Ab und zu setze ich Teile meiner Dissertation in dieses Blog und freue mich, wenn sie auf diese Weise neue Leser findet. So ist das Kapitel "Erfinde einen Deutschen" seit Oktober 2013 mehr als zweihundert Mal angeklickt worden, davon 130 Mal während der letzten zwei Wochen. Offenbar findet es irgendwo in der Deutsch-als-Fremdsprache-Welt gerade Verwendung. Das finde ich schön und macht mich neugierig. Ich vermute, dass das aktuelle Interesse aus den USA kommt.
Heute - aus gegebenem Anlass der wahrscheinlich gewordenen deutsch-niederländischen Fußballbegegnung am nächsten Sonntag - meine vergleichenden Identitätskapitel zur deutschen und niederländischen Nachkriegszeit, auch wenn da der Fußball nur am Rande vorkommt. Zur deutsch-niederländischen Fußballrivalität gibt es inzwischen einen eigenen Wikipedia-Artikel.
Peter
Groenewold, Land in Sicht. Landeskunde als Dialog der Identitäten am
Beispiel des deutsch-niederländischen Begegnungsdiskurses, Groningen
1997, S. 123-136
4.3.3.7 Deutschland 1945-1995[1]
Die Zeit von 1945 bis heute
überblickend, fällt es schwer, von einer kohärenten kollektiven Identität der
Bundesrepublik Deutschland zu sprechen. Zu verschieden sind die sozialen und
psychophysischen Welten der Deutschen, die sich in den fast fünfzig Jahren um
die drei gesellschaftlichen Knotenpunkte der Nachkriegszeit gebildet haben:
das Jahr 1949 (Gründung der BRD und DDR), das Jahr 1968 (Studentenrevolte) und
die Jahre 1989/90 (Vereinigung der beiden deutschen Staaten).
Im
folgenden sollen der Prozeß der Entkollektivierung der kulturellen Identität
und zugleich auch der Wandel der Inhalte kultureller Gruppenidentitäten in
der Bundesrepublik Deutschland im Überblick dargestellt werden.[2]
Die
Alliierten ermöglichten und kontrollierten mit der Politik der "re‑education"
in ihren Besatzungszonen das neue kulturelle Leben in Westdeutschland. Vor
allem konservative alte deutsche Männer waren es, die nach 1945 die ersten
Erklärungen für das Unfaßbare gaben, das die Deutschen zu verantworten hatten.
Die Generation des Ersten Weltkriegs, die noch im Kaiserreich aufgewachsen
war, griff auf ihre traditionellen Kulturmuster zurück und leistete angesichts
der moralischen Katastrophe erste intellektuelle und seelsorgerische
Lebenshilfe. Die Untaten des Nationalsozialismus wurden einer allgemeinen
abendländischen Vermassung und Verpöbelung angelastet. Damit ließen sich die
Deutschen und speziell das deutsche Bildungsbürgertum aus dem Zentrum der
Schuldzuweisung entfernen. Der Entnationalisierung der Schuldfrage diente
die schnelle Propagierung eines vereinigten Westeuropa mit den USA als
Schutzmacht.
Der
fatale Lauf der Geschichte und der Kulturverfall wurde aus dem allgemeinen
Abfall von Gott erklärt, der 1789 mit der Französischen Revolution manifest
geworden sei. Dagegen wurden "elementare Tugenden", "tiefe
Verehrung des Geistigen und der Schönheit" und "dogmenlose
Frömmigkeit" ins Feld geführt. Der Historiker Friedrich Meinecke schlug zu
einer kulturpädagogischen Umerziehung der deutschen Volksmassen die
Einrichtung von "Goethegemeinden" vor, in denen sonntags eine Art
kultureller Dienst stattfinden sollte.
Die
Vorstellungen einer "neuen Aristokratie des Geistes" (E. Jünger)
knüpften da an, wo schon zwei Generationen vorher die Entwicklungen in die
falsche Richtung liefen. Auch der Neoliberale Wilhelm Röpke, der sich unter
keinen Umständen auf die vulgäre Theorie vom "ewigen deutschen Gestapoagenten"
einlassen will, kommt über den "Geist der deutschen Sprache" zu sehr
dezidierten Aussagen über den "ewigen Deutschen": "Es ist das
Irrationale, das [...] immer wieder in der Geschichte der deutschen Seele
durchbricht [...]. Unablässig scheint der Deutsche in seiner Sprache bemüht,
bis zu den äußersten Regionen des noch Sagbaren vorzustoßen, und wenn er
darüberhinaus gelangt, so greift er in die Sphäre des sprachlich nicht mehr
adäquat zu Fassenden, in der er eine einzigartige Stellung unter den Völkern
einnimmt: der Lyrik, der Metaphysik und, als letzter Stufe, der Musik. Hier
liegen für ihn die höchsten Möglichkeiten, aber zugleich auch die schwersten
Gefahren" (Röpke 1945: 119).
