Ein Buch mit einem offenen Anfang: die Erzählerin sagt es
selbst. In den ersten zwanzig Seiten sitzt sie in ihrem Zimmer im Haus des
Literarischen Colloquiums am Wannsee in Berlin, wo Anne Weber 2001 zu Gast war,
und versucht zu schreiben, „ein Buch (...), in dem die Sprache umgestülpt wäre
wie ein Strumpf. Die Welt nach links zu drehen, das wäre eine Beschäftigung, an
der ich dauerhaft Freude haben könnte“ (Besuch bei Zerberus, 11).
Schreibblockaden, Schlaflosigkeit, Tränen stellen sich ein,
aber auch Worte, ja Wortketten. „In der Nacht begegnet mir dann eine Spinne,
(...) die sich aufbläht und die Größe eines Elefanten annimmt, eines Elefanten
mit fadengleichen, wie mit hauchdünnen Trommelstäben auf der gespannten Haut
meines Leibes herumwirbelnden Beinchen“ (Zerberus, 22). Wer ist dieser Elefant?
Neben dem offenen Anfang gibt es auch ein offenes Ende und
dazwischen ein Dazwischen, von dem das Buch seinen Titel hat: „Besuch bei
Zerberus“ (Frankfurt am Main 2004). Zerberus, das ist der Wächter der Hölle,
und Cerbère ist eine französische Stadt an der Grenze zu Spanien, in der „der
Höllenhund etwas vergraben hat, was nur ich ans Tageslicht befördern kann“. So
entspinnt sich dann doch noch eine Geschichte.
Die Erzählerin fährt nach Cerbère, der Stadt, die für Walter Benjamin die letzte Station in
Frankreich war, bevor er sich in Portbou hinter der Grenze das
Leben nahm. Ein Pilgerort seitdem für Benjaminverehrer aus aller Welt. Die
Erzählerin sitzt in einem Café, „mir gegenüber sitzen zwei Benjamin-Pilger auf
der Durchreise und schauen mich durch ihre runden Brillen kurzsichtig an“
(Zerberus, 63).
Warum ist Anne Weber dort? Auch sie hat etwas mit Benjamin,
denn sie hat eine „Benjamin-Familie“ (Zerberus, 69). Der Urgroßvater hatte mit Walter Benjamin auf
freundschaftlichem Fuße verkehrt, seitdem gilt dieser in der hochbildungsbürgerlichen Familie als
intellektueller Heiliger. Nur hatte Anne Weber zu dieser Familie keinen Zugang,
da sie ein uneheliches Kind war.
“Der Vater ist
mit Benjamin auf du und du, für den Vater ist Benjamin ein Freund der Familie.
(…) Für das Kind gehört der Vater zu einer fremden, der Benjamin-Familie. Die
Benjamin-Familie lebt auf der anderen Seite des Berges und der Grenze, das Kind
wohnt mit der Mutter am Ende der Welt. Drüben in der Benjamin-Familie sprechen
sie eine Sprache, die das Kind nie gelernt hat und die man auch nicht erlernen
kann. (…)
Die Brille
Benjamins setzt sich auf des Vaters edle Nase (…), zusammen schauen sie das
Kind wohlwollend und verständnislos durch ihre dicke Brille an” (Zerberus,
69f.).
Die
Unzugänglichkeit der Vater-Familie hat sich für die erwachsene Anne Weber mit
dem Benjamin-Diskurs zu einer unentwirrbaren Einheit entwickelt.
Kurz gesagt: Anne
Weber hat einen Benjamin-Komplex.
Wie geht sie
damit um? Eigentlich hat sie dafür keine Lösung, denn am Ende dieses schmalen
hochreflektierten Büchleins ist alles offen. Wenn ich es schon gekannt hätte,
als Anne Weber sich vor zwei Wochen in der Akademie der Künste öffentlich zwischen zwei Benjaminversteher gesetzt hat, wäre mir manches klarer gewesen.
Sie weicht den Benjaministen nicht aus, aber sie kann ihnen in offener Rede
nichts entgegensetzen. Das wird sich nie ändern. Nur in ihrem Schreiben hat sie
Instrumente entwickelt, die ihr helfen, damit umzugehen. Sie arbeitet mit
Umkehrungen. Das habe ich bei meiner Besprechung ihres Buches “Ahnen” bereits
festgestellt. Im “Besuch bei Zerberus” findet sich eine ebenso humorvolle wie
frappierende Umkehrung eines benjaminischen Denkbildes:
Eine Mücke hatte
sich nachts im Hotelzimmer in Cerbère auf den Arm der Erzählerin gesetzt:
„Am frühen Morgen stellt sich das Insekt auf die
Hinterbeine, breitet die Flügel aus und gibt sich als Benjamins Engel der
Geschichte aus, allerdings ohne die Lockenwickler, die Paul Klee ihm aufgedreht
hatte, und ohne dessen groß
e Ohren.
Die unzähligen Facetten seiner Insektenaugen hat es auf mich gerichtet, die ich
als hoher und immer höher werdender Trümmerberg in der Rolle der Geschichte vor
ihm erscheine, und es spricht zu mir von der Hoffnung, von der unendlich viel
vorhanden ist, nur nicht für uns. Aus der fernsten Vergangenheit weht ein
starker Wind und treibt uns vor sich her; die Zukunft ist ein leerer Raum, dem
wir den Rücken zukehren. Auch die Mücke ist schon sehr lange aus dem Paradies
vertrieben.”
Anne Weber,
Besuch bei Zerberus, Frankfurt am Main 2004, S. 62