pensionierte Herren, als Regisseure in Theater und Fernsehen erfolgreich, die vor Jahrzehnten beide etwas mit derselben Frau gehabt haben, treffen sich bei gutem Essen, um sich über die Vergangenheit und die nicht mehr auffindbare Frau auszutauschen. Wolfgang (Wolf), der Ich-Erzähler, findet nach diesem Gespräch auf dem Dachboden seines Elternhauses die Tagebuchaufzeichnungen aus dem Anfang seiner Münchener Studentenzeit wieder. Sie reichen vom Mai 1971 bis Dezember 1972 und decken die Phase ab, in der Andreas und er in einer Wohngemeinschaft in einer ménage à trois mit Larissa (Lissa) gelebt hatten. Dieses Tagebuch macht den Hauptteil des Romans aus. Logisch, dass es hier auch und viel um Sex geht. Obwohl es sich im Wesentlichen um eine Dreipersonen-Geschichte handelt, kommen für Wolf zwischendurch auch kurze Affären mit Anna, Roswitha, Claudia, Barbara, Verena, Britta und Maria ins Spiel. Dennoch stehen in diesem Roman die sexuellen Dinge nicht im Vordergrund, schon gar nicht in pornografischer oder ästhetisch überhöhter Form.
Lissa nennt den Geschlechtsakt “eine Geschichte machen”, und Volker Hage erschafft in diesem Buch eine Geschichte der freien Liebe, in der es ihm nicht um den Sex als solchen, sondern um die antikonzeptive (die neue Pille!) und mediale "Befreiung" der ganzen “Make-Love-Not-War”-Generation geht. Sein Protagonist Wolf ist ein einundzwanzigjähriger Literaturstudent, der eigentlich lieber etwas mit Fotografie und Film gemacht hätte. Er ist etwas langweilig und ziemlich durchschnittlich, aber er hat eine gute Idee und ein frühreifes Ahnen der Vergänglichkeit von Allem. Er will seinen Alltag dokumentieren, weil er vergänglich ist:

„Was ist mit deinem Alltag? Hast du schon mal deinen Schreibtisch fotografiert, die Badewanne, den Kühlschrank hier? Das Frühstück auf dem Tisch oder den Brotkorb? Die Spüle, die Schale? Irgendwann ist das alles weg, verschwunden, vergessen, vorbei. Unwiederbringlich! Und dann wirst du dich einmal fragen: Wie sah das eigentlich alles aus? Damals, Mai 1971?“ (Die freie Liebe, 25).

Ja, wie sah das alles aus? Diese Frage bestimmt Hages Konstruktion seines Romans. Da gibt es zunächst die Filme aus diesen Jahren. Der Autor schickt seine Protagonisten dauernd ins Kino. Die Filme und die Gespräche über sie zeigen und verstärken die freie Liebe und die sexuelle Revolution: Robert van Ackeren, Blondie’s Number One, Rudolf Thome, Rote Sonne, Francois Truffaut, Jules und Jim, Visconti, Tod in Venedig, Jens Jørgen Thorson, Stille Tage in Clichy, Irm & Ed Sommer, Lovely Love, Uwe Brandner, Ich liebe dich, ich töte dich, Rainer Werner Fassbinder, Warnung vor einer heiligen Nutte, Paul Morissey, Trash, Ingmar Bergmann, Riten. (Ich habe sie damals auch alle gesehen.)

Aber es gibt auch eine aktive Komponente bei Wolf. In seiner Liebe zu Lissa entwickelt er einen unbändigen Dokumentationsdrang: Er macht eine Stereo-Tonaufnahme seines Geschlechtsaktes mit ihr („eine ganze ‚Geschichte’, von Anfang bis Ende. Sie fand die Idee toll.“), er filmt Lissa und Andreas im Bett mit der Super-8-Kamera („Eines Tages wird es Filme geben, die man nicht mehr einschicken muss. Dann werden die letzten Hemmungen fallen. Miteinander schlafen und sich gleich danach angucken, das wäre es doch!“), er nimmt ein Polaroid-Nacktfoto von Lissa und sich im Badezimmerspiegel auf („Das Bild zeigt uns kopflos, der Blitz hat im Spiegel unsere Köpfe ausgeblendet. Dafür sind unsere Körper um so besser zu erkennen“).

Die sexuelle Revolution geht einher mit der medientechnischen Revolution. „Wie sah das eigentlich alles aus? Damals, Mai 1971?“ Volker Hage beantwortet die Frage seines Protagonisten auch diesbezüglich: Im Laufe des Romans werden gut zwanzig zeitgenössische Medienmaschinen zur Aufnahme und Wiedergabe von Ton und (bewegtem) Bild erwähnt und zum Teil in ihren Funktionen beschrieben:
Tonbandgerät, Kamera, Revue-Projektor für Normal-8 und Super-8, Cassetten-Recorder, Uher-Reportergerät, Stereoboxen, der twen-Computer zur Partnersuche, Kassetten-Fernsehen, Videoschallplatte, Stereokopfhörer, Polaroidkamera, Polaroidschmalfilme (als Zukunftsvision), der erste Akai Videorekorder für 5998 D-Mark, Telefunken-Magnetophon 302, Dual KA 20 Musikanlage mit automatischem Wechsler für Langspielplatten, integriertem HiFi-Stereoverstärker und Radio, das Bandgerät Beocord 2000 De Luxe von B&O, kleine Computer, die jeder besitzt und die menschliche Sprache verstehen (als Zukunftsvision).


Aber halt! So technisch ist die Erzählung gar nicht. All diese Dinge erhalten ihren alltäglichen Ort, weil sie wesentlich sind und den Rahmen für die Produktionsbedingungen abstecken, unter denen die 68er Generation angetreten ist und ihr Leben zu leben versuchte.
Freie Liebe? Der Autor zeigt ihr Scheitern an der Realität. Larissa, Andreas und Wolf leben in einer folie à trois, sie verletzen sich gegenseitig. Keiner kommt unbeschädigt aus der Beziehung heraus. Die freie Liebe war eine emanzipatorische Utopie von psychopolitischen Theoretikern.
Die Liebe in Zeiten der sexuellen und technischen Revolution: Hages Geschichte zeigt in nuce die Anfänge unseres heutigen Lebens in der digitalisierten Welt. Natürlich spielen auch eine Reihe von Buch- und Musiktiteln eine Rolle, Anspielungen auf Goethes Werther und Stella, auf die Tagebuchschreiber der Weltliteratur, auch die politischen Ereignisse jener Jahre kommen vor: der Vietnamkrieg, der Anschlag auf die israelische Olympiamannschaft, der RAF-Terrorismus. Aber im Zentrum steht das glaubhaft in einfacher Sprache erzählende Tagebuch eines Einundzwanzigjährigen aus Lübeck, der zum ersten Mal in seinem Leben ein freies Leben in der Großstadt München führt.


Und die vergangene Liebe der zwei alten Männer? Volker Hage lässt die beiden Regisseure („Vielleicht sollten wir einen Film daraus machen?“) den Schluss der Geschichte erfinden: Bei ihrem zweiten Gespräch im Berliner Westin Grand Hotel imaginieren sie eine Tochter Larissas, die die große Freitreppe herunterkommt und auf sie zugeht…


Westin Grand Hotel

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