Die
mittlere und vor allem die jüngere Generation, die militärisch und moralisch
geschlagen aus dem Krieg zurückkehrte, schwieg zum großen Teil, und sie
schwieg noch lange Zeit. Die Lehre der deutschen Klassik, die Botschaft des
Schönen, Wahren, Guten bedeutete ihr nichts. Die Bruchstücke ihrer subjektiven
Identität fanden viele in der Lebenseinstellung des Existentialismus. Albert
Camus und Jean‑Paul Sartre gehörten in den fünfziger Jahren zu den meistgelesenen
Autoren im westdeutschen Bildungsbürgertum.
Die
politischen Mythen der Deutschen, mit denen in der symbolischen Politik des
zweiten Kaisserreich rückwirkend eine 2000jährige deutsche Geschichte
begründet werden sollte, und die im Dritten Reich Hitlers pervertiert worden
waren, spielten in der nationalen und kulturellen Identität der beiden
Nachkriegsgenerationen keine Rolle mehr. Alles national Pathetische und
Monumentale war tabuisiert. Die nationalen lieux
de mémoire des 19. Jahrhunderts wurden "folklorisiert" (vgl.
Dörner 1995), d.h. nahezu vollständig aus der politischen Sphäre herausgezogen:
"Tourismus statt Nationalismus, so könnte man den Wandel beschreiben"
(Dörner 1996: 256).
Aber
nicht Schuldgefühle, Trauer und Verzweiflung beherrschten den Alltag, sondern
eine merkwürdige Ungebrochenheit. Überlebt zu haben, war die erste Erfahrung
nach dem Kriege. Die später festgestellte "Unfähigkeit zu trauern"
(Mitscherlich) ist - als moralischer Vorwurf formuliert - die Rückprojektion
eines späteren Bewußtseinsstandes. Das Ausmaß des Verbrechens an der Menschheit,
das von Deutschen begangen worden war, wurde auf breiter Basis erst (und nur)
in der Generation von 1968, der Generation der Kinder der Täter, zu einem
Bestandteil der kulturellen Identität. Das ‑ politisch gesehen dumme - Wort von
der "Gnade der späten Geburt" (Helmut Kohl) konnte nur von einem
Vertreter der skeptischen Generation erfunden werden.
Auch
in der Politik waren es vor allem Angehörige der beiden ältesten Generationen,
die Verantwortung übernahmen. Der erste Bundeskanzler, Konrad Adenauer (1949‑1963),
war bei seinem Amtsantritt 73 Jahre alt. In seinen kulturpolitischen Vorstellungen
spielte ein bildungsbewußter, autoritärer, christlich‑abendländischer Konservatismus
noch eine Rolle. Unter seinem Wirtschaftsminister und späteren Nachfolger als
Bundeskanzler (1963‑1966), dem neoliberalen "Vater des Wirtschaftswunders"
Ludwig Erhard, setzte sich mehr und mehr die Ideologie der Entideologisierung
durch: Kultur und Kirche dienten immer weniger dem Ausdruck von Werten, immer
mehr allein dem förmlichen Ritual, der Repräsentation, dem feierlichen Rahmen
einer neureichen Gesellschaft, deren neue Bibel der "Neckermann‑Katalog"
war.
Der
Generation des Zweiten Weltkriegs und der "skeptischen Generation"
war alles Weltanschauliche verdächtig. Auf der Suche nach Lebenssinn stürzten
sie sich in die Arbeit des Wiederaufbaus. Fleiß und Leistung wurden ihre
obersten Werte. Kunst hatte ihren Ort weit weg vom Alltag, von Politik,
Gegenwart und unmittelbarer Vergangenheit. So wurde das "Wirtschaftswunder"
der erste positive Identifikationsmythos der Westdeutschen nach dem Kriege.
Die
durch das "Wirtschaftswunder" begünstigte Rekonstruktion der
Industriegesellschaft festigte zwar die vertikale Struktur in dem neuen
deutschen Staat, aber die durcheinandergewirbelten Verhältnisse ermöglichten
eine bisher ungekannte Aufwärtsmobilität. Durch die mehr als zehn Millionen
Vertriebenen aus den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reiches und die
Flüchtlinge aus der DDR spielten die regionalen Identitäten in Westdeutschland
eine immer geringere Rolle. Das neue landesweite Medium des Fernsehens
verstärkte diesen Trend seit den fünfziger Jahren. Unabhängig von sozialer und
regionaler Herkunft wurden Leistung und Erfolg zum Maßstab gesellschaftlichen
Prestiges.
