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Montag, 15. Juni 2015

Begegnung und Begegnungsgeschichte: Ein Konzept für Landeskunde im Fremdsprachenunterricht

Im dritten Kapitel meiner Dissertation „Land in Sicht“ (Groningen 1997) habe ich das Konzept und den Aufbau der Arbeit erläutert. Da die gedruckte Fassung der Arbeit nur schwer zugänglich ist, setze ich unter dem Label „Vorträge“ Teile davon in mein Blog. Wer mehr lesen möchte, kann sich bei mir melden.

  Peter Groenewold, "Begegnung" und "Begegnungsgeschichte":
  Definition und Reichweite des Konzepts

  "Die Geschichte kann im Augenblick der Begeg­nung zu­rücktreten, aus ihr entlassen sind wir nie."
                                                     (Bernhard Waldenfels, Der Spielraum des Verhaltens, 1980)

3.1       Das Konzept "Begegnung"

    Das im folgenden entwickelte Konzept einer dialogischen Begeg­nungs­ge­schichte soll einen Beitrag zur Weiteren­twicklung der Lan­deskunde innerhalb des kommunika­tiv‑in­terkulturellen Paradigmas des Fremd­sprachenunterrichts liefern. Wir betrachten die Anwend­bar­keit des Konzepts hier nur in bezug auf Lernergrup­pen in tradi­tionel­len schuli­schen und univer­sitären Lernsituationen (Lerner mit der Ausgangs­spra­che "X" erlernen die Fremdsprache "Y") und in geogra­phisch‑kul­tu­rell relativ eng zusam­menhängenden Regionen wie sie z.B. durch den europäischen Raum gegeben sind.
    Begegnung ist im alltagssprachlichen Sinn die reale, körperliche Anwe­senheit erfordernde Situation, in der zwei oder mehrere Perso­nen physisch und/oder verbal interagieren. Unter den ­Standard­bedin­gun­gen im Unter­richtsraum einer Unter­richtsin­stitution sind diese Voraus­set­zungen in dem Sinne gegeben, als Lehrende und Lernen­de sich in der Unterrichtssituation begegnen, bei der eine Reihe unter­richts­bezo­gener (und nicht unterrichtsbezo­gener) dialogischer (inter­akti­ver) Aus­tauschprozes­se statt­finden. Die reale face-to-face-Begegnung der Ler­nenden mit Angehörigen der Zielgesell­schaft gehört nicht zu den Standardsitu­ationen des Fremdsprachen­un­terrichts und wird deshalb im Rahmen dieser Arbeit nicht themati­siert. Daß sie wün­schenswert ist und sich aus ihr besondere didaktische Möglichkei­ten ergeben, liegt auf der Hand. Auch die reale Begegnung von Fremd­sprachenler­nen­den aus zwei Sprachkul­turen, wie sie sich in der Tan­demdi­daktik etabliert hat, kommt nicht in das Blickfeld dieser Arbeit, da sie gleich­falls nicht zu den Standardsi­tuationen gehört und - auch didaktisch - m. E. völlig andere Konzeptio­nen erfordert.[1]
    Trotz dieser Einschränkungen muß das Ziel des Fremdsprachenun­ter­richts darin beste­hen, den Lernenden eine adäquate Beteili­gung an verbalen Situationen mit Angehörigen der Zielkultur zu ermöglic­hen. Soweit reale Situationen nicht gegeben sind, kann die Simulati­on von Situationen den Rahmen für die Einübung der Partizipation an der Zielkultur abgeben.
    In vielen Schulen wird im Fremdsprachenunterricht noch immer der Grammatik eine Hauptrolle als strukturgebendes Element zugewie­sen­ und nicht die Rolle einer Hilfswissen­schaft, die ihr im didaktischen Bereich gebührt. Wir plädieren in dieser Arbeit dafür, als bestim­men­des Strukturelement eine Begeg­nungsgrammatik bzw. eine Situations­grammatik zu etablieren, die als Simulations­maschine den Fremdspra­che­nunterricht näher an seine eigentlichen Aufgaben heranführen kann.

