Auf den ersten zehn Seiten des Romans "Die Stunde zwischen Frau und Gitarre" ist bereits deutlich
geworden, dass die Hauptfigur, die 21jährige Behindertenpflegerin Natalie, in ihrer Weltwahrnehmung und
Lebensführung allerlei kleinere und größere Tics aufweist. Was dort ouvertürenhaft aufscheint, wird in den nächsten
hundert Seiten vielfältig ausgeweitet, wobei das Spektrum von kleinen
Angewohnheiten wie sie jeder von sich kennt bis hin zu eklig-exzessiven Dingen
reicht.
So widmet Natalie
sich nachts dem “Streunen”: Sie befriedigt an dunklen Orten wahllos ausgesuchte
Männer mit dem Mund und nimmt die Geräusche und Äußerungen, die dabei entstehen, mit ihrem iPhone
auf. Mit Hilfe einer App, die ermöglicht, digitale Tonaufnahmen wie alte
Audiokassetten zu behandeln, bearbeitet sie die Aufnahmen einer Nacht durch
Vor- und Zurückspulen, Beschleunigungen, Schnitte, Übergänge und erzeugt einen
Mix des Ganzen: “Die Anwendung vermittelte ihr ein intensives Gefühl von
Geborgenheit, obwohl sie als Kind gar keine eigenen Hörspielkassetten besessen
hatte” (S. 35). Den “Mix eines besonders schönen Abends” hat der Autor
freundlicherweise für uns transkribiert (S. 36f.). Er ist leider zu lang, um
ihn hier zitieren zu können, aber es möge deutlich sein, dass es sich um eine
völlig neue Textsorte handelt.
Für uns viel
normaler und geläufiger ist dagegen der Verlauf eines Chats im Programm
Skype, bei dem die Reihenfolge der eingetippten Fragen und Antworten
durcheinander kommt und in der Eile des Schreibens allerlei teils
sinnentstellende Fehler im Text und Irritationen bei den Chatteilnehmern entstehen
(S. 75-79).
Nach der Arbeit schaltet Natalie zuhause immer ihren Fernseher und ihren Laptop an und stellt beide auf dieselbe Live-Übertragung ein: “Durch die Verzögerung des Internetstreams kam es zu einer angenehmen Verdoppelung der Geräusche und Äußerungen, zu einem Echo. Das Zimmer wurde dadurch noch etwas räumlicher als sonst. Fast wirkte es so, als seien Eltern da, die aufeinander einreden“ (S. 56). Überhaupt guckt sie nur Live-Sendungen, sie braucht das Gefühl des „Jetzt“.
Und so gibt es vielerlei, was Natalies intimes Verhältnis zu den Medien des 21. Jahrhunderts zeigt. Sie reinigt zum Beispiel ihr iPhone, indem sie es – zum Entsetzen ihrer Kollegin – einfach ableckt (S. 100). Und „manchmal ließ es sich nicht vermeiden, dass sie alle möglichen Dinge antippte wie Mikrofone. Ein genereller Soundcheck der Welt” (S. 156).
Als Kind hatte
Natalie epileptische Anfälle, das erste Mal in den Ferien am Strand. Clemens Setz erfindet
eine Sprache dafür:
“ein Dröhnen und
Rollen ringsum, der ganze Horizont wurde aurig und weich, es war alles
um-sie-herum und zwirn und zaun und blau, die Stelle unter der Zunge wurde rot
wie ein Nebelhorn, dann weit-zornige, dünenhohe Übermacht und dazwischen, winzig
kahn und versinkend: sie selbst, ameisengroß, Apfelkern… Dann das träg-schalige Erwachen im
warmen Sand, Menschenbilder und Tiere bewegten sich in der Brandung. Langsam
und polaroid entwickelte sich ihr Bewusstsein, kam zurück, bildete
Anhaltspunkte, Zahlen und Figuren” (S. 84).
Clemens Setz (Foto: Paul Schirnhofer, SV) |
Setz liebt seine
Figur, auch wenn er sie nicht retten kann. Er schenkt ihr seinen Kosmos,
vielleicht, um sich selbst zu retten. Die erste Rezension, die davon eine
Ahnung hat, ist die von Angela Leinen in der “taz”.
Und ja: Sind sie
Ihnen auch aufgefallen, die “Zahlen und Figuren” im letzten Zitat oben? Das ist
ja doch eine massive Anspielung auf die deutsche Romantik. Aber ich habe noch
achthundert Seiten vor mir.
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