Die
konsequente Westorientierung der BRD ist die Ursache einer der bedeutendsten
Identitätsrevolutionen in der neueren deutschen Geschichte. Die
"Verwestlichung" wird von der westdeutschen Nachkriegsjugend
akzeptiert: Amerikanischer Jazz und später der Rock 'n Roll, amerikanische
Literatur, die anglosächsische politische Philosophie und immer mehr Faktoren
des "American way of life" und der amerikanischen Warenkultur wurden
Bestandteil des Alltags der Zwanzig‑ und Dreißigjährigen.
Neben
der deutsch‑amerikanischen Achse, die vor allem in der Zusammenarbeit in der
NATO zum Ausdruck kam, erhielt innerhalb der entstehenden Europäischen
Gemeinschaft das Verhältnis der BRD zu Frankreich die höchste Priorität. Der
deutsch‑französische Freundschaftsvertrag von 1963 ermöglichte vielfältige
Kontakte und einen intensiven Jugend‑ und Kulturaustausch. Die "Erbfeindschaft"
ist aus dem Bewußtsein der deutschen Nachkriegsgenerationen völlig verschwunden.
Diese
Akzeptanz der westlichen Zivilisation und Alltagskultur bedeutete nicht, daß
die kritischen Intellektuellen der mittleren und jüngeren Generation mit der
Politik und dem Leistungsethos der christlich‑liberalen Mehrheit einverstanden
waren.
Der
"CDU‑Staat" der fünfziger und sechziger Jahre steht für den Wandel
von der "Kulturnation" zur "Wirtschaftsnation". Der
Begriff "Kulturnation" tauchte in den folgenden Jahrzehnten in jeder
Diskussion über die Einheit Deutschlands auf und wird in den achtziger Jahren
zum nationalen Deutungsmuster der linksliberalen Intelligenz:
"Eine deutsche historische Einheit, eine deutsche nationale Einheit kann es zur Zeit nur
auf der Ebene der Kulturnation geben;
sie ist heute kaum auf der Ebene einer Staatsnation oder einer politischen
Nation vorstellbar. In der Tat existiert eine klar erkennbare, von außen wie
von innen leicht zu umreißende Wirklichkeit deutscher Nationalkultur, auf die
sich die Bundesbürger, DDR-Deutsche und sogar Österreicher zumindest in bezug
auf ihre Schwerpunkte jederzeit einigen können" (Schulze 1987: 189). Die
Nationalkultur, die Hagen Schulze hier anführt, beruht auf einem hochkulturellen
Kulturbegriff, der auf Sprache und kulturelles Erbe abzielt. In diesem Sinne
ist die Kulturnation eine idealistische Abstraktion deutscher Intellektueller
der Teilungszeit gewesen, die gleichzeitig als Identifikationssurrogat und als
politisches Instrument zur Überwindung der Teilung gedient hat (vgl. z.B. Brunkhorst
1988 und Korte 1992).
Die
größte politische Wende in der Geschichte der Bundesrepublik war die
Regierungszeit des Sozialdemokraten Willy Brandt (1968 ‑ 1974), "des
ersten Kanzlers, der aus der Herrenreitertradition herausführte"
(Heinrich Böll). Brandts Kniefall in Warschau setzte ein bewegendes Zeichen
für die "Neue Ostpolitik" und die Einbeziehung der Moral in
politisches Handeln. So konnte Brandt durch seine Außenpolitik der politische
Vater der "vaterlosen Generation" (Mitscherlich) werden.
Eine
Fülle von innerdeutschen und weltweiten Entwicklungen bewirkten eine
Kulturrevolution der jüngeren Generation gegen das "Establishment"
des erstarrten, autoritären, kleinbürgerlichen westdeutschen Staates. Weitere
Faktoren spielten eine Rolle: die "Wohlstandsgeneration" verfügte
über mehr freie Zeit und finanzielle Mittel als jede andere Generation vor
ihr. Reisen in die west‑ und südeuropäischen Länder vergrößerten den
geographischen und kulturellen Raum, in dem sich die Identitätsbildung
vollziehen konnte.
Durch
die "Außerparlamentarische Opposition" oder kurz "APO", wie
sich die antiautoritäre Bewegung bald nannte, wurde ab 1968 eine
Enthierarchisierung der sozialen Milieus und eine Pluralisierung der
Lebensstile in der BRD eingeleitet. Im Laufe der siebziger Jahre entstanden
neue Gruppenidentitäten unter jungen Leuten, die ‑ zur großen Wut der
Etablierten ‑ nicht mehr bereit waren, ihre Normen von der vertikalen Leiter
der Wirtschaftsnation abzuleiten. Eine ganze Generation distanzierte sich von
der Welt ihrer Väter. Das Lebensalter wurde in verstärktem Maße milieubildend:
"Traue keinem über dreißig", hieß der berühmte Spruch der
Alternativkultur. Er war nicht als Witz gemeint.
Die
kulturelle Identität der 68er wurde von einer neomarxistischen Politkultur und
Revolutionsromantik sowie von der internationalen Popkultur bestimmt. Leben,
Sexualität und politische Aktion sollten identisch werden: das war die
Botschaft der "Kommunen". Die neuen Subkulturen waren antiautoritär,
nonkonformistisch, spontan, aktionistisch und mehr und mehr nach innen
orientiert. Bestand die zunächst sichtbare Seite ihres Januskopfes in der
Politisierung, die in ihren extremen Formen zum Terrorismus der siebziger
Jahre führte, so überwog schon bald das andere Gesicht der "Neuen
Subjektivität", einer neuen deutschen Innerlichkeit mit hochabstraktem
Reflexionsbedürfnis.
Die
"Friedensbewegung" vermochte in Nachfolge der APO 1983 Millionen
junger Menschen zu den größten politischen Demonstrationen in der Geschichte
der BRD auf die Straße zu bringen. Im selben Jahr zog die neue ökologische
Partei der "Grünen" erstmals in den Bundestag ein. Beide Richtungen
reaktivierten ein negatives deutsches Deutungsmuster: eine diffuse
existentielle "Angst", die von der Umweltbewegung mit der bedrohten
Natur, dem "sterbenden" Wald verbunden wurde (vgl. Schama 1995:
120-134).
In
beiden deutschen Staaten hatte in den achtziger Jahren "die deutsche
Frage" Konjunktur. In der BRD wurde eine intensive Identitätsdebatte
geführt (vgl. Weidenfeld 1983). Jahrestage historischer Ereignisse und
Todestage berühmter Personen wurden mit aufwendigen Ausstellungen begangen:
Anhand der Themen Preußen, 40 Jahre Kriegsende, Friedrich der Große und
Bismarck zeigte sich ein neues Interesse an deutscher Geschichte. Preußen war
in West und Ost lange Zeit kein Thema gewesen. In der Reflexion gemeinsamer Geschichte
kam es zu einer Annäherung west- und ostdeutscher Positionen. Die große
Bismarckbiographie des DDR-Historikers Ernst Engelberg erschien - und das war
ein Novum - gleichzeitig in beiden deutschen Staaten.
Neben
den neuentdeckten Gemeinsamkeiten gab es neue Elemente der Trennung: Die
modernen westlichen Gesellschaften haben sich in den achtziger Jahren in einem
Modernisierungsschub durch die neuen elektronischen Medien zur
"Informationsgesellschaft" entwickelt. Damit einher ging eine starke
formale Individualiserung in allen Lebensbereichen. Hierdurch wuchs die
Distanz zwischen dem Leben in der BRD und dem Leben in der DDR, das viel
weniger von innovativer und individueller Dynamik bestimmt war.
Im
Westen sind traditionelle Definitionen von Lebenssinn durch internationalisierte,
erlebnisorientierte Lebensstile abgelöst worden. Die Individuen bedienen sich
auf dem "Erlebnismarkt" (G. Schulze), um sich selbst zu verwirklichen:
"Alles kommt als Mittel erlebnisrationalen Handelns in Betracht, um
solche Zustände zu erreichen: Berufstätigkeit und Nichtstun, Sozialkontakte
und sozialer Rückzug, Familiengründung und Singledasein [...], Einkäufe,
Musik, Kosmetik, Sport, Fernsehprogramme, Ausgehen, Urlaube, Konzerte,
Museumsbesuche, Kleiderwechsel, Essen, Trinken, Zeitschriften, Süßigkeiten,
neue Frisuren, durch die Stadt gehen usw." (Schulze 1992, 420).
Die
traditionelle Trennung von Hoch‑ und Trivialkultur ist in den beiden jüngeren
Generationen aufgehoben. Es gibt ein neues Nebeneinander teils angepaßter,
teils alternativer Subkulturen, die auf kreative und autonome Selbsterfahrung
und Selbstverwirklichung ausgerichtet sind. In ungezählten "New
Age"-Varianten bilden junge Leute oft extreme sektiererische Identitäten
aus.