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  Der oben kurz ausgeführte reale Begegnungsbegriff stimmt im Prin­zip überein mit dem in der Sozialpsychologie verwendeten Situations­be­griff (vgl. z.B. Van de Sande 1996: 25-58). Für die Simulation von Be­gegnungen sind die Ergebnisse der sozialpsycholo­gischen Situati­ons­forschung von großem Interesse. Die Versuche, zu universellen Taxo­nomien von Situationen zu kommen, können für eine Neustruktu­rie­rung des Fremdsprachenunterrichts adaptiert werden. Wir werden hierauf im siebten Kapitel dieser Arbeit eingehen (s. Abschnitt 7.3.6.1).
Im Zentrum unserer Untersuchung stehen jedoch die historischen Aspekte von "Begeg­nung": Ihre gesammelte Wirkungsmacht bestimmt in erheblichem Maße jede gegenwärtige Begegnung. Um diese Dimen­sion in den Blick zu bekommen und analysieren zu können, ver­wen­den wir im wesentlichen einen abstrahierten Begegnungsbe­griff, der teils umfassender und teils stärker eingeschränkt ist als die in der Sozialpsy­chologie hantierten Situationsbegriffe.
    Die Grundope­ration des hier vertretenen Konzepts "Begeg­nung" ist, den Blick auf die für den Fremd­sprachenunter­richt spezifische Bezie­hungs­koppelung zwi­schen zwei Zielgesellschaften zu lenken. Die Zielges­ellschaften stellen sich in der Perspektive der am Lernprozeß beteiligten Personen jeweils als eine Eigen- und eine Fremdkultur dar. Hieraus ergibt sich der Charakter der Paarigkeit: der (reale) Lernende mit der Sprache/Kul­tur/Ge­sellschaft "X" begegnet der (medial ver­mittelten) Person/Spra­che/Kul­tur/Ge­sellschaft "Y". Innerhalb seines Wirklichkeitsmo­dells konstruiert der Lernende ein Bild von der Zielge­sellschaft und den in ihr lebenden Individu­en, das er bei Bedarf aktua­lisiert. So hat auch die abstrakte Begegnung der Beziehungs­koppe­lung "X-Y" Intersubjek­tivitätscha­rakter, und wir wählen zu ihrer Bezeich­nung den Begriff der "Dyade"[2]. Im eu­ropäischen Raum lassen sich also z.B. fol­gende Begeg­nungs­dya­den thema­tisieren: Deut­sche-Fran­zosen, Franzo­sen-Engländer, Niederländer-Deutsche u­sw. Die zu­nehmende Multikultu­ralität im europäischen Klassenraum ermöglicht die erweiternde und verglei­chende Einbeziehung von Sprachen und Kulturen. Auf die damit verbundene Drittperspekti­ven­problematik gehen wir später noch ein.
    Die hier gewählte personale Bezeichnung der Beziehungskoppelung - z.B. Deutsche-Niederländer - ist jedoch noch kein korrekter Aus­druck unserer Untersuchungsperspektive, die sich jeweils auf die wechsel­seitige Anschauungs­summe von X und Y richtet, also z.B. auf das von Deutschen an den Niederlanden, den Nie­derländern, der nie­derländi­schen Kultur und Gesellschaft als "nie­derländisch" Empfun­dene. Es geht also um die Thematisie­rung von "Dutchness"[3] aus der Sicht von X, d.h. aus der Sicht von German­ness. Wir drücken diesen Aspekt durch Anführungszeichen aus: X-"Y". Ger­man­ness-"Dutchness" heißt also: Nie­derländisches, durch deutsche Augen betrachtet. Dies beinhal­tet immer auch: Dutchness als Funktion von Germanness, d.h. die For­mulierung eines deut­schen Selbstbildes auf der Folie eines Niederlan­debildes, die Definition eigener Identität durch deren Ab­setzung von anderer Identität. Die Untersuchung­sper­spektive betrach­tet in prinzi­piellem Perspektivenwechsel beide Richtungen: X als Funktion von Y und Y als Funktion von X, also auch: Germanness als Funktion von Dutchness. Ein Teilziel der Untersu­chung ist, die textuel­len Re­präsenta­ti­o­nen wechsel­seitiger Fremdbilder in ihrer Funk­tion für das jeweilige Selbstbild zu erheben und Wege zu ihrer Analy­se zu zeigen. Die typi­sche Untersuchungs­frage lautet in diesem Zusam­men­hang: Inwieweit machen niederländische (deutsche) Iden­titätskon­­­­strukti­onen in einem Akt der Kontrastie­rung und der Absetzung vom jeweils Anderen (positive/negative Alienisie­rung) einen alienativen Gebrauch von Germanness (Dutchness), und mit welchen sprachlichen Mitteln werden diese Alienisierungen vollzog­en?
    Hierbei stellt sich die Frage, ob die Zugehörigkeit des Forschers bzw. - auf der didaktischen Ebene - des Lehrers zu einer der beteilig­ten Ge­sellschaften X oder Y nicht Verzerrungen in der Wertigkeit der X- oder der Y-Position erzeugt. Idealerweise sollte das nicht der Fall sein, zumindest soweit es den wissenschaft­lichen Teil der Untersu­chung betrifft. Prinzipiell ist von einer auf die beiden Zielkulturen X und Y orientierte, lebensweltlich-kulturelle und kulturwissen­schaftlich fun­dierte Doppelkompetenz der an dieser Art Projekten zu beteiligen­den Wissen­schaftler auszugehen. Die spezifische Problematik einer solchen Doppelkompetenz in der wechselseitigen Begegnungsfor­­schung, in der es u.a. um affektive Einstellungen geht, die auch die Interpretations­muster wissen­schaftli­cher Arbeit beeinflussen können, wird aus dem weiteren Verlauf dieser Untersu­chung ersichtlich. Einige Konsequen­zen und Fragen, die sich daraus ergeben, sind in Abschnitt 7.1.4 - 7.1.6 aufge­nom­men.
    Die Wertigkeit der X- und der Y-Position als Eigen- und als Fremd­kul­tur hat allerdings begründbare Konsequen­zen auf der didakti­schen Ebene, z.B. bei der Entschei­dung der Thematisie­rung von Aspekten im Unterricht und bei der Auswahl von Texten.
    Wir wollen nicht den Anspruch erheben, mit dem in dieser Arbeit vorgeschlagenen Analyseinstrumentarium allen Implikationen gerecht zu werden, die sich aus den vielen unterschiedlichen Paar­ungsmög­lich­keiten erge­ben. Jede einzelne Beziehungs­koppelung, jede Dyade hat ihre spezifische historische Problematik und gegenwarts- bzw. ver­gangenheitsbezogene Intensität. So weist z.B die Dyade Dutch­ness-Spa­nishness eine ganz andere Ladung auf als die Dyade Dutch­ness-Por­tuguese­ness. Und so gibt es im europäi­schen Raum histori­sche Son­der­fälle (z.B. Dutchness-Belgianness) und kultur- und identitäts­ge­schicht­liche Spezia­litäten (z.B. German­ness/Greek­ness), deren wis­sen­schaf­tliche Untersuchung und Thematisie­rung im Unter­richt einen eigenen Reiz hat. Daneben stehen relativ bezie­hungs­schwa­che Dyaden (z.B. Danish­ness-Ru­manian­ness), für die begeg­nungs­ge­schichtliche Ver­fah­rens­weisen im Fremdsprache­nunