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Montag, 7. September 2015

Clemens Setz, Die Stunde zwischen Frau und Gitarre. Ein Lesetagebuch (3) - Natalie

Auf den ersten zehn Seiten des Romans "Die Stunde zwischen Frau und Gitarre" ist bereits deutlich geworden, dass die Hauptfigur, die 21jährige Behindertenpflegerin Natalie, in ihrer Weltwahrnehmung und Lebensführung allerlei kleinere und größere Tics aufweist. Was dort ouvertürenhaft aufscheint, wird in den nächsten hundert Seiten vielfältig ausgeweitet, wobei das Spektrum von kleinen Angewohnheiten wie sie jeder von sich kennt bis hin zu eklig-exzessiven Dingen reicht.
So widmet Natalie sich nachts dem “Streunen”: Sie befriedigt an dunklen Orten wahllos ausgesuchte Männer mit dem Mund und nimmt die Geräusche und Äußerungen, die dabei entstehen, mit ihrem iPhone auf. Mit Hilfe einer App, die ermöglicht, digitale Tonaufnahmen wie alte Audiokassetten zu behandeln, bearbeitet sie die Aufnahmen einer Nacht durch Vor- und Zurückspulen, Beschleunigungen, Schnitte, Übergänge und erzeugt einen Mix des Ganzen: “Die Anwendung vermittelte ihr ein intensives Gefühl von Geborgenheit, obwohl sie als Kind gar keine eigenen Hörspielkassetten besessen hatte” (S. 35). Den “Mix eines besonders schönen Abends” hat der Autor freundlicherweise für uns transkribiert (S. 36f.). Er ist leider zu lang, um ihn hier zitieren zu können, aber es möge deutlich sein, dass es sich um eine völlig neue Textsorte handelt.
Für uns viel normaler und geläufiger ist dagegen der Verlauf eines Chats im Programm Skype, bei dem die Reihenfolge der eingetippten Fragen und Antworten durcheinander kommt und in der Eile des Schreibens allerlei teils sinnentstellende Fehler im Text und Irritationen bei den Chatteilnehmern entstehen (S. 75-79).

Nach der Arbeit schaltet Natalie zuhause immer ihren Fernseher und ihren Laptop an und stellt beide auf dieselbe Live-Übertragung ein: “Durch die Verzögerung des Internetstreams kam es zu einer angenehmen Verdoppelung der Geräusche und Äußerungen, zu einem Echo. Das Zimmer wurde dadurch noch etwas räumlicher als sonst. Fast wirkte es so, als seien Eltern da, die aufeinander einreden“ (S. 56). Überhaupt guckt sie nur Live-Sendungen, sie braucht das Gefühl des „Jetzt“.

Und so gibt es vielerlei, was Natalies intimes Verhältnis zu den Medien des 21. Jahrhunderts zeigt. Sie reinigt zum Beispiel ihr iPhone, indem sie es – zum Entsetzen ihrer Kollegin – einfach ableckt (S. 100). Und „manchmal ließ es sich nicht vermeiden, dass sie alle möglichen Dinge antippte wie Mikrofone. Ein genereller Soundcheck der Welt” (S. 156).
Als Kind hatte Natalie epileptische Anfälle, das erste Mal in den Ferien am Strand. Clemens Setz erfindet eine Sprache dafür:

“ein Dröhnen und Rollen ringsum, der ganze Horizont wurde aurig und weich, es war alles um-sie-herum und zwirn und zaun und blau, die Stelle unter der Zunge wurde rot wie ein Nebelhorn, dann weit-zornige, dünenhohe Übermacht und dazwischen, winzig kahn und versinkend: sie selbst, ameisengroß, Apfelkern… Dann das träg-schalige Erwachen im warmen Sand, Menschenbilder und Tiere bewegten sich in der Brandung. Langsam und polaroid entwickelte sich ihr Bewusstsein, kam zurück, bildete Anhaltspunkte, Zahlen und Figuren” (S. 84).

Clemens Setz (Foto: Paul Schirnhofer, SV)
So hat Setz für alle Situationen eine angemessene Sprache, die sich jeweils ganz natürlich in seinen riesigen Erzählraum einfügt. Die meisten bisherigen Rezensenten gehen kaum darauf ein, obwohl hier von großer Meisterschaft die Rede sein müsste: Wie hier in der über tausend Seiten durchgehenden personalen Perspektive alles Erzählte in stimmiger Weise mit Natalies teils wirrer, teils klarsichtiger, teils rührender Weltsicht formuliert wird, zwischendurch die vielen Dialoge, Gespräche aus der Arbeitswelt im Behindertenheim (z.B. Natalies erste Teamsitzung, S. 85-96), die Kapitelanfänge (z.B. die Katzen auf S. 156), das ist schon großartig.
Setz liebt seine Figur, auch wenn er sie nicht retten kann. Er schenkt ihr seinen Kosmos, vielleicht, um sich selbst zu retten. Die erste Rezension, die davon eine Ahnung hat, ist die von Angela Leinen in der “taz”.


Und ja: Sind sie Ihnen auch aufgefallen, die “Zahlen und Figuren” im letzten Zitat oben? Das ist ja doch eine massive Anspielung auf die deutsche Romantik. Aber ich habe noch achthundert Seiten vor mir.

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