Das Stichwort “Krimi” hat mich an einen Vortrag erinnert, den ich vor sechs Jahren gehalten habe: “Deutschland, eine Krimireise”. Ich hatte ihn als eine Rundfahrt durch Deutschland gestaltet, gegen den Uhrzeigersinn durch die Grenzregionen: angefangen in Ostfriesland, dann im Westen bis Bayern hinunter und schließlich im Osten wieder hinauf bis Schleswig-Holstein. Eine Deutschlandreise in 30 Regionalkrimis.
Die Liste findet sich am Ende des Vortrags; sie ist natürlich
jetzt im Jahre 2014 nicht mehr ganz up to date, aber das macht eigentlich
nichts. Der Vortrag ist nur am Anfang ganz ausgearbeitet. Die zweite Hälfte
habe ich mehr stichwortartig gehalten, da ich lieber frei spreche.
Wer sich für den Vortrag interessiert, bitte hier klicken:
Deutschland, eine Krimireise
Landeskunde mit Kriminalromanen
Im traurigen Monat November war‘s
Die Tage wurden trüber,
Der Wind riss von den Bäumen das Laub,
Da reist‘ ich nach Deutschland hinüber…
(Heinrich Heine, Deutschland. Ein Wintermärchen)
Das Meer lag in der Luft, als ich nach Leer kam.
Die Stadt troff vor Nässe, die Laternen
in ihren Gassen hatten Höfe wie der Mond
in einer dampfenden Nacht,
das Meer musste ganz nah sein…
(Wolfgang Büscher, Deutschland, eine Reise)
1 Startpunkt:
Kampf gegen Windmühlenflügel
Liebe
Alumani, Studenten und Kollegen, liebe Gäste, meine Damen und Herren,
herzlich
willkommen zu unserem Kriminachmittag. Wir werden heute zusammen eine virtuelle
Deutschlandreise machen, relativ dicht an den Grenzen entlang, mit einigen
grenzüberschreitenden Ausflügen in die Niederlande, nach Frankreich,
Österreich, in die Schweiz und nach Polen. Wenn Sie das Motto sehen, werden Sie
denken: oh, der legt die Latte ja ganz schön hoch. Heinrich Heines Deutschland. Ein Wintermärchen aus dem
Jahre 1844 ist einer der bekanntesten Texte aus der deutschen Literatur. Heine
kehrt im November 1843 aus seinem freiwilligen Exil in Paris zurück und gibt an
den Stationen dieser Reise entlang seine kritisch-satirisch-humoristischen
Kommentare zur politisch-gesellschaftlichen Situation in Deutschland.
Aber es
ist noch nicht November und ich bin nicht Heinrich Heine. Ich will mich auch
nicht an ihm messen, sondern ich möchte, dass eine unterschätzte Gattung, der
neue deutsche Kriminalroman, stärker ins Blickfeld der Kulturwissenschaft und
auch des Literatur- und Landeskundeunterrichts in der Oberstufe der Schulen und
im Hochschulbereich gerückt wird. Und dies nicht so sehr auf Grund literarischer
Kriterien, sondern wegen seiner inhaltlichen Qualitäten als Spiegel der
deutschen Gegenwart und Vergangenheit und wegen seiner gesellschaftlichen
Funktion. Ich habe vor zehn Jahren einmal als Leitthese für den
Landeskundeunterricht formuliert: Landeskunde muss auf der Höhe ihrer Zeit
sein. Das klingt so einfach und beinahe banal, ist aber in der Praxis selten
der Fall. Heute liefere ich eine konkrete Exemplifikation hierzu: Meine These
ist, und damit stehe ich nicht alleine, dass der Krimi - und zwar sowohl in
gedruckter Form wie in den überaus zahlreichen Fernsehkrimis - in der deutschen Öffentlichkeit ein wichtiges Podium
für aktuelle politisch-gesellschaftliche Themen und ihre kritische Aufarbeitung
sowie für die Erinnerung und Verarbeitung der diversen dunklen deutschen
Vergangenheiten geworden ist. Und aus diesem Grunde ist er ganz ausgezeichnet
für einen modernen Landeskundeunterricht geeignet.
Ich gebe
zunächst einige Beispiele, die Sie in Ihrem Handout verfolgen können und gehe
dabei auf inhaltliche und am Ende auch auf didaktische Aspekte ein. Wir
beginnen die Reise an der niederländisch-deutschen Grenze, in Ostfriesland, in
der kleinen Stadt Leer. Hierfür steht das zweite Motto aus Wolfgang Büschers Deutschland, eine Reise. Auch dieser
Titel lehnt sich deutlich an Heine an. Büscher hat eines der schönsten und
intensivsten deutschen Reisebücher der letzten Jahrzehnte geschrieben: eine
Rundreise durch Deutschland, im Uhrzeigersinn immer an den Grenzen entlang. Von
diesem Buch habe ich die Idee zu meinem Projekt abgeleitet.
Der erste
Krimi, Ebbe und Blut von Peter
Gerdes, spielt also in Leer und in Ostfriesland. Im Untertitel nennt er sich
auch ganz bewusst „Ostfrieslandkrimi“. Der Startpunkt in Leer hat für mich eine
sinnfällige und emotionale Bedeutung: Leer ist meine Geburtsstadt, dort bin ich
aufgewachsen, dort steht meine Schule, das Ubbo-Emmius-Gymnasium, das in dem
Roman vorkommt; nach Leer und in seine Altstadt kehre ich von Zeit zu Zeit
zurück, trinke den rituellen ostfriesischen Tee mit Kluntjes, esse etwas Deftiges
im Restaurant Taraxacum, stehe am inzwischen modern umbauten Hafen. Ich laufe
an der Ems entlang, fahre Richtung Emden an den Dollart: dies alles sind auch Schauplätze
dieses Romans. Viele nostalgische Leeraner werden sich dieses Buch kaufen, aber
auch viele Touristen, die inzwischen zahlreich nach Ostfriesland kommen.
Und was
mich heute an meiner ostfriesischen Heimat so ärgert, nämlich die immer weiter
zunehmende Verschandelung der Landschaft durch hunderte von Windmühlen, die,
vom Staat subventioniert, der alternativen Energiegewinnung dienen, spielt auch
eine Hauptrolle in Ebbe und Blut.
Gleich zu Anfang sabotiert eine Gruppe militanter Windmühlengegner ein solches
Monstrum mit einem hinaufgeschossenen Stahlanker. Daraufhin bricht eines der drei
Rotorblätter ab und bohrt sich federnd in die Erde. Die Täter sind tief
erschrocken über diesen Erfolg. Der Roman lebt von der sich daran anschließenden
erregten Auseinandersetzung und Verfilzung zwischen Bürgerprotest, regionaler
Politik und Wirtschaft. Die Nähe zum Meer und die Freizeitschifffahrt spielen
auch eine Rolle und natürlich geschieht auch ein Mord. Der Kampf gegen die
Windmühlenflügel ist ein starkes literarisches Motiv, mit dem der Autor
vielleicht noch mehr hätte tun können (Denken Sie an Don Quichotte!). Immerhin
gibt am Ende ein behinderter Rollstuhlfahrer die entscheidenden Tipps zur
Aufklärung des Mordes.
Ostfrieslandkrimis
gab es in den sechziger, siebziger, achtziger Jahren noch nicht, als ich mir
meine deutschen Bücher in Leer aus der damaligen Buchhandlung Taraxacum holte,
und schon gar keine Inselkrimis, wie es sie heute die Wattenseeküste von Borkum
bis Sylt rauf und runter zuhauf gibt. Allenfalls Hansjörg Martins Und einer fehlt beim Kurkonzert von
1966, das auf Norderney spielt, ist ein früher, allerdings nicht besonders
spannender Vorläufer des Regionalkrimis.
2 Rundreise:
Gegen den Uhrzeigersinn
Der
deutsche Regionalkrimi ist ein Phänomen, das in den späten achtziger und frühen
neunziger Jahren seinen Anfang nahm. Seit etwa zwanzig Jahren gibt es diese
inzwischen auf hunderte und aberhunderte Krimis angewachsene regionale Welle,
die das Territorium der alten Bundesrepublik und übrigens auch Österreichs
nahezu vollständig überflutet hat. In den aus der DDR hervorgegangenen neuen
Bundesländern gibt es nicht viel dergleichen und was es gibt, stammt zudem noch
oft von westdeutschen Autoren. Und dies nicht etwa, weil es in der DDR mit
ihrer gelenkten Kulturpolitik keinen Raum für
Krimis gegeben hätte. Den gab es, und immerhin einen Original-DDR-Krimi
habe ich in meine Reise aufgenommen. Dazu später mehr.
Zunächst
zu unserem Reiseplan. Wie Sie sehen, geht es gegen den Uhrzeigersinn ziemlich
nah an den Grenzen der Bundesrepublik entlang nach Süden über den Niederrhein
ins Ruhrgebiet und in die Eifel. Frankfurt darf nicht fehlen, dann das Saarland
mit Ausflügen ins französische Elsass und dann geht‘s bis hinunter ins Allgäu
und nach einem Abstecher nach Österreich zurück nach Norden über Bayern in die
neuen Bundesländer hinein, mit ausführlichem Aufenthalt in Berlin und über die
heutige polnische Grenze nach Breslau, dann Mecklenburg, Hamburg,
Schleswig-Holstein. Der Endpunkt ist Stade in Niedersachsen.
30 Krimis
aus 20 Jahren habe ich ausgesucht. Die Kriterien habe ich einleitend genannt. Rein
psychologische Krimis gehören nicht dazu. Und es geht nicht in erster Linie um
literarische Qualität oder den Spannungsgehalt. Ebbe und Blut ist in dieser Beziehung auch nicht so überzeugend:
ich habe ihm nur zwei Sternchen gegeben auf einer Skala von fünf. Aber unter
den 30 sind auch viele hochklassige Beispiele. 30 Städte oder Regionen, 30 mal
regionale Besonderheiten und/oder aktuelle gesellschaftliche Themen und
deutsche Vergangenheiten. Und nicht 30, sondern viel mehr Morde, denn die
meisten Romane begnügen sich nicht mit nur einer Gewalttat.
Rein
historische Krimis ohne Anbindung an die Gegenwart habe ich auch nicht aufgenommen.
Es gibt sie zuhauf: Preußenkrimis, Hansekrimis, Mittelalterkrimis, Krimis, die
in der Weimarer Republik spielen.
Zur rein
praktischen Seite für Sie als potentielle Leser: nicht jeder dieser 30 Romane
wird im Buchhandel direkt lieferbar sein, aber die Hälfte kommt aus den letzten
drei Jahren. Ältere Titel sind aber beinahe immer für wenig Geld im
Internetantiquariat aufzutreiben. Und ich nenne auch immer einige alternative
Titel, die als Ersatz für einen regionalen oder thematischen Aspekt dienen
können.
3 Ein Krimireiseführer
Ich werde
im folgenden nicht 30 Bücher besprechen, sondern eine Reihe interessanter
thematischer Aspekte auswählen und anhand einzelner Krimis erläutern. Dabei
spare ich heute eine Reihe der besseren Romane aus, die mit deutscher
Geschichte zu tun haben: die werden im Vortrag von Elfriede Müller besprochen.
Wir
bleiben beim Thema Regionalkrimi. Unsere zweite Station ist der Niederrhein.
Der Roman Die Schanz des Autorentrios
Hiltrud Leenders, Michael Bay und Artur Leenders spielt im Jahr der
katastrophalen Überflutung von 2002, die auch die benachbarte niederländische
Provinz Gelderland in grosse Not gebracht hat. Die Autoren zitieren
bildungsbewusst am Anfang aus Goethes Gedicht Johanna Sebus, das von der Flut am Niederrhein im Jahr 1809
handelt: „Der Damm zerreisst, das Feld erbraust, die Fluten spülen, die Fläche
saust.“
Das
winzige Dörfchen Schenkenschanz wird 2002 durch
das Hochwasser komplett von der Aussenwelt abgeschlossen. Und in dem
Dorf befindet sich ein Mörder. Ein Bauer hatte auf seinem Feld einen
menschlichen Fuss mit Schuh gefunden, der schliesslich als der Fuss eines
ehemaligen niederländischen Oberst des Dutchbat von Srebrenica identifiziert
wird, der sich auf der deutschen Seite des Niederrheins niedergelassen hatte.
Mehr kann ich natürlich nicht verraten. Dieser Krimi steht in einer Reihe von
inzwischen mehr als zehn Romanen – der erste erschien 1992 -, die alle im
dörflich-kleinstädtischen Milieu spielen und in denen das Kommissariat K11 aus
Kleve verzwickte Fälle zu lösen hat. Die Autoren, die inzwischen als Trio
Criminale bezeichnet werden, haben einen Kultstatus erworben, der weit über die
Region hinausreicht. Das äussert sich auch in auf den ersten Blick kuriosen Begleiterscheinungen,
die von der existentiellen Durchdringung des Phänomens beim Lesepublikum zeugen:
Im Jahr 2000 gaben die Autoren unter dem Titel „Mörderischer Niederrhein“ einen
Radwanderführer heraus, der immerhin zwei Auflagen erlebt hat. Ich zitiere aus
der Verlagswerbung:
Dies ist mehr als ein Radwanderführer. Durch Anekdoten
rund um die Recherche zu den sieben Krimis und Geschichten von den zahlreichen
Lesungen sowie humorigen Fotos der drei ist dieser Band ein Muss für alle Fans
der Krimiautoren. Der Mercator-Verlag, so die "Rheinische Post" kurz
nach Erscheinen Ende Mai 2000, hat damit als Vorreiter der deutschen
Verlagsszene zum ersten Mal sportliche, touristische und kriminale Ziele miteinander
vereint.
Und um
noch eins draufzugeben erschien 2007 das Buch „Ackermann kocht: Mörderische
Rezepte vom Trio Criminale“, ein Kochbuch mit den Lieblingsrezepten des
Kommissariats K11 aus Kleve.
4 Geschmackssache:
Dinnerkrimis
Diesem
Aspekt, die Verbindung von Krimihandlung mit zum Teil ausführlichen
Beschreibungen vom Zubereiten und Verspeisen von teils einfachen, teils höchst
kulinarischen Gerichten, begegnen wir in mehreren Romanen unserer Krimireise,
zum Beispiel in Ella Danz „Steilufer“ (Nr. 27), in dem ein Restaurant am
Ostseestrand eine Rolle spielt. Dort werden die Gerichte, die im Roman
vorkommen, in einem Anhang mit sage und schreibe 15 Rezepten zum Nachkochen
vorgestellt. Oder in dem Roman „Freudsche Verbrechen“ von Eva Rossmann (Nr. 17),
in dem die Wiener Journalistin Mira Valensky detailliert beschriebene hoch exquisite
Gerichte zubereitet, die der Leser mit dem Buch vor der Nase in der Küche
nachvollziehen kann. Dient dies im Kontext der Romane zur Charakterisierung der
Lebenswelt der Ermittler und Ermittlerinnen und gleichzeitig als retardierendes
und gleichwohl unterhaltendes Element im Verlauf der Ermittlungen, so sagt dies
natürlich auch etwas über das Lesepublikum dieser Romane aus, das sich offenbar
mit solchen kulinarischen Einlagen gut unterhalten fühlt.
Es gibt
sogar Romane und ganze Buchreihen, in denen sich dieser Aspekt sozusagen
verselbständigt, zum Beispiel die Krimis von Carsten Sebastian Henn, die mit
ihren Titeln „In vino veritas“, „Vinum Mysterium“ und „In dubio pro vino“
deutlich machen, worum es geht. Beigefügt sind seinen Eifel-Krimis, wie er sie
im Untertitel nennt, touristische Karten des Ahrtals mit Standorten von
Weingütern und guten Restaurants. Im Anhang werden die besten Cafés des Ahrtals
vorgestellt und natürlich auch ein paar Rezepte, zum Beispiel für
Ahr-Spätburgunderkuchen. Und natürlich hat Carsten Henn auch „Henns Weinführer
Ahr“ herausgegeben mit Informationen zu Geschichte, Lagen, Weinen und
Reisetipps.
Aus
pädagogischen, didaktischen und sogar juristischen Gründen erscheint mir diese
Variante der Regionalkrimis nicht geeignet für den Schulgebrauch. Für den
akademischen Gebrauch könnte man ja mal drüber nachdenken. Allerdings sind
diese Romane auch unter literarischen Kriterien sehr mässig und ich habe deshalb
keinen in meine Liste aufgenommen.
Und auch
hier gibt es noch eine Steigerung bei dem Teil des deutschen Publikums, der
sich nicht mit Romanen und Fernsehkrimis begnügen will: man will selbst teilhaben
am kriminellen Geschehen, aber auf bequeme und genüssliche Manier. Das
Krimi-Dinner-Event, bei dem man selber Teil einer Krimihandlung wird, feiert Konjunktur
in deutschen Restaurants, und natürlich möglichst in historisch-romantisch-gruseliger
Umgebung wie Burgen und Schlössern. Sie können auf der Website Krimi a la carte
eine Auswahl der Möglichkeiten sehen:
Dinnerkrimis:
www.krimi-a-la-carte.de (Krimi und
Dinner anklicken)
Der Krimi
als gespielte dramatische Handlung: das bringt uns schon eher zurück in die
Welt der Didaktik, der Schule und des lebensnahen Lernens. Ich komme noch
darauf zurück.
5 Krimitourismus:
Eifelkrimis
Wir
bleiben noch kurz in der Eifel. Einer der ersten Autoren und in jedem Fall der
erfolgreichste, der sich mit höchster Intensität ein und derselben Region
zugewandt hat, ist Jacques Berndorf. Dieser ehemalige Journalist, der selber in
der Eifel lebt, hat seit 1989 circa 20 Eifelkrimis veröffentlicht, die in einer
Gesamtauflage von etwa 2,5 Millionen Exemplaren erschienen sind. Er ist der
unbestrittene Eifelkrimi-Guru. Der Ermittler in all diesen Krimis ist der
Journalist Siggi Baumeister, das Alter Ego von Jacques Berndorf.
Seinen
Erstling mit dem Titel „Eifel-Blues“ aus dem Jahre 1989 finden Sie in der Liste
unter Nr. 7. Dies ist ein Krimi aus der Endphase des Kalten Krieges. Im hochgerüsteten
Westdeutschland befinden sich hunderte militärischer Depots der Bundeswehr und
der Alliierten. Unter den Hügeln der Eifel liegt die geheime Kommandozentrale
der Bonner Bundesregierung für Kriegszeiten. In dieser Umgebung spielt Eifel-Blues,
der auf amazon.de mit folgendem Text angepriesen wird:
Der berühmte erste Baumeister-Krimi! Drei Tote neben
einem scharf bewachten Bundeswehrdepot: Verkehrsunfall? Spionageaffäre?
Eifersuchtstragödie? 'Eine Eifel, völlig in der Hand der Bundeswehr,
angesiedelt um Giftgasdepots, abhängig von betrunkenen Soldaten, überwacht von
MAD-Schurken. Dazwischen nun der Journalist Baumeister, der eigentlich nur
seine Ferien im ehemaligen Bauernhaus genießen will.' 'Ein Buch voller Wut'
'Ein Krimi von der echten Art, und das mit jeder Menge Eifelkolorit.'
MAD
bedeutet Militärischer Abschirmdienst. Teile der Handlung spielen auch im
Verteidigungsministerium in Bonn. Auch in späteren Krimis von Berndorf spielen
die Geheimdienste, BND, CIA, Verfassungsschutz, Bundeswehr und Nato eine Rolle
(z.B. Eifel-Feuer, 1997). Berndorf arbeitet eine ganze Reihe von Themen ab:
Drogenhandel (Eifel-Schnee, 1996), Giftmüllskandale (Eifel-Müll, 2000),
Korruption (Eifel-Filz, 1995) und Rechtsradikalismus (ausserhalb der
Eifel-Reihe, thematisch im Zusammenhang mit der Barschel-Affäre von 1987: Eine
Reise nach Genf, 1993, unter Nr. 7)
Berndorf
beschreibt die Schauplätze seiner Romane akribisch genau. Hier steht jeder Baum
in der Eifel dort, wo er auch wirklich steht. Wenn nicht, dann bekommt er Post
von noch akribischeren Lesern. Der Erfolg seiner Eifel-Krimis hat die lokale
Touristik-Szene dazu veranlasst, Karten und rekreative Zielpunkte für einen
Eifelkrimi-Wanderweg herauszugeben.
Steigerung: www.tourismuskrimi.de
Sie mögen
dies komisch oder absurd finden, aber dieser Trend hat neben seinen
profitorientierten und sich selbst feiernden Formen auch sehr innovative,
völkerverbindende Varianten: eine solche Form der qualitativen Steigerung
erleben wir heute in unserem letzten Programmpunkt mit dem gemeinsamen Krimi
des deutschen Autors Thomas Hoeps und seines niederländischen Kollegen Jac.
Toes. Vielleicht ist es Ihnen schon mal aufgefallen: wer im Internet Landkarten
sucht (oder auch in gedruckter Form und in Atlanten), die grenzüberschreitend die
Regionen zwischen zwei Ländern zeigen, findet das einfach nicht. Die Darstellungsweisen
von Geographie und Geschichte sind noch überaus stark der nationalen Ideologie
des 19./20. Jahrhunderts verpflichtet. Die EU hat mit ihrer Politik der
Euregios in den europäischen Grenzbereichen hier wohl deutliche Zeichen
gesetzt, die aber bei der breiten Bevölkerung noch nicht so richtig
wahrgenommen werden. Dennoch häufen sich die Beispiele von
grenzüberschreitenden Aktivitäten, Projekten, Begegnungen auch im sich selbst
organisierenden kulturellen Bereich. Und das ist nun auch beim Regionalkrimi
angekommen. Was wir heute am Ende des Nachmittags erleben dürfen, ist eine
historisch einzigartige literarisch-kulturelle Koproduktion, der Roman Nach allen Regeln der Kunst bzw. in
seiner niederländischen Ausgabe Kunst
zonder genade.
Er spielt
am Niederrhein beiderseits der deutsch-niederländischen Grenze: Museum
Abteiberg, Mönchengladbach; Museum voor Moderne Kunst, Arnhem; Lehmbruck
Museum, Duisburg; Museum van Bommel van Dam, Venlo; Museum Het Valkhof,
Nijmegen, Museum Kurhaus, Kleve; Museum Schloss Moyland; Haus Lange, Krefeld
Rolf
Patati, Kunstrestaurateur und Kommissarin Micky Spijker
Crossart
– Route Moderne Kunst: 10 Museen am Niederrhein/Nederland
Für
diesen Trend gibt es noch eine Reihe weiterer Beispiele.
6 Grenzüberschreitende
Krimis
Deutschland-Frankreich:
Wolfgang Brenner, Bollinger und die Friseuse (Nr.8)
Deutschland-Schweiz:
Jacques Berndorf, Die Reise nach Genf (Nr.7)
Deutschland-Österreich:
Eva Rossmann, Freudsche Verbrechen (Nr. 17)
Deutschland-Österreich:
Thomas Glavinic, Der Kameramörder (Nr. 16)
Deutschland-Polen:
Marek Krajewski, Festung Breslau (Nr. 21)
7 Funktionswandel
der Zeit:
Gegenwart der Geschichte, Geschichte
der Gegenwart
Bernhard
Schlink und Walter Popp, Selbs Justiz (Nr. 9)
Wolfgang
Schorlau, Die blaue Liste (Nr. 11)
Robert
Gross, Grafeneck (Nr. 12)
Christian
von Ditfurth, Mann ohne Makel (Nr. 28)
Horst
Eckert, Purpurland (Nr. 4)
Historischer
Science-Fiction-Krimi: Rolf Hülsebusch, Nekropolis Cologne (Nr. 5):
Als 1945
die amerikanischen Streitkräfte Köln verwalten, wird vom Stadtkommandanten
Colonel Patterson und dem Bürgermeister Konrad Adenauer beschlossen, die
zerbombten zwei Quadratkilometer der Kölner Innenstadt als Mahnmal des Krieges
unrestauriert zu lassen. Mit der Zeit entwickelt sich diese Nekropolis Cologne
zu einem düsteren Disneyland.
Ein ungewöhnlicher Roman, der eine deutsche Parallelwelt aufbaut, wie sie auch hätte gewesen sein können.
Ein ungewöhnlicher Roman, der eine deutsche Parallelwelt aufbaut, wie sie auch hätte gewesen sein können.
8 Verwischte
Grenzen: literarische Krimis
Natürlich
sind die high culture Autoren auch in früheren Zeiten schon durch einzelne
Krimis aufgefallen. Friedrich Dürrenmatt, Der Richter und sein Henker (1952)
und Der Verdacht (1953) sind wohlbekannte Beispiele im Lesekanon der
Niederlande. Aber auffällig ist in den letzten Jahren die Häufung von jüngeren
Autoren aus der ersten Reihe, die den Krimi als Grundmuster für ihre neuen
Romane nehmen:
Juli Zeh,
Schilf (2007),
Thomas
Hettche, Der Fall Arbogast (2001),
Judith
Kuckart, Die Verdächtige (2008),
Thomas Glavinic,
Der Kameramörder (2002) (Nr. 16)
9 Die Verschmelzung
von Heimat- und Gesellschaftsroman
In der
Sekundärliteratur und in Interviews mit Autoren und Kritikern wird bei der
Analyse des Phänomens des Regionalkrimis häufig darauf verwiesen, dass es seit
Ende der 80er Jahre um eine neue Phase des Krimis geht, in der sich triviale
Formen des Heimatromans mit bildungsbürgerlichen Formen des Gesellschaftsromans
vermischen. Diese Feststellungen – deren Grundtendenz ich übrigens bestätigen
möchte - werden meistens nur ansatzweise unterbaut. Ich kann hier nur mit ein
paar Stichworten andeuten, in welche Richtung eine tiefergehende Analyse gehen
müsste:
Die
inhaltliche Ausrichtung der Krimis in den letzten Jahrzehnten entspricht – und
das ist auch ganz logisch – den herrschenden Trends im selbstreflexiven Diskurs
der deutschen Gesellschaft der jeweiligen Zeit: das sind Paradigmen, die den
öffentlichen Diskurs betreffen: sowohl in den Feuilletons der Zeitungen und
Zeitschriften als auch in den Geisteswissenschaften:
60/70er
Jahre: Gesellschaft Soziokrimi
80/90er
Jahre: Identität Regionalkrimi
(neuer nationaler Heimatdiskurs)
90/00er Jahre:
Globalisierung Regionalkrimi (historisch
reflektierender und grenzüberschreitender Heimatdiskurs)
Verschmelzung
eines Genres der Populärkultur mit der Bildungsbürgerliteratur:
Intellektualiserung der Populärkultur und Trivialisierung der Hochkultur
Regionalkrimi:
Symptom einer dritten Heimatbewegung:
-
Romantik
-
Kaiserreich
-
Berliner Republik
Ausnahme:
neue Bundesländer
10 Funktionswandel
des Ortes: Berlinkrimis (22-25)
Jan Eik,
Der siebente Winter (1989) ***
Berlin/DDR,
Kombinatsleiter Siegfried Korn und Major Peter Fiebig, Diebstahl im
Industriekombinat
Dagmar
Scharsich, Die gefrorene Charlotte (1993) *****
Ostberlin,
August bis November 1989, Stasi
Berlin
Mitte
Pieke Biermann,
Herzrasen (1993) *****
Berlin/Scheunenviertel
1992
Anne
Chaplet, Nichts als die Wahrheit (2000) ***
Berlin/Rhön.Bundestagsabgeordnete
und Biobäurin Anne
Berlin,
Berlin Untergrund
Cora
Stephan, Ganz entspannt im Supermarkt. Liebe und Leben im ausgehenden 20.
Jahrhundert (1985)
11 Funktionswandel
der ErmittlerInnen: der Ermittler als Täter
Bernhard
Schlink, Selbs Mord (Nr. 9)
12 Didaktik
des Krimis
Hier nur
kurze Andeutungen. Am Dag
van Taal en Cultuur (30. Januar 2009) didaktische Modelle für die Arbeit mit Krimi
im Landeskunde- und Literaturunterricht. Und dies unter Einbeziehung von
Jugendkrimis, Hörspielen und Hörbüchern
Klassenprojekt
Deutschland, eine Krimireise
Krimis
rund um ein Thema: Terrorismus, Umweltschutz, Nazi-Vergangenheit, DDR-Vergangenheit,
eine bestimmte Region/Stadt mit ihren landschaftlichen/thematischen
Besonderheiten (evtl. mit Exkursion)
13 Krimi-Informationen
http://pagesperso-orange.fr/arts.sombres/polar/dossiers_sommaire_de.htm
(europolar: krimis in Europa)
14 Auf der
Krimi-Couch: Nicht Vormärz, sondern Biedermeier?
Manche
von Ihnen werden bei den Passagen meines Vortrags über Kochkünste im Krimi
gedacht haben: na, dies hat aber wirklich nichts mehr mit Heinrich Heine und
seinem Wintermärchen zu tun. Dies riecht vielmehr nach deutschem Biedermeier:
der deutsche Michel räkelt sich genüsslich auf seiner Couch und liest mit
leichtem Schaudern vom Bösen in der Welt. Für einen Teil der Krimis und für
sehr viele Regionalkrimis trifft das auch zu. Aber in ihren besseren Produkten
erfüllt die deutsche Krimi-Welt sehr wohl eine kritische Vormärz-Funktion. Sie
haben von mir einige Beispiele gehört und werden von Elfriede Müller noch
einige echte Perlen präsentiert bekommen.
Und
Heines Humor, Heines Ironie? Damit steht es hier in der Tat nicht zum besten.
Nur zwei meiner Beispiele sind in einem durchgehend ironischen Stil
geschrieben: Carlo Schäfer, Im falschen
Licht (2002, Nr. 10) und Max Bronski,
München Blues (2007, Nr. 15). Und ein
Beispiel für sehr biedermeierliche Humorvorstellungen bieten Volker Klüpfel und
Michael Kobr, zum Beispiel in Seegrund
(2006, Nr. 14). Die Romane dieses Autorenduos sind denn auch Publikumslieblinge
und erreichen regelmässig die Spiegel-Bestsellerliste. Aber ihr Publikum ist
ein anderes als die Leser der kritischen Krimis von Bernhard Schlink, Uta-Maria
Heim, Wolfgang Schorlau und Christian von Ditfurth. Und in Sachen Humor dürfen wir
auch noch gespannt sein auf Thomas Hoeps und Jac. Toes.
Deutschland, eine Krimireise: Auswahlliste
(Peter Groenewold, Rijksuniversiteit Groningen)
1 Peter
Gerdes, Ebbe und Blut (2006) **
Leer/Ostfriesland; Journalistin Sina
Gersema/Hauptkommissar Stahnke,
Windkraftanlagen/Umweltschützer/Industrieinteressen
Alternativen: Ulrich Hefner, Der Tod kommt in
Schwarz-Lila (2004), K.-P. Wolf, Ostfriesenblut (2008)
2
Hiltrud Leenders, Michael Bay und Artur Leenders, Die Schanz (2004) ***
Schenkenschanz/Niederrhein; Kommissariat Kleve,
Hochwasser 2002
Alternativen: Thomas Hoeps/Jac. Toes, Nach allen Regeln
der Kunst/Kunst zonder genade (2007)
3 Jörg
Juretzka, Prickel (1991) *****
Mühlheim/Ruhrgebiet; Privatdetektiv Kristof Kryszinski,
Ruhrpottkrimi, Kleinkriminalität
Alternative: Jörg Juretzka, Sense (2006)
4 Horst
Eckert, Purpurland (2005) *****
Düsseldorf/NRW; Kommissarin Anna Winkler, Afghanistan
(Bundeswehr)
Alternative: Horst Eckert, 617 Grad (2005)
5 Rolf
Hülsebusch, Nekropolis Cologne (2006) ***
Köln/NRW; What-if-Roman: bombardiertes Köln als Monument
6 Jakob
Arjouni, Ein Mann ein Mord (1992) *****
Frankfurt/Hessen; Privatdetektiv Kayankaya,
Ausländerfeindlichkeit, Korruption
7
Jacques Berndorf, Eifel-Blues (1989) und Die Reise nach Genf (1993) ****
Eifel/Rheinland-Pfalz, mit Ausflug ins Münsterland;
Journalist Siggi Baumeister, Kalter Krieg, Bundeswehr/MAD
Alternativen: Eifel-Blues ist der erste von mehr als 20
Eifelkrimis von Jacques Berndorf.
8
Wolfgang Brenner, Bollinger und die Friseuse. Ein Grenzfall (2007) ****
fiktiver deutsch-französischer Grenzort/Saarland;
dt.-frz. Geschichte, Kommissar Bollinger
9
Bernhard Schlink und Walter Popp, Selbs Justiz (1987) *****
Mannheim/Baden-Württemberg; Privatdetektiv Gerhard Selb,
Rheinische Chemiewerke (RCW) = BASF, Nazivergangenheit: Zwangsarbeiter
10
Carlo Schäfer, Im falschen Licht (2002) ****
Heidelberg/Baden-Württemberg; Hauptkommissar Theuer,
Humor!!
11
Wolfgang Schorlau, Die blaue Liste (2003) *****
Stuttgart/Baden-Württemberg, Privatdetektiv Georg Dengler,
Terrorismus, Vereinigung
Alternativen: Uta-Maria Heim, Das Rattenprinzip (1991), Die
Kakerlakenstadt (1993)
12
Robert Gross, Grafeneck (2007) *****
Buttenhausen/Schwäbische Alb; Grundschullehrer und
Heimatkundler Mauser, Euthanasie Nazizeit
Alternative: Ulrich
Ritzel, Der Schatten des Schwans (1999)
13 Ulrich
Ritzel, Schwemmholz (2000) *****
Ulm/Bodensee, Baden-Württemberg; regionale Wirtschaft, Kommissar
Berndorf
14
Volker Klüpfel und Michael Kobr, Seegrund (2006) **
Kempten/Füssen/Allgäu, Bayern; Kommissar Kluftinger, Nazivergangenheit
(Humor??)
15 Max
Bronski, München Blues (2007) ***
München/Bayern; Antiquitätenhandler Wilhelm Gossec,
Korruption, Immobilien, Humor/Ironie
Alternative: Max Bronski, Schampanninger (2008)
16
Thomas Glavinic, Der Kameramörder (2001) *****
Steiermark/Österreich; Medienkrimi
17 Eva
Rossmann, Freudsche Verbrechen (2001) ****
Wien/Österreich; Journalistin Mira Valensky, Arisierung
von Immobilien/Restitutionsfrage
18 Andrea
Maria Schenkel, Tannöd (2007) ****
Dorf in der Oberpfalz/Bayern
19 Marc
Buhl, Der rote Domino (2002) ****
Freiburg/Baden-Württemberg und Weimar/Thüringen; Goethe-Krimi,
2001/1945/1776
20
Mitra Devi und Bea Hurwiler, Der Spinner von Leipzig. Ein illustrierter Krimi
(2007) **
Leipzig/Sachsen; Foto-Hommage an Leipzig-Lindenau, Schweizer
Krimiautorin
21 Marek
Krajewski, Festung Breslau (2006) ****
Breslau März 1945/1950/1954; Kriminalrat Hauptmann Mock,
sowjetische Belagerung von Breslau
22 Jan
Eik, Der siebente Winter (1989) ***
Berlin/DDR; Ende der 80er, Kombinatsleiter Siegfried Korn
und Major Peter Fiebig, Diebstahl
23
Dagmar Scharsich, Die gefrorene Charlotte (1993) *****
Berlin/DDR; August bis November 1989, Stasi
24
Pieke Biermann, Herzrasen (1993) *****
Berlin/Scheunenviertel nach der Wende
25 Anne
Chaplet, Nichts als die Wahrheit (2000) ***
Berlin/Rhön; Hauptstadt Berlin, Bundestagsabgeordnete und
Biobäurin Anne
26
Christa Bernuth, Innere Sicherheit (2006) ****
Mecklenburg/Ostseeküste/Ostberlin; DDR Ende der Achtziger
Jahre, ABV Martin Beck
27 Ella
Danz, Steilufer (2007) ***
Lübeck/Lübecker Bucht, Schleswig-Holstein; Kommissar
Georg Angermüller, Hobbykoch, Neonazis/Ausländerhass; Alternative: Dietmar
Lykk, Totenschlüssel. Küsten Krimi (2008)
28
Christian von Ditfurth, Mann ohne Makel (2002) *****
Hamburg/Lübeck; Historiker Dr. Stachelmann als Detektiv, Nazi-Vergangenheit
Alternativen: Christian von Ditfurth, Mit Blindheit
geschlagen (2004), Schatten des Wahns (2006)
29 Robert
Brack, Schneewittchens Sarg (2007) ***
Hamburg; Detektivin Lenina Rabe, (fiktive) „Dänische
Befreiungsfront“, Altona, Stadtteilentwicklung
30
Thomas B. Morgenstern, Der Milchkontrolleur (2005) ****
Stade/Niedersachsen
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen