„Drei Figuren auf engstem Raum (...)“, die Erinnerung an eine Liebe, kaum ein Roman zu
nennen, eine Inszenierung in kleiner Form: Lasst uns eine Geschichte machen...
Volker Hage |
Und wenn dieser Roman dann auch noch „Die freie Liebe“ heißt und im angeblich freizügigen
Studentenmilieu der frühen siebziger Jahre spielt, bleiben hämische Kommentare
nicht aus: “Soft-Porno vom Literaturkritiker” titelt Helmut Böttiger im “Deutschlandradio
Kultur” in einer ungewohnt oberflächlichen Rezension, und Julia Seeliger
schreibt in absoluter Verkennung der Intentionen und der
Qualitäten dieses Romans: “Wer es nicht schafft, in einem
Buch namens Freie Liebe zumindest eine gute Sexszene unterzubringen, hat
eigentlich schon verloren” (Julia Seeliger im "Freitag"). Damit liegt sie nun
völlig daneben!
Der kleine Roman (Die
freie Liebe, Luchterhand Literaturverlag München 2015, 160 Seiten, 16,99€) hat
eine Rahmenhandlung: Zwei gerade pensionierte Herren, als Regisseure in Theater
und Fernsehen erfolgreich, die vor Jahrzehnten beide etwas mit derselben Frau
gehabt haben, treffen sich bei gutem Essen, um sich über die Vergangenheit und
die nicht mehr auffindbare Frau auszutauschen. Wolfgang (Wolf), der
Ich-Erzähler, findet nach diesem Gespräch auf dem Dachboden seines Elternhauses
die Tagebuchaufzeichnungen aus dem Anfang seiner Münchener Studentenzeit wieder.
Sie reichen vom Mai 1971 bis Dezember 1972 und decken die Phase ab, in der
Andreas und er in einer Wohngemeinschaft in einer ménage à trois mit Larissa
(Lissa) gelebt hatten. Dieses Tagebuch macht den Hauptteil des Romans aus. Logisch,
dass es hier auch und viel um Sex geht. Obwohl es sich im Wesentlichen um eine
Dreipersonen-Geschichte handelt, kommen für Wolf zwischendurch auch kurze Affären mit Anna,
Roswitha, Claudia, Barbara, Verena, Britta und Maria ins Spiel.
Dennoch stehen in diesem Roman die sexuellen Dinge nicht im Vordergrund, schon
gar nicht in pornografischer oder ästhetisch überhöhter Form.
Lissa nennt den
Geschlechtsakt “eine Geschichte machen”, und Volker Hage erschafft in diesem
Buch eine Geschichte der freien Liebe, in der es ihm nicht um den Sex als
solchen, sondern um die antikonzeptive (die neue Pille!) und mediale "Befreiung" der ganzen “Make-Love-Not-War”-Generation geht. Sein Protagonist Wolf ist ein einundzwanzigjähriger
Literaturstudent, der eigentlich lieber etwas mit Fotografie und Film gemacht hätte.
Er ist etwas langweilig und ziemlich durchschnittlich, aber er hat eine gute Idee und ein frühreifes Ahnen
der Vergänglichkeit von Allem. Er will seinen Alltag dokumentieren, weil er
vergänglich ist:
„Was ist mit deinem Alltag? Hast du schon mal deinen
Schreibtisch fotografiert, die Badewanne, den Kühlschrank hier? Das Frühstück
auf dem Tisch oder den Brotkorb? Die Spüle, die Schale? Irgendwann ist das
alles weg, verschwunden, vergessen, vorbei. Unwiederbringlich! Und dann wirst
du dich einmal fragen: Wie sah das eigentlich alles aus? Damals, Mai 1971?“
(Die freie Liebe, 25).
Ja, wie sah das alles aus? Diese Frage bestimmt Hages
Konstruktion seines Romans. Da gibt es zunächst die Filme aus diesen Jahren.
Der Autor schickt seine Protagonisten dauernd ins Kino. Die Filme und die Gespräche
über sie zeigen und verstärken die freie Liebe und die sexuelle Revolution: Robert
van Ackeren, Blondie’s Number One, Rudolf
Thome, Rote Sonne, Francois Truffaut,
Jules und Jim, Visconti, Tod in Venedig, Jens Jørgen Thorson, Stille Tage in Clichy, Irm & Ed
Sommer, Lovely Love, Uwe Brandner, Ich liebe dich, ich töte dich, Rainer
Werner Fassbinder, Warnung vor einer
heiligen Nutte, Paul Morissey, Trash,
Ingmar Bergmann, Riten. (Ich habe sie
damals auch alle gesehen.)
Aber es gibt auch eine aktive Komponente bei Wolf. In seiner
Liebe zu Lissa entwickelt er einen unbändigen Dokumentationsdrang: Er macht
eine Stereo-Tonaufnahme seines Geschlechtsaktes mit ihr („eine ganze
‚Geschichte’, von Anfang bis Ende. Sie fand die Idee toll.“), er filmt Lissa und
Andreas im Bett mit der Super-8-Kamera („Eines Tages wird es Filme geben, die
man nicht mehr einschicken muss. Dann werden die letzten Hemmungen fallen.
Miteinander schlafen und sich gleich danach angucken, das wäre es doch!“), er
nimmt ein Polaroid-Nacktfoto von Lissa und sich im Badezimmerspiegel auf („Das
Bild zeigt uns kopflos, der Blitz hat im Spiegel unsere Köpfe ausgeblendet. Dafür
sind unsere Körper um so besser zu erkennen“).
Die sexuelle Revolution geht einher mit der medientechnischen Revolution. „Wie sah das eigentlich alles aus? Damals, Mai 1971?“ Volker Hage beantwortet die Frage seines Protagonisten auch diesbezüglich: Im Laufe des Romans werden gut zwanzig zeitgenössische Medienmaschinen zur Aufnahme und Wiedergabe von Ton und (bewegtem) Bild erwähnt und zum Teil in ihren Funktionen beschrieben:
Tonbandgerät, Kamera, Revue-Projektor für Normal-8 und
Super-8, Cassetten-Recorder, Uher-Reportergerät, Stereoboxen, der twen-Computer
zur Partnersuche, Kassetten-Fernsehen, Videoschallplatte, Stereokopfhörer,
Polaroidkamera, Polaroidschmalfilme (als Zukunftsvision), der erste Akai
Videorekorder für 5998 D-Mark, Telefunken-Magnetophon 302, Dual KA 20
Musikanlage mit automatischem Wechsler für Langspielplatten, integriertem
HiFi-Stereoverstärker und Radio, das Bandgerät Beocord 2000 De Luxe von B&O,
kleine Computer, die jeder besitzt und die menschliche Sprache verstehen (als
Zukunftsvision).
Aber halt! So technisch ist die Erzählung gar nicht. All
diese Dinge erhalten ihren alltäglichen Ort, weil sie wesentlich sind und den
Rahmen für die Produktionsbedingungen abstecken, unter denen die 68er
Generation angetreten ist und ihr Leben zu leben versuchte.
Freie Liebe? Der Autor zeigt ihr Scheitern an der Realität.
Larissa, Andreas und Wolf leben in einer folie à trois, sie verletzen sich
gegenseitig. Keiner kommt unbeschädigt aus der Beziehung heraus. Die freie
Liebe war eine emanzipatorische Utopie von psychopolitischen Theoretikern.
Die Liebe in Zeiten der sexuellen und technischen
Revolution: Hages Geschichte zeigt in nuce die Anfänge unseres heutigen Lebens
in der digitalisierten Welt. Natürlich spielen auch eine Reihe von Buch- und
Musiktiteln eine Rolle, Anspielungen auf Goethes Werther und Stella, auf
die Tagebuchschreiber der Weltliteratur, auch die politischen Ereignisse jener
Jahre kommen vor: der Vietnamkrieg, der Anschlag auf die israelische
Olympiamannschaft, der RAF-Terrorismus. Aber im Zentrum steht das glaubhaft in
einfacher Sprache erzählende Tagebuch eines Einundzwanzigjährigen aus Lübeck,
der zum ersten Mal in seinem Leben ein freies Leben in der Großstadt München
führt.
Und die vergangene Liebe der zwei alten Männer? Volker Hage
lässt die beiden Regisseure („Vielleicht sollten wir einen Film daraus
machen?“) den Schluss der Geschichte erfinden: Bei ihrem zweiten Gespräch im Berliner Westin Grand Hotel imaginieren sie eine Tochter Larissas, die die große Freitreppe
herunterkommt und auf sie zugeht…
Westin Grand Hotel |
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