Im dritten Kapitel meiner
Dissertation „Land in Sicht“ (Groningen 1997) habe ich das Konzept und den
Aufbau der Arbeit erläutert. Da die gedruckte Fassung der Arbeit nur schwer zugänglich
ist, setze ich unter dem Label „Vorträge“ Teile davon in mein Blog. Wer mehr
lesen möchte, kann sich bei mir melden.
Peter Groenewold, "Begegnung" und "Begegnungsgeschichte":
Definition und Reichweite des Konzepts
"Die
Geschichte kann im Augenblick der Begegnung zurücktreten, aus ihr entlassen
sind wir nie."
(Bernhard
Waldenfels, Der Spielraum des Verhaltens, 1980)
3.1 Das Konzept
"Begegnung"
Das im folgenden entwickelte Konzept einer dialogischen Begegnungsgeschichte
soll einen Beitrag zur Weiterentwicklung der Landeskunde innerhalb des
kommunikativ‑interkulturellen Paradigmas des Fremdsprachenunterrichts
liefern. Wir betrachten die Anwendbarkeit des Konzepts hier nur in bezug auf
Lernergruppen in traditionellen schulischen und universitären
Lernsituationen (Lerner mit der Ausgangssprache "X" erlernen die
Fremdsprache "Y") und in geographisch‑kulturell relativ eng zusammenhängenden
Regionen wie sie z.B. durch den europäischen Raum gegeben sind.
Begegnung ist im alltagssprachlichen Sinn die reale, körperliche
Anwesenheit erfordernde Situation, in der zwei oder mehrere Personen physisch
und/oder verbal interagieren. Unter den Standardbedingungen im Unterrichtsraum
einer Unterrichtsinstitution sind diese Voraussetzungen in dem Sinne
gegeben, als Lehrende und Lernende sich in der Unterrichtssituation begegnen,
bei der eine Reihe unterrichtsbezogener (und nicht unterrichtsbezogener)
dialogischer (interaktiver) Austauschprozesse stattfinden. Die reale face-to-face-Begegnung der Lernenden
mit Angehörigen der Zielgesellschaft gehört nicht zu den Standardsituationen
des Fremdsprachenunterrichts und wird deshalb im Rahmen dieser Arbeit nicht
thematisiert. Daß sie wünschenswert ist und sich aus ihr besondere
didaktische Möglichkeiten ergeben, liegt auf der Hand. Auch die reale
Begegnung von Fremdsprachenlernenden aus zwei Sprachkulturen, wie sie sich in
der Tandemdidaktik etabliert hat, kommt nicht in das Blickfeld dieser Arbeit,
da sie gleichfalls nicht zu den Standardsituationen gehört und - auch
didaktisch - m. E. völlig andere Konzeptionen erfordert.[1]
Trotz dieser Einschränkungen muß das Ziel des Fremdsprachenunterrichts
darin bestehen, den Lernenden eine adäquate Beteiligung an verbalen
Situationen mit Angehörigen der Zielkultur zu ermöglichen. Soweit reale Situationen nicht gegeben sind,
kann die Simulation von Situationen
den Rahmen für die Einübung der Partizipation an der Zielkultur abgeben.
In vielen Schulen wird im Fremdsprachenunterricht noch immer der
Grammatik eine Hauptrolle als strukturgebendes Element zugewiesen und nicht
die Rolle einer Hilfswissenschaft, die ihr im didaktischen Bereich gebührt.
Wir plädieren in dieser Arbeit dafür, als bestimmendes Strukturelement eine
Begegnungsgrammatik bzw. eine Situationsgrammatik zu etablieren, die als
Simulationsmaschine den Fremdsprachenunterricht näher an seine eigentlichen
Aufgaben heranführen kann.
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Der oben kurz ausgeführte reale Begegnungsbegriff stimmt im Prinzip
überein mit dem in der Sozialpsychologie verwendeten Situationsbegriff (vgl.
z.B. Van de Sande 1996: 25-58). Für die Simulation von Begegnungen sind die Ergebnisse
der sozialpsychologischen Situationsforschung von großem Interesse. Die
Versuche, zu universellen Taxonomien von Situationen zu kommen, können für
eine Neustrukturierung des Fremdsprachenunterrichts adaptiert werden. Wir
werden hierauf im siebten Kapitel dieser Arbeit eingehen (s. Abschnitt
7.3.6.1).
Im Zentrum unserer
Untersuchung stehen jedoch die historischen Aspekte von "Begegnung":
Ihre gesammelte Wirkungsmacht bestimmt in erheblichem Maße jede gegenwärtige
Begegnung. Um diese Dimension in den Blick zu bekommen und analysieren zu
können, verwenden wir im wesentlichen einen abstrahierten Begegnungsbegriff,
der teils umfassender und teils stärker eingeschränkt ist als die in der
Sozialpsychologie hantierten Situationsbegriffe.
Die Grundoperation des hier vertretenen Konzepts "Begegnung"
ist, den Blick auf die für den Fremdsprachenunterricht spezifische Beziehungskoppelung
zwischen zwei Zielgesellschaften zu lenken. Die Zielgesellschaften stellen
sich in der Perspektive der am Lernprozeß beteiligten Personen jeweils als eine
Eigen- und eine Fremdkultur dar. Hieraus ergibt sich der Charakter der
Paarigkeit: der (reale) Lernende mit der Sprache/Kultur/Gesellschaft
"X" begegnet der (medial vermittelten) Person/Sprache/Kultur/Gesellschaft
"Y". Innerhalb seines Wirklichkeitsmodells konstruiert der Lernende
ein Bild von der Zielgesellschaft und den in ihr lebenden Individuen, das er
bei Bedarf aktualisiert. So hat auch die abstrakte Begegnung der Beziehungskoppelung
"X-Y" Intersubjektivitätscharakter, und wir wählen zu ihrer Bezeichnung
den Begriff der "Dyade"[2]. Im europäischen
Raum lassen sich also z.B. folgende Begegnungsdyaden thematisieren: Deutsche-Franzosen,
Franzosen-Engländer, Niederländer-Deutsche usw. Die zunehmende Multikulturalität
im europäischen Klassenraum ermöglicht die erweiternde und vergleichende
Einbeziehung von Sprachen und Kulturen. Auf die damit verbundene Drittperspektivenproblematik
gehen wir später noch ein.