Das
heißt nicht, daß die Gegenwart von einer ungewöhnlichen Vielfalt wirklich
individueller Sinngebungen bestimmt würde. Es ist eher wie mit den dreißig
Fernsehprogrammen: sie sind symptomatisch für den Zustand der Gesamtgesellschaft.
Das gilt auch im Hinblick auf den Vergleich mit den höchstens drei Programmen
der fünfziger und sechziger Jahre: sie boten eine höhere Sinngebungsqualität
als die dreißig Programme der neunziger Jahre.
Gab
es in der bisherigen Entwicklung der BRD bei den Menschen noch einen
kollektiven Bezug auf die Gesamtheit der Gesellschaft, so waren seit den
achtziger Jahren überdachende kulturelle Identitäten nur schwach ausgeprägt.
Jede Subkultur hat sich in der allgemeinen "Ellenbogenmentalität"
ihren Platz erobert.
Das
Ich‑Gefühl der jungen Leute korrespondierte mit einem postnationalen Wir‑Gefühl.
Die Einheitlichkeit in der Vielfalt der Lebensstile hat erstmals eine
westeuropäische Generation geschaffen. Die Balance zwischen Ich‑Gefühl und Wir‑Gefühl
machte die kulturelle Modernität der achtziger Jahre aus (vgl. Treibel 1993).
Diese Balance ist jedoch insbesondere in der Bundesrepublik sehr verletzlich.
Was
1989/90 geschah, traf die moderne westdeutsche Gesellschaft völlig unerwartet
und quer zu allen laufenden Entwicklungen. Die plötzliche Vereinigung der
beiden deutschen Staaten brachte die in vierzig Jahren gewachsenen kulturellen
und nationalen Identitäten aller Gruppierungen und auch das politische
Links-Rechts-Schema völlig durcheinander. Zu Helmut Kohls Politik gab es keine
wirkliche Alternative. Die westdeutsche Linke hatte damit die größten Probleme.
Der großflächige Zusammenbruch der kommunistischen Staaten diskreditierte
ihre ideologischen Grundlagen. Aber das Verschwinden des zweiten deutschen
Staates irritierte auch weite Teile der bürgerlichen Mitte. Die Existenz der
DDR hatte auch in der Identität der Westdeutschen eine Funktion gehabt.
Niemand
in den Niederlanden käme auf die Idee, daß es ein zweites, ein anderes Holland
geben könnte, kein Franzose denkt die Idee eines anderen Frankreich neben dem
bestehenden. Dies ist der Grundunterschied in der nationalen Identität der
ersten beiden deutschen Nachkriegsgenerationen im Vergleich mit anderen
europäischen Nationen. Die BRD war für sie ein Provisorium.
Andererseits
gehörte für die Generation von 1968 die Spaltung Deutschlands zu ihrer
nationalen und kulturellen Identität. Obwohl die Aufteilung in zwei Staaten
von den Alliierten nicht als Bestrafung Deutschlands gedacht gewesen war ‑
sie war aus den geostrategischen Erwägungen der beiden Supermächte entstanden
‑ gab ihr die Generation von 68 bewußt oder unbewußt die Funktion der zwei
großen lieux de mémoire: die
"Mauer" als Gegengewicht zu "Auschwitz". Daher rühren die
Probleme dieser Generation mit der plötzlichen Vereinigung. Wo ist jetzt noch
ein Gegengewicht zum Holocaust? Wo ist jetzt die Utopie von einem anderen
Deutschland? Die neue Erkenntnis war: Mit dem Deutschland, das wir jetzt haben,
werden wir leben müssen; ein anderes gibt es nicht. Damit wurde man nicht ohne
weiteres fertig.
Die junge Generation der
Erlebnisgesellschaft hat dieses Problem weniger. Aber sie hatte auch nie die
Utopie eines anderen Deutschland. Die DDR war für sie ein völlig anderer
Staat, mit dem sie nichts zu tun hatte, den sie einfach ablehnte und sonst
nicht weiter zur Kenntnis nahm. Sie hat kein Zusammengehörigkeitsgefühl mit
den anderen Deutschen. Für sie ist die Vereinigung eine lästige Störung in
ihrem reichen, modernen, westlichen Leben.
Für
die ehemaligen DDR‑Bürger und plötzlichen Neubürger der Bundesrepublik stellt
sich das Problem völlig anders dar. Ihre nationale Identität war schwach
ausgeprägt. Die DDR‑Identität wurde von ihnen eigentlich erst in dem Moment so
richtig entdeckt, wo sie verlorengegangen war. Die Identifikation mit dem
neuen vereinten Deutschland gelingt noch nicht. Die Ostdeutschen erfahren von
den westdeutschen Nachkriegsgenerationen massive Ablehnung, Arroganz und
Besserwisserei und ziehen sich auf sich selbst zurück. Eine postnationale
kulturelle Identitätsbildung liegt für sie in weiter Ferne, da sie eine
völlig andere soziokulturelle Bildungsgeschichte durchlaufen haben als ihre
westlichen Nachbarn (vgl. Henrich 1993 und Mitscherlich/Burmeister 1993).
4.3.3.8 Niederlande 1945-1995
Mit dem "bevrijdingsdag"
[Tag der Befreiung], dem 5. Mai 1945, kam die Erlösung von dem Übel, das fortan
als Negativfolie für die Formulierung der niederländischen Identität dienen
sollte. Festzustellen ist eine eigenartige, spiegelbildliche und gebrochene
Identitätsbildung sowohl in der Täterkultur als auch in der Opferkultur. Dutchness und Germanness bleiben nach 1945 in einer negativen Abhängigkeit
aneinander gebunden, in der die Faktoren der - aus niederländischer Sicht -
unangenehmen aber unausweichlichen Nähe und eines tief ersehnten aber nicht erreichbaren
Abstandes wirksam sind. Und doch entsteht aus dieser Negativkopplung eine
merkwürdige Produktivität: Der Deutsche wird für den Niederländer zum
unheimlichen Doppelgänger, der ihn anzieht und abstößt zugleich.
Die
Zahl der Veröffentlichungen wissenschaftlichen, biographischen und literarischen
Charakters, die sich dem Krieg, der Besetzung und der Verfolgung widmen,
übersteigt beinahe das Vorstellungsvermögen. Die Erklärung hierfür liegt
einerseits in der besonders tiefen Verletzung, die die "kleinen"
und "neutralen" Niederlande durch die für unvorstellbar gehaltene
Vergewaltigung erfahren haben - das Land hat seit vielen Generationen nur
Frieden in seinen Grenzen gekannt - andererseits in der relativen
"Leere" bzw. "Unbesetztheit" des gesamtnationalen Identitätsrahmens,
der vor allem durch die formalistischen Muster des Personalismus gefüllt war.
"Krieg"
und "Widerstand" wurden im Laufe der Nachkriegsjahrzehnte - mit
einem Höhepunkt in den achtziger Jahren - zum wichtigsten überdachenden
Element niederländischer Identität. Die "dodenherdenking"
[Totengedenken] vom Abend des 4. Mai und der "bevrijdingsdag", der
5. Mai, sind neben dem
"Koninginnedag" die besonderen Momente nationaler Besinnung und
Feier.
Zu
unterscheiden ist die sozialpsychologische Innen- und Außenfunktion dieses
intensiven kollektiven Erinnerns: die nicht-vergehen-wollende Trauer und die
demonstrative Reinheit der Dutchness
(die mit der calvinistischen "schoonheid" korrespondiert). Hierzu
gehörte eine geradezu manichäische Trennung in "Gut" und
"Böse", mit einer deutlichen Zuweisung dieser Polarität an Dutchness und Germanness.
Zunächst jedoch überrascht die
Ähnlichkeit der identitätsbildenden Faktoren in der direkten Nachkriegszeit:
Auch in den Niederlanden waren es die konservativen alten Männer, die nach dem
Kriege bestimmten, wie es weitergehen sollte. Die Generation, die aus den geistigen
und moralischen Erschütterungen des ersten Weltkriegs heraus in der modernen
Massengesellschaft und ihrem Abfall von Gott das Grundübel erblickt und
dagegen die Bildungsideale des Personalismus gesetzt hatte, äußert sich direkt
nach 1945 in einer Flut von programmatischen Schriften. "Het personalisme vormt een
cruciale ideologische schakel tussen de jaren dertig en de jaren zestig. [...]
Men wil niets minder dan de samenleving radicaal en revolutionair veranderen,
men wil een nieuwe cultuur en een nieuwe mens scheppen. Er klinkt niet zelden een bijna
eschatologische geestdrift door [Der Personalismus bildet ein ideologisches
Bindeglied zwischen den dreißiger Jahren und den sechziger Jahren. [...] Man
wollte nicht weniger als eine radikale und revolutionäre Veränderung der
Gesellschaft, man wollte eine neue Kultur und einen neuen Menschen. Nicht
selten macht sich eine beinahe eschatologische Leidenschaft bemerkbar]
(Ruiter/Smulders 1996: 265).
Es
sind dann auch - und das mag in den Niederlanden nicht überraschen -
Theologen, die sich so vehement gegen den Nihilismus der Moderne wenden (z.B.
W. Banning, G. van der Leeuw und Ph. Kohnstamm). Eine gewisse Verwandtschaft
finden sie im christlichen Existentialismus Kierkegaards; vom
"nihilistischen" Existentialismus Sartres und Camus distanzieren
sie sich jedoch entschieden. Die didaktische Komponente als
volkserzieherische Bewegung findet ihren Ausdruck in der Propagierung der
Volkshochschule als säulen- und klassenübergreifender Institution, dem pragmatisch-niederländischen
Äquivalent zu den "Goethegemeinden" Friedrich Meineckes.
Der
Personalismus wollte ein "gemeene maat" [Gemeinmaß]. Er eignete sich
damit - wie bei den intellektuellen und politischen Eliten der zwanziger und
dreißiger Jahre - gut zur Konstruktion einer überdachenden Identität, die die
Gegensätze der in den fünfziger Jahren noch manifesten Versäulung der niederländischen
Gesellschaft auffangen konnte. Bei allem erwünschten "Gemeinmaß"
handelte es sich doch um eine pragmatisch-pluralistische Bewegung, die auf
Entfaltung der Persönlichkeit in gesellschaftlicher Verantwortung gerichtet
war. Frans Ruiter und Wilbert Smulders sehen den Personalismus dann auch
gleichzeitig als Wegbereiter für den "postmodernen Pluralismus" der
sechziger Jahre (vgl. Ruiter/Smulders 1996: 267).
Die
hierdurch vorbereitete Entkräftung engstirniger ideologischer Gegensätze an
der Basis der Säulen führt zum "doorbraak" [Durchbruch], zur ökumenischen
"Supersäule" und bereitet damit in letzter Instanz die
"ontzuiling" [Entsäulung] vor. "Zo ontstond een maatschappijsysteem waarin
iedereen ergens bijhoorde. Het 'erbij horen' als zodanig werd bijna nog
belangrijker dan datgene waar men bijhoorde. Wilde men geen lid van de kerk
worden, dan maar van het Humanistisch Verbond, geen lid van de Christelijk
Historische Unie, dan desnoods van de Partij van de Arbeid en zo ook
omgekeerd. Dit gold ook voor de jonge generatie. ook de jongens en meisjes
moesten ergens bij horen. Ze moesten bij een jongemannenvereniging horen of
bij een jongevrouwenvereniging of bij de padvinderij en als dit allemaal te
saai was, dan kon men nog bij de sportverenigingen terecht [So entstand ein
Gesellschaftssystem, in dem jeder irgendwo dazugehörte. Das 'Dazugehören' als solches wurde
fast noch wichtiger als die inhaltliche Ausrichtung der gewählten
Organisation. Wollte man nicht Mitglied der Kirche werden, dann doch jedenfalls
beim Humanistischen Bund, wer nicht zur Christlich Historischen Union gehören
wollte, konnte zur Not zur sozialdemokratischen Partei gehen und umgekehrt.
Dies galt auch für die junge Generation. Auch die Jungen und Mädchen mußten
irgendwo dazugehören. Sie mußten zu einem Jungmännerverein gehören oder zu
einem Jungemädchenverein oder zu den Pfadfindern, und wenn das alles zu
langweilig war, dann konnte man immer noch Mitglied eines Sportclubs werden]
(de Haas 1971: 17). Dieses "Dazugehören" ist ein Erfolg der
"Gemeinmaß"-Bewegung. Es hat sich als Identitätsmuster durch die
Friktionen der sechziger und siebziger Jahre hin gerettet und erlebte in den
achtziger und neunziger Jahren im niederländischen Bürgertum eine Neuauflage.
Bei deutschen Beobachtern führte dieses Phänomen zu - für niederländische
Ohren unverständlichen und empörenden - Vergleichen mit der DDR.
In
der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre wurden die personalistischen Eliten
durch die "nozems" [entspricht den westdeutschen "Halbstarken"
und "Rockern"] geschockt. Im "nozemisme" der
"nihilistischen" Jugend sahen sie ihre schlimmsten Befürchtungen
Wirklichkeit werden. Von hier aus setzte über "Provos", "Dolle
Minnas" und "Kabouters" der Prozeß der Entkollektivierung der
kulturellen Identität und zugleich auch der Wandel der Inhalte kultureller
Gruppenidentitäten in den Niederlanden ein.
Im
Laufe der achtziger Jahre dagegen wuchs wieder das Bedürfnis nach mehr sozialen
Gemeinschaftsritualen: "straat- en dorpsfeesten, vrijmarkten,
Sinterklaas, het zingen van het Wilhelmus, Sail, de Vlootdagen. Allemaal op strikt egalitaire basis.
Als Nederlander weet je: doe je er aan mee, dan hoor je erbij. Wie ter plekke
aanwezig is en niet meedoet, stelt zich buiten de nationale gemeenschap. De
Nederlandse identiteit moet vooral in dit soort rituelen en gewoonten worden gezocht"
[Straßen- und Dorffeste, Freimärkte, Sankt-Nikolaus-Tag, das Singen des
Wilhelmus, Sail, die Flottentage. Alles auf strikt egalitärer Grundlage. Als
Niederländer weiß man: wenn man dabei mitmacht, gehört man dazu. Wer vor Ort
ist und nicht mitmacht, begibt sich außerhalb der nationalen Gemeinschaft. Die
niederländische Identität muß vor allem in dieser Art Rituale und Gewohnheiten
gesucht werden] (Willem Frijhoff, zitiert in Spiering 1996). Hierzu zählt auch
immer stärkeres öffentliches Flagge-Zeigen, und zwar sowohl der Nationalfarben
als auch der "Oranje"-Flagge, der Farbe des niederländischen
Königshauses, und die emotionale Aufwertung der Nationalhymne, ohne daß dies
im geringsten die Zunahme eines Staatsnationalismus bzw. einer monarchistischen
Gesinnung zu bedeuten hätte. Es sind die vielen kleinen Spielarten des
"banal nationalism" (Billig), durch die sich das niederländische
Wir-Gefühl verstärkt akzentuiert.
Sport
spielt darin eine große Rolle. Der niederländische Thronfolger, Prinz Wilhelm
Alexander, hat die Verbindung von "Oranje" und "Sport"
während der Olympischen Spiele von 1996 durch seine öffentlichen Umarmungen
mit den niederländischen Medaillengewinnern adäquat aufgegriffen und damit -
vielleicht unbewußt - eine Brücke zwischen alten und neuen Identitätsmustern
hergestellt. Am stärksten wirkt im neuen Identitätsfeld "Sport" in
den achtziger Jahren jedoch eine andere Brücke: Im Bereich internationaler
Fußballwettkämpfe ergibt sich die Möglichkeit der Revanche, des nachträglichen
Siegs von David über Goliath. Der Sieg des "guten" Niederländers über
die "bösen" Deutschen wird möglich.
Die
neunziger Jahre bringen eine neue Konstellation. Das Stichwort "Europa
'92" bewirkt - mit der Ungewißheit der Rolle der kleinen Nationen in der
zukünftigen Europäischen Union - in den Niederlanden eine ungewöhnlich
intensive und noch stets anhaltende Identitätsdebatte (vgl. de Bruin/Teunissen
1995 und Koch/Scheffer 1996). Vielleicht ist es typisch für die Verunsicherung,
die sich hierin äußert, daß zur selben Zeit erstmals auch Zweifel am Auftreten
des niederländischen Militärs in der Endphase der Kolonialherrschaft in
Indonesien auf breiterer gesellschaftlicher Basis Wurzeln fassen und nicht
sofort wieder von offizieller Seite entkräftet werden.
Der
wirksamste Erosionsfaktor jedoch entsteht durch einen ganz anderen, historisch
gegenwärtigen Faktor: das unrühmliche Verhalten des niederländischen
UNO-Batallions "Dutchbat" im bosnischen Srebrenica am 11. Juli 1995.
Der quasi unter den Augen niederländischer Schutztruppen sich abspielende
Völkermord trifft ins Innerste der niederländischen (Nachkriegs-)Identität:
"Nederland is niet meer hetzelfde" [Die Niederlande sind nicht mehr
was sie waren] (Beunders 1996). Der Historiker Willem Beunders spricht ein Jahr
später vom "verloren vaderland" und vom "afscheid van typisch
Hollandse illusies" [Abschied von typisch holländischen Illusionen]:
"Het is een afscheid. Ons gevoel van nationale superioriteit was op niets anders gebaseerd dan
op het geluk van onze kleinheid. Wie groot is begaat grote misdaden, wie klein is
kleine" [Es ist ein Abschied. Unser Gefühl nationaler Superiorität war
auf nichts anderem gegründet als auf dem Glück unserer Kleinheit. Wer groß
ist, begeht große Verbrechen, wer klein ist, kleine] (Beunders 1996).
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