Die hier gewählte personale Bezeichnung der Beziehungskoppelung -
z.B. Deutsche-Niederländer - ist jedoch noch kein korrekter Ausdruck unserer
Untersuchungsperspektive, die sich jeweils auf die wechselseitige Anschauungssumme
von X und Y richtet, also z.B. auf das von Deutschen an den Niederlanden, den
Niederländern, der niederländischen Kultur und Gesellschaft als "niederländisch"
Empfundene. Es geht also um die Thematisierung von "Dutchness"[3] aus der
Sicht von X, d.h. aus der Sicht von Germanness. Wir drücken diesen Aspekt
durch Anführungszeichen aus: X-"Y". Germanness-"Dutchness" heißt also: Niederländisches,
durch deutsche Augen betrachtet. Dies beinhaltet immer auch: Dutchness als Funktion von Germanness, d.h. die Formulierung eines
deutschen Selbstbildes auf der Folie eines Niederlandebildes, die Definition
eigener Identität durch deren Absetzung von anderer Identität. Die
Untersuchungsperspektive betrachtet in prinzipiellem Perspektivenwechsel
beide Richtungen: X als Funktion von Y und Y als Funktion von X, also auch: Germanness als Funktion von Dutchness. Ein Teilziel der Untersuchung
ist, die textuellen Repräsentationen wechselseitiger Fremdbilder in ihrer
Funktion für das jeweilige Selbstbild zu erheben und Wege zu ihrer Analyse zu
zeigen. Die typische Untersuchungsfrage lautet in diesem Zusammenhang:
Inwieweit machen niederländische (deutsche) Identitätskonstruktionen in
einem Akt der Kontrastierung und der Absetzung vom jeweils Anderen
(positive/negative Alienisierung) einen alienativen Gebrauch von Germanness (Dutchness), und mit welchen sprachlichen Mitteln werden diese
Alienisierungen vollzogen?
Hierbei stellt sich die Frage, ob die Zugehörigkeit des Forschers
bzw. - auf der didaktischen Ebene - des Lehrers zu einer der beteiligten Gesellschaften
X oder Y nicht Verzerrungen in der Wertigkeit der X- oder der Y-Position
erzeugt. Idealerweise sollte das nicht der Fall sein, zumindest soweit es den
wissenschaftlichen Teil der Untersuchung betrifft. Prinzipiell ist von einer
auf die beiden Zielkulturen X und Y orientierte, lebensweltlich-kulturelle und
kulturwissenschaftlich fundierte Doppelkompetenz der an dieser Art Projekten
zu beteiligenden Wissenschaftler auszugehen. Die spezifische Problematik
einer solchen Doppelkompetenz in der wechselseitigen Begegnungsforschung, in
der es u.a. um affektive Einstellungen geht, die auch die Interpretationsmuster
wissenschaftlicher Arbeit beeinflussen können, wird aus dem weiteren Verlauf
dieser Untersuchung ersichtlich. Einige Konsequenzen und Fragen, die sich
daraus ergeben, sind in Abschnitt 7.1.4 - 7.1.6 aufgenommen.
Die Wertigkeit der X- und der Y-Position als Eigen- und als Fremdkultur
hat allerdings begründbare Konsequenzen auf der didaktischen Ebene, z.B. bei
der Entscheidung der Thematisierung von Aspekten im Unterricht und bei der
Auswahl von Texten.
Wir wollen nicht den Anspruch erheben, mit dem in dieser Arbeit
vorgeschlagenen Analyseinstrumentarium allen Implikationen gerecht zu werden,
die sich aus den vielen unterschiedlichen Paarungsmöglichkeiten ergeben.
Jede einzelne Beziehungskoppelung, jede Dyade hat ihre spezifische historische
Problematik und gegenwarts- bzw. vergangenheitsbezogene Intensität. So weist
z.B die Dyade Dutchness-Spanishness
eine ganz andere Ladung auf als die Dyade Dutchness-Portugueseness.
Und so gibt es im europäischen Raum historische Sonderfälle (z.B. Dutchness-Belgianness) und kultur- und
identitätsgeschichtliche Spezialitäten (z.B. Germanness/Greekness), deren wissenschaftliche Untersuchung
und Thematisierung im Unterricht einen eigenen Reiz hat. Daneben stehen
relativ beziehungsschwache Dyaden (z.B. Danishness-Rumanianness),
für die begegnungsgeschichtliche Verfahrensweisen im Fremdsprachenunterricht
wahrscheinlich weniger ertragreich sind, und Dyaden, die für den Fremdsprachennunterricht gar nicht
in Frage kommen, da beide Zielgesellschaften die gleiche Sprache sprechen
(z.B. Germanness-Austrianness), die
aber gleichwohl Gegenstand einer fruchtbaren begegnungs- und identitätsgeschichtlichen
Untersuchung sein könnten.
Pragmatisch gesehen geht es in unserem Zusammenhang um die Dyaden,
die im Fremdsprachenunterricht an europäischen Schulen und in der
Lehrerausbildung an europäischen Universitäten und Hochschulen vorkommen
können. Die traditionell im Schulrahmen gelehrten lebenden Fremdsprachen
sind die sogenannten "Weltsprachen" - Englisch und Französisch -
sowie die Sprachen der unmittelbaren Nachbarländer. Sie werden gelehrt, da
ein bestimmtes Maβ an
Beziehungsintensität gegeben ist. Eben diese historisch gewachsene Beziehungsintensität
ist aber auch die Voraussetzung dafür, daβ "Begegnungsgeschichte" als Leitkategorie für Landeskunde
funktionieren kann.
Im Vorhergehenden ist bei der Hinführung zum Begriff der
"Dyade" bewuβt auf die
Begriffe "Volk" oder "Nation" verzichtet worden, da diese
jeweils bereits ideologische Begriffe darstellen, deren Verstärkung nicht in
der Intention dieser Arbeit liegt. Bei der Konstruktion von Begegnungsdyaden
handelt es sich denn auch gerade nicht um einen "wesensmäßigen"
Vergleich von "Volks‑" oder "Nationalcharakteren",
sondern um eine phänomenologische Analyse der wechselseitigen Anschauungen
und Anschauungsweisen, die eine "in einem Landstrich vereinigte Menge
von Menschen" (Kant) über eine in einem anderen Landstrich vereinigte
Menge von Menschen hegt.
Die Untersuchung dieser Anschauungen und Anschauungsweisen wird
schon im Ansatz eine Differenzierung und Reduktion der untersuchten Menge in
Teilmengen erfordern, denn natürlich denken nicht alle Franzosen dasselbe über die Deutschen und nicht alle Deutschen dasselbe über die
Engländer. Dennoch ist eine Differenzierung nicht das Hauptziel unseres
Ansatzes, der auf die Analyse kollektiver
Mentalitäten zielt; es liegt in ihr sogar die Gefahr einer völligen Relativierung
begegnungsspezifischer Anschauungen, die Gefahr einer Leugnung des Problems, d.h. einer Leugnung der Unterschiede und
damit einer Vernachlässigung ihrer Wirkungsmacht,
die u.U. auch noch in einem gutgemeinten humanistischen und kosmopolitischen
Gewand einherkommt. Die Wurzeln des Problems liegen im Phänomen der
Herausbildung kultureller und nationaler Identitäten wie es sich seit dem 18.
und 19. Jahrhundert entwickelt und im 20. Jahrhundert zu mörderischen Konsequenzen
geführt hat. Diese Bezüge werden in der Rahmenkonzeption dieser Untersuchung
berücksichtigt.
Diese Arbeit widmet sich der Dyade Deutsche-Niederländer bzw. Germanness-Dutchness und arbeitet deren
historische Spezifik aus, die u.a. durch die Faktoren: unmittelbare
Nachbarschaft, Handel, Nähe/ Distanz, Freundschaft/Feindschaft und großes
Land/kleines Land bestimmt ist. Die Entscheidung für diese Dyade hat Gründe,
die in der Biographie und im Ausbildungsgang des Verfassers liegen. Dennoch
ist es vielleicht nicht zufällig, daβ gerade ein Deutscher, der in den Niederlanden lebt, den Begegnungsaspekt
in den Rang eines Leitkonzepts erhebt: Gängige Vorurteile im deutschen
Bereich gehen von einer weitgehenden soziokulturellen Einheitlichkeit des
deutschen und niederländischen Raumes aus, was zu Vereinnahmungen führt,
gegen die sich Niederländer empört zur Wehr setzen. Andererseits haben die
deutschen Nachkriegsgenerationen ein positives Bild der "toleranten"
und "liberalen" Niederlande, das sie als Folie für die eigene, vergangenheits-
und schuldbeladene Problemidentität benutzen. Bestimmte niederländische
Gruppenmentalitäten, die historisch ableitbar und beschreibbar sind, weisen
einen extrem ignorierenden und abweisenden Charakter gegenüber Deutschen,
Deutschem und Deutschland auf. Dutchness
als Funktion von Germanness und Germanness als Funktion von Dutchness ergeben so ein jeweils eigenes
Bild mit eigener Spezifik auf der Grundlage einer gemeinsamen und problematischen
Begegnungsgeschichte. Die Notwendigkeit verstehender Begegnung und der dialogischen
Verständigung über Gegenstands- und Wahrnehmungsbereiche auf beiden Seiten
drängt sich so besonders auf.
3.2 Rahmenbegriffe
Die hermeneutischen Rahmenbegriffe der interkulturellen Germanistik
- Toleranz, Fremdheit, Interkulturalität, Distanz und Aneignung - die auch in die Landeskundediskussion
einbezogen werden, scheinen uns als leitende Kategorien für die Vermittlung von
Gesellschaft, Sprache und Unterricht weniger geeignet zu sein (vgl. Abschnitt
2.8.1 - 2.8.3). Wir machen für unsere Zwecke Gebrauch von sechs Begriffen, die
eher imstande sind, den Orientierungscharakter, die Dynamik und die Prozeßhaftigkeit
interkulturellen Lernens zu erfassen und den Bedürfnissen einer Landeskunde
im Fremdsprachenunterricht zu dienen: Begegnung, Identität, Diskurs, Dialog,
Spiel und Partizipation.
Begegnung und Identität sind
dabei die zentralen Leitbegriffe, denen Diskurs, Dialog, Spiel und
Partizipation zugeordnet sind. Partizipation steht am Ende zur Kennzeichnung
gelingender Begegnung. Diese sechs Rahmenbegriffe lassen sich in einem
Reigen von Beziehungskoppelungen den drei zu vermittelnden Ebenen der Landeskunde,
nämlich Gesellschaft, Sprache und Unterricht, zuordnen: Begegnung und
Identität verbinden sich mit Gesellschaft, Identität und Diskurs mit Gesellschaft
und Sprache, Diskurs und Dialog mit Sprache und Unterricht sowie Dialog und
Spiel mit Unterricht. Am Schluß führt das Paar Spiel und Partizipation wieder
zur Gesellschaft zurück. Dieser Beziehungsreigen bestimmt den weiteren
Aufbau der hier vorgelegten Untersuchung.
Natürlich ist keiner der vorgeschlagenen Rahmenbegriffe neu. Manche
von ihnen haben eine ausgeprägte pädagogische und didaktische Vergangenheit.
Das im Zusammenhang mit Fremdsprachenunterricht neueste Element ist der
Begriff der "Identität", der in den neunziger Jahren zu einer
fachübersteigenden wissenschaftlichen Modekategorie geworden ist. Die
Qualität der Begriffe muß sich demnach aus ihrer Kombination und ihrer
Operationalisierbarkeit für die Landeskunde im besonderen und für den
Fremdsprachenunterricht im allgemeinen beweisen.
Die einzelnen Rahmenbegriffe und ihre wechselseitige
Vermittlung und Zuordnung werden im folgenden näher erläutert. Daraus ergibt
sich die Zusammenstellung eines interdisziplinären Pakets wissenschaftlicher
"Zugänge", die eine kohärente Darstellung des Gesamtzusammenhangs
im Rahmen der Bedürfnisse von "Begegnungsgeschichte" ermöglichen:
- der gesellschafts-
und kulturgeschichtliche Zugang
- der
historisch-semantische Zugang
- der
pragmatisch-narratologische Zugang
- der didaktische
Zugang
Mit den vier Zugängen werden der Gegenstandsbereich der Begegnungsgeschichte,
ihr Erkenntnisinteresse, ihre Quellengrundlage, ihre Methodologie und ihre
Umsetzung im Fremdsprachenunterricht beschrieben und problematisiert. Die
einzelnen Zugänge werden in den Kapiteln 4 - 7 dieser Arbeit inhaltlich und
methodologisch behandelt.
3.2.1 "Begegnung"
als Leitbegriff
Was kann der Begriff "Begegnung" in seiner synchronen
und diachronen ("Begegnungsgeschichte") Bedeutung für die Landeskunde
in einem kommunikativ‑interkulturellen Fremdsprachenunterricht leisten?
Gewählt haben wir den Begriff als Resultat der Suche nach einem
möglichst einfachen, im weitesten Sinne "landeskundlichen" Grundelement
bzw. einer einfachen Grundsituation des Fremdsprachenunterrichts: Den
Lernenden "begegnet" in der fremden Sprache und - vermittelt durch
die fremde Sprache - die andere Kultur, das andere Land, der fremdsprachige/‑kulturelle
andere Mensch. Diese Begegnung vollzieht sich im Unterricht vorstrukturiert
und textvermittelt über verschiedene Medien sowie über eine in der Regel
eigenkulturelle Mittlerperson (Lehrer) oder auch über fremdkulturelle
Personen in ganz unterschiedlichen inner‑ und auβerunterrichtlichen Zusammenhängen.
Von groβer Bedeutung
ist auch, daβ vorgängige
kognitive und affektive Elemente aus dem Erfahrungshorizont der Lernenden die
Begegnung mitkonstituieren und in den Unterricht eingehen. In der Thematisierung
der Wechselseitigkeit und in der Hereinnahme affektiver Elemente realisiert
sich das Grundprinzip des interaktiven Unterrichts.
In der Wissenschaftsgeschichte, insbesondere in der Geschichte
der Pädagogik, ist die Kategorie "Begegnung" nicht ohne Vorgänger:
Als anthropologisch‑pädagogische Fundamentalkategorie im existentialistischen
Sinne (vgl. Gerner 1969) wollen wir sie jedoch nicht betrachten, eher im Sinne
eines pragmatischen Konzepts, das geeignet ist, die Implikationen der
Aufgabenstellung eines modernen Fremdsprachenunterrichts zu umgreifen.
Dennoch geben die drei repräsentativen Begegnungsbegriffe der existentialistischen
Pädagogik der Nachkriegszeit durchaus die Stichworte für die Diskussion einer
pragmatischen Begegnungslehre. Verblüffend ist auch die
begrifflich-sprachliche Nähe zu Positionen der Fremdheitsforschung der
achtziger Jahre: "Begegnung als verarbeitendes Hereinnehmen des Anderen
gerade als Anderes" (Theodor Litt), "Begegnung als Anderswerden am
Anderen" (Bollnow) und "Begegnung als Selbstwerden durch das
Andere" (Derbolav) (zitiert bei Gerner 1969: 25; vgl. Abschnitt 2.8.1 und
2.8.2 dieser Arbeit).
Die nahe Verwandtschaft der erkenntnistheoretischen Grundlagen
der älteren Begegnungspädagogik mit der "Fremdheitsforschung" ist
augenfällig (vgl. Wierlacher 1985 und Krusche 1985). Letztere richtet sich
jedoch in einer Verabsolutierung des Fremdheitsbegriffs mit Vorliebe auf das
extrem Fremde. Ihre wissenschaftsgeschichtlichen Theoriegrundlagen sind
u.a. in den Arbeiten von Claude Lévi‑Strauss und Michel Leiris zu suchen, also
in der anthropologisch‑ethnologischen Wende des 20. Jahrhunderts, die die
Übersteigung und Reflexion des eigenen (europäischen) Kulturraums zum
Programm erklärte.
Wir sehen im Konzept "Begegnung" für den
Fremdsprachenunterricht eine Reihe von Vorteilen gegenüber den Konzepten der
"Fremdheit" und/oder der "Toleranz". Der wichtigste dieser
Vorteile ist der Prozeß- und Handlungscharakter des Begriffs, der ihn als
Leitkonzept für ein interaktives Fremdsprachenlernen sehr geeignet erscheinen
läßt: Begegnung ist eine Aktivität, in der alltägliches Handeln, Perspektivenwechsel,
Reflexion und Problematisierung zusammenfließen. Begegnung ist ein Geschehen
mit dynamischem Potential, das Möglichkeiten für ein Gelingen und für ein
Scheitern von Verständigungsprozessen in sich birgt. Begegnung kann auch
scheitern, so wie Kommunikation auch scheitern kann. Der Begegnung ist aber
auch eine Empathie eigen, die auf ein Gelingen des Prozesses gerichtet ist.
Der Begriff "Begegnung"
umgreift den der "Fremdheit" und den verstehenwollenden Umgang mit
ihr; er dynamisiert die Starrheit der Fremdheit. Er umgreift auch die
"Toleranz" in gleicher Art, indem er auch sie dynamisiert und in eine
Folge von Handlungen, Reflexionen und Problematisierungen auflöst.
Dem Begriff der Toleranz ist wegen seiner gesellschaftsethischen
Qualitäten die Sympathie des Publikums sicher. Niemand möchte als untolerant
gelten. Wer die Toleranz im Munde führt, ehrt sich selbst und das eigene
Handeln gleich mit. Begegnung ist diesbezüglich neutral und bescheiden: sie
muß sich immer erst im Dialog beweisen und neu konstituieren.
Begegnung ist postulierte Nähe, die vollzogen werden muß. Dies
gilt für den einzelnen Begegnungsakt und auch für das hier vorgestellte
Gesamtkonzept. Von unserem Konzeptverständnis her richten wir uns ganz auf die
"Nahfremdheit", die von der Fremdheitsforschung stark vernachlässigt
worden ist (vgl. Abschnitt 2.8.1).
Eine Begegnung vollzieht sich zwischen einem "Ich" und
einem "Du", zwischen dem "Eigenen" und dem
"Anderen". Diese Problematik und Begrifflichkeit ist in der
Philosophie (und Pädagogik) des 20. Jahrhunderts so "aufgeladen"
worden, daß wir für unser Vorgehen einer Standortbestimmung bedürfen, die als
Rahmen für den in dieser Arbeit zentralen Identitätsbegriff dienen kann. Wir
finden diesen Rahmen in der Denkschule der phänomenologischen Philosophie. Bernhard
Waldenfels (1980) zeigt die "Aktualität der Phänomenologie" an den
Problemfeldern "Leibliches Verhalten", "Sprache und Kommunikation"
sowie "Lebenswelt und Geschichte". In der Affinität dieser Bereiche
zu den Paradigmen des Fremdsprachenunterrichts der letzten 15 Jahre (vgl.
Kapitel 2) sehen wir die Chance einer fruchtbaren Verbindung.
"Das leibliche Da bedeutet eine Vorgegebenheit von Welt,
Selbst und Anderen, hinter die wir nicht zurückkönnen, und fernerhin ist diese
Vorgegebenheit kein bloßes factum brutum, gegen das unsere Sinnentwürfe
anrennen, vielmehr heben die Prozesse der Sinnbildung selbst an mit einer
leiblichen Spontaneität und schlagen sich nieder in leiblichen
Gewohnheiten" (Waldenfels 1980: 17).
Jede Wahrnehmung schließt eine Deutung in sich, die sich sowohl durch Versprachlichung als auch
durch "vor- und außersprachliche Gestaltungs- und
Strukturierungsleistungen" (Waldenfels 1980: 21) realisiert: sie trägt
bei zur Konstruktion der Wirklichkeit einer kommunizierenden Gemeinschaft.
Die "Pluralität von Deutungssystemen" stellt sich bei Begegnungen
als Hindernis, nicht aber als Verhinderung wechselseitiger Partizipation
heraus.
"Wie zwischen konkreten Sprachen, so ist auch zwischen verschiedenen
Kulturen eine Übersetzung möglich, die eine Einheit in der Differenz
herstellt" (Waldenfels 1980: 25). Oder, mit den Worten Helmuth Plessners:
"Wenn sich einzelne Menschen einigen, und wir erleben das täglich in der
Wissenschaft, im Rechtsleben, ja selbst im Kunstgenuß, wenn die ganze Fülle
der Werte unseres Denkens, Fühlens, Wollens bindend in Aktion tritt, echte
Wirkung vom Einen zum Andern über das überpersönliche Sachzentrum des
Wertgehalts möglich ist, dann gibt es echte Gemeinschaft" (Plessner 1924:
47). Plessners Emphase für sein Konzept der "Sachgemeinschaft" steht
notabene im Zusammenhang einer Darstellung der "Grenzen der Gemeinschaft".
"Nicht warme, dichte Atmosphäre, sondern kalte, dünne Luft weht hier, der
Hauch des Geistes" (Plessner 1924: 48). In seiner Haltung der
"Kälte" in Zeiten der aufkommenden irrationalen Bluts- und Volksgemeinschaft
ist er uns ein Lehrer zur Frage des Verhältnisses von Nähe und Distanz, die
sich in jeder Begegnung stellt (vgl. Abschnitt 4.4.3).
3.2.2 Begegnung als
Begegnungsgeschichte
Begegnung und Begegnungsgeschichte werden hier nicht als zwei verschiedene
Konzepte verstanden, sondern als der synchrone und diachrone Aspekt ein und
desselben Konzepts. Unter Begegnungsgeschichte verstehen wir die Geschichte
des kognitiven und affektiven "Wissens", die Geschichte der kognitiv
und affektiv bestimmten Einstellungen der Angehörigen einer Nation gegenüber
einer anderen Nation und deren Angehörigen.
Traditionelle beziehungsgeschichtliche Ansätze und Untersuchungen
- also etwa Politik- und Diplomatiegeschichte - haben ein völlig anderes
Erkenntnisinteresse und bedienen sich völlig anderer Quellen. Beziehungsgeschichtliche
Forschungen konzentrieren sich auf die Darstellung der Veränderungen in den
Beziehungen zweier (oder mehrerer) Nationen und auf die Analyse der Faktoren,
die zu den Veränderungen geführt haben. Affektive Faktoren spielen hierbei
als Gegenstand der Darstellung in der Regel keine Rolle oder nur eine Nebenrolle.
Kollektive Einstellungen affektiver Art, die sich in schriftlichen Quellen
niederschlagen, gelten als unseriöse Bezugsgröβen und finden höchstens pejorative Erwähnung.
Der Untersuchungsgegenstand der Begegnungsgeschichte ist jedoch
gerade das kollektive gegenseitige Fremdbild, wie es sich in den Individuen
repräsentiert. Dieses Fremdbild im Kopf der Individuen besteht nicht aus
einem Satz von Stereotypen, die "unwissenschaftlich" sind und mit
denen zu beschäftigen sich für eine seriöse Geschichtswissenschaft nicht
lohnt, sondern es handelt sich um ein differenziertes, mehr oder weniger
kohärentes und sedimentiertes Gebilde, in dem tendentiell die gesamte kollektive
Begegnungsgeschichte der betreffenden Dyade aufgehoben ist, wenn auch in
fragmentierter Form und durchwirkt mit Faktoren des Selbstbildes und aktueller
intrakultureller Bedürfnisse. In den geschichtlich gewachsenen Sedimentschichten
des kollektiven Fremdbildes sind die Stereotypen und andere begegnungsspezifische
Anschauungsformen wie Fossile aufgehoben.
Eingreifende Veränderungen sowohl langfristiger wie auch kurzfristiger
Art in den Beziehungen zwischen zwei Nationen haben Folgen für das kollektive
wechselseitige Fremdbild ‑ bzw. die kollektiven wechselseitigen Fremdbilder,
denn es kann gruppen‑ und schichtenspezifische Abweichungen geben ‑ in einer
Dyade. Sie können zu einem begegnungsgeschichtlichen Brennpunkt führen, in
dem es zu einer Verstärkung und/oder Neuverteilung der Fremdbildsedimente
kommt: In älteren Schichten aufgehobene Stereotype und Anschauungsweisen
dringen an die Oberfläche und überlagern neuere Entwicklungen oder umgekehrt.
Diese Fremdbildtektonik ist jedoch vom Phänomen des "décalage"[4] bestimmt
(oder amerikanisch: "cultural retard")[5],
einer Ungleichzeitigkeit, Verzögerung in der Anpassung des Fremdbildes an
aktuelle Entwicklungen.
Ein solcher begegnungsgeschichtlicher Brennpunkt ist erkennbar an
einer Intensivierung der Produktion von Texten, die begegnungsspezifische
Aussagen enthalten: der Diskurs in der Gesellschaft X über die Gesellschaft Y
erfährt eine qualitative und quantitative Steigerung. Ein Dialog zwischen X und
Y setzt ein. Die Texte dieser Diskurse und Dialoge, aus denen sich
begegnungsspezifische Aussagen isolieren lassen, bilden das Quellenmaterial der
Begegnungsgeschichte.
3.3 Begegnung und Identität:
gesellschafts- und
kulturgeschichtlicher Zugang
Begegnungsgeschichte steht vor dem Hintergrund der allgemeinen
Gesellschaftsgeschichte der jeweiligen zwei Zielkulturen. Politische,
wirtschaftliche und sozialgeschichtliche Faktoren beeinflussen sie. Ihre
Inhalte sind gekennzeichnet durch die potentielle Problematisierung des
gesamten Spektrums der Identitäts- und Sinnbildungsoperationen der Individuen
der Zielgesellschaften. Die absolute Breite des Gegenstandsbereichs wird
jedoch reduziert durch die Fokussierung auf die Begegnungsaspekte zweier
nationaler Kulturen: auf ihre konkurrierenden Wirklichkeitsmodelle, auf ihre
wechselseitigen Deutungsmuster.
Im Verlauf der Modernisierungsschübe der "Achsenzeit"
des 17. bis 19. Jahrhunderts entstehen Nationen und Nationalkulturen im modernen
Sinn. Die Modernisierungsprozesse verlaufen in Mittel- und Nordwesteuropa
teils gleichzeitig, teils ungleichzeitig, teils einheitlich, teils mit
spezifischer Unterschiedlichkeit. Die gesellschaftsgeschichtlichen
Entwicklungen des mitteleuropäischen Raumes sind in den letzten Jahren von der
Geschichtswissenschaft mit zum Teil neuen Ansätzen und Ergebnissen erforscht
worden.
Der kulturelle Nationalismus des 18. und 19. Jahrhunderts propagierte
die Idee der permanenten Erneuerung der historischen Identität der Nation (vgl.
z.B. Herder). Der Vorgang der Identitätsbildung ist prinzipiell unabschließbar.
Er vollzieht sich organisch-evolutionär in einem dialektischen Prozeß zwischen
Traditionalität und Modernität. Träger dieses Prozesses sind die Intellektuellen,
die durch ihre Möglichkeit, die Medien zu nutzen, die die moderne Form der
Öffentlichkeit konstituieren und beherrschen. Sie "erfinden" die
Nation, sie geben ihr auch durch "invented traditions" (Hutchinson)
ideologischen Halt in der Vergangenheit und Projekte für die Zukunft.
"Typically cultural nationalists establish informal and decentralized
clusters of cultural societies and journals, designed to inspire a spontaneous
love of community in its different members by educating them to their common
heritage of splendour and suffering. They engage in naming rituals, celebrate
national cultural uniqueness and reject foreign practices, in order to
identify the community to itself, embed this identity in everyday life and
differentiate it against other communities" (Hutchinson 1987, zitiert
in Hutchinson/Smith 1994: 124).
Der von Hutchinson angesprochene Differenzierungsprozeß einer
"imagined community" (Anderson) gegenüber anderen erfundenen
Gemeinschaften, insbesondere gegenüber direkt benachbarten, ist essentiell
für die Aufrechterhaltung des eigenen Identitätskonstrukts. Begegnungsgeschichte
ist demnach immer auch Identitätsgeschichte. Mit dieser Entwicklung
korrespondieren gesellschaftsgeschichtliche Umwälzungen, die in der
qualitativen und quantitativen Zunahme von Mobilität und Kommunikationsdichte
sowie in der Verbürgerlichung der Kultur begründet sind.
Die Dyade, an der begegnungsgeschichtliche Verfahrensweisen hier
vorgeführt werden, ist Germanness-Dutchness.
Das vierte Kapitel dieser Arbeit gibt einen knappen vergleichenden Abriß der
begegnungs- und identitätsgeschichtlich relevanten gesellschaftsgeschichtlichen
Hintergründe in Deutschland und in den Niederlanden auf der Basis der
neueren Untersuchungen. Hierin ist auch eine vergleichende Darstellung der
deutschen und niederländischen Trägerschichten des Begegnungsdiskurses
verarbeitet. Das Kapitel erläutert, warum die kontrastive und konfrontative
"Dialogik" der nationalen Begegnungsdiskurse zustandekommt und
leitet über zu der Frage, wie diese sich textuell repräsentiert.
3.4 Identität und Diskurs:
historisch-semantischer Zugang
Begegnungsgeschichte ist bestimmt durch die spezifischen nationalen
Konfigurationen kultureller Muster, die im Laufe der "Erfindung der
Nationen" als Selbst- und Fremddeutungsmuster "kollektiviert"
werden.
Die kollektiven Logiken und Dialogiken der Nationalkulturen verfestigen
sich in bewußtem und unbewußtem Kontrast zu den Nachbarkulturen. Untersuchungen
der "Bedeutung" und Wirkungsmacht historischer
"Grundbegriffe" sind in den letzten Jahren vor allem von Reinhart
Kosellek angeregt und durchgeführt worden. Auch zur Methodologie einer
"historischen Semantik" liegen interessante Ansätze vor.
Begegnung und Begegnungsgeschichte werden greifbar und rekonstruierbar
als Diskurs und als Dialog, als eine Vielzahl aufeinander reagierender Texte,
in den Tausende von Begegnungsakten festgehalten sind. Der Begegnungsdiskurs
und seine Geschichte gehören - wie bereits im letzten Abschnitt festgestellt -
einem Diskurstyp an, der viele Urteile, Vorurteile und Stereotypen
transportiert und deshalb im heutigen rationalen Wissenschaftsdiskurs
diskrimininiert und tabuisiert wird. Für die Diskursgeschichte der Begegnung
gilt jedoch dasselbe, was Foucault in seiner "Ordnung des Diskurses"
am Beispiel der Geschichte der Biologie festgestellt hat: sie besteht
"nicht nur aus Wahrheiten, sondern auch aus Irrtümern, die nicht
Residuen oder Fremdkörper sind, sondern positive Funktionen haben, historisch
wirksam sind und eine Rolle spielen, die von der Wahrheit oft nicht zu trennen
ist" (Foucault 1982: 22).
Und entsprechend zu Foucaults Gedankengang mußten zu verschiedenen
Zeiten auch in Texten, die im weitesten Sinne der Ethnographie zuzurechnen
sind, Sätze bestimmten paradigmatischen Bedingungen entsprechen, die - teils
radikalen - zeitlichen Veränderungen unterlagen. So verschwindet zum Beispiel
die paradigmatische Gültigkeit der Physiognomik, die sich in ethnographischen
Texten des 19. Jahrhunderts zeigt, im Laufe des 20. Jahrhunderts völlig aus
dem Gesichtskreis.
Das fünfte Kapitel untersucht auf der Grundlage und unter Fortführung
dieser Ansätze die Funktion nationalkultureller Deutungsmuster im deutsch-niederländischen
Begegnungsdiskurs. Dabei wird die spezifische Phänomenologie des
deutsch-niederländischen "Deutungsfächers" aufgezeigt, der einen
begriffssemantischen Rahmen für die Analyse deutsch-niederländischer Begegnungen
bietet.
3.5 Diskurs und Dialog:
pragmatisch-narratologischer Zugang
Die begegnungsgeschichtliche Dialogik entsteht an den hin- und
hergehenden Texten der nationalen Begegnungsdiskurse, Texten, die den Dialog
suchen, Texten, die ihn eher meiden, Texten, die ihn implizieren. "Wo
verschiedene Diskursordnungen aufeinanderstoßen, treten Streitfälle auf -
Lyotard spricht von différend - , für
die es keine Entscheidungsinstanz gibt, da übergreifende Maßstäbe fehlen"
(Waldenfels 1990: 49). Diskursen eignet Regionalität; sie haben Territorien
und Grenzen, innerhalb derer sie der Festigung der Identitäten dienen.
"Die Identität wird fraglich an den Grenzen der Diskurse" (Waldenfels
1990: 53f.). Der Dialog dagegen kann prinzipiell global und grenzenlos sein: er
überschreitet die regionalen Diskurse. Diskurse sind endlos, Dialoge haben ein
Ziel: die Abgleichung unterschiedlicher Positionen. Diskurse konstruieren
Wirklichkeitsmodelle, Dialoge vermitteln zwischen ihnen.
Dem Dialog der Personen entspricht der Dialog der Texte, ihre Intertextualität.
Die Pragmatik der Begegnungstexte hat die Herauslösung dieser Intertexte zum
Ziel. Die Untersuchung der textuellen Repräsentation kontrastiver und
konfligierender nationaler Deutungsmuster bewegt sich zwischen den Stühlen
einer ganzen Reihe von Disziplinen und Unterdisziplinen: Tangiert sind sowohl
Sprach- und Literaturwissenschaft mit ihren komparatistischen,
imagologischen, erzählwissenschaftlichen und pragmatischen Komponenten, als
auch die Geschichts- und Sozialwissenschaften mit ihren mentalitätsgeschichtlichen,
narratologischen und kultursoziologischen Zweigen. Die Untersuchung der
sprachlichen Umsetzung von Alienisierungsakten ist mit der Begrifflichkeit der
Stereotypie nicht zu erfassen. Sie bedarf eines differenzierteren Ansatzes.
Das sechste Kapitel geht in einem Exkurs auf die Beschränkungen
der Imagologie ein und entwickelt einen Ansatz zur begegnungsgeschichtlichen
Texttheorie und Quellenkunde sowie als Analyseinstrument eine Typologie
xenographischer Anschauungsformen.
3.6 Dialog, Spiel und
Partizipation: didaktischer Zugang
Dialog ist vom Alltagsverständnis her der mündliche Austausch
zweier (oder mehrerer) realer Personen. Dialog läßt sich aber auch als ein
abstrahierter Austausch mit abstrakten Interaktanten verstehen: in diesem Sinne
können wir z.B. von einem deutsch-niederländischen Dialog sprechen. Beide
Dialogarten sind, insofern sie sich auch als emphatische Formen des Gesprächs
darstellen lassen, die zentralen Austausch- und Verständigungsformen
landeskundlicher (Unterrichts-) Kommunikation. Der abstrakte Dialogbegriff
hat als Bezeichnung interkulturellen Austauschs Tradition und wird auch
neuerlich in diesen Zusammenhängen wieder verstärkt gebraucht (vgl. die
Beiträge in Hess-Lüttich/Papiór 1990). Daneben wird er immer auch schon als
pädagogischer Dialog verstanden, in dem Lehrende und Lernende sich gemeinsam
verstehens- und verständigungsorientiert zueinander verhalten. Als solcher
wird er im muttersprachlichen Unterricht als Gesprächsform erlernt und geübt.
Im Fremdsprachenunterricht kommt in der Didaktik des Dialogs vor
der anspruchsvollen Ebene der Reflexion und Rhetorik zunächst der Erwerb der
schlichten sprachlichen Überlebenskompetenz ins Blickfeld. Diese stellt sich
ihrerseits dialogisch dar: nämlich in der Performanz alltäglicher dialogisch
orientierter Handlungen (z.B. Erkundungsdialoge, Kontaktgespräche), die mit
Hilfe von Lehrwerkdialogen und dazugehörigen Übungen vermittelt werden. Eine
Übungsform, die sich seit den siebziger Jahren wachsender Beliebtheit erfreut,
ist das Rollenspiel, in dem die Situationsbezogenheit sprachlichen Handelns in
simulativen Akten nachvollzogen werden kann. Die Möglichkeiten spielerischer
Simulation über begrenzte Situationsdefinitionen hinaus sind noch wenig ausgeschöpft.
In ihnen eröffnet sich die Verbindung von Spiel mit Begegnung und Identität,
womit unser Reigen an seinen Ausgangspunkt zurückkehrt.
Im siebten Kapitel werden Wege zur Didaktik der Begegnung und
Begegnungsgeschichte gezeigt. Die Einbettung der Begegnungsgeschichte als
landeskundliche Komponente des Fremdsprachenunterrichts hat Folgen für die
Didaktisierung ihrer Fragestellung und Quellentexte. Es geht darum, die
Eigengesetzlichkeit des Fremdsprachenunterrichts, deren Hauptkomponenten
im ersten Kapitel beschrieben wurden, mit den Prinzipien der Begegnungsgeschichte
zu vermitteln. Die Lernenden sind als Subjekte der thematisierten Nationalkulturen
immer schon auch Subjekte des thematisierten Begegnungsdiskurses und haben
damit die ideale Chance, auch Subjekte ihres Lernprozesses zu sein. Über die
Text- und Dialogdidaktik hinaus muß sich dieses Potential in handlungsorientierten
Simulationen verwirklichen können. Hierzu werden die Möglichkeiten
ausgelotet, die sich in konventionellen Unterrichtssituationen verwirklichen
lassen, aber auch die gegenwärtig sichtbaren Erneuerungen, die sich aus der
revolutionären Kulturtechnik des Internet
und des World Wide Web ergeben.
[1] Das
Sprachenlernen in binationalen Gruppen ist in der Bundesrepublik Deutschland
seit den sechziger Jahren im Rahmen deutsch-französischer Jugendbegegnungen
konzeptualisiert und in der Literatur unter der Bezeichnung "Tandem"
beschrieben worden (vgl. Herfurth 1993 und 1994).
[2] Der Begriff "Dyade" wird z.B. in
der Familiensoziologie und in der Dialogforschung zur Bezeichnung einer zu
Untersuchungszwecken fokussierten Zweierbeziehung innerhalb einer aus mehreren
Personen bestehenden Gruppe gebraucht.
[3] Die
deutschen Wortbildungsmöglichkeiten führen hier zu unschönen oder beladenen
Begriffen, wie "Französischheit" oder "Deutschheit". Wir
wählen deshalb die im anglosächsischen Sprachraum in der Identitätsforschung
zunehmend benutzten Wortbildungen mit dem Suffix -ness.
[4] Der
Begriff "décalage" wurde von dem Franzosen J.‑ M. Carré in seinen
Untersuchungen zum Deutschlandbild bei französischen Schriftstellern
entwickelt. Er gebrauchte ihn erstmals 1928. Carré gilt als Begründer der
komparatistischen Imagologie. Vgl. Fischer 1981: 157‑190.
[5] "Cultural
retard" ist der entsprechende Begriff zu "décalage" in der
amerikanischen Soziologie. Er wurde entwickelt von W. F. Ogburn, Social Change
with Respect to Cultural and Original Nature, New York 1922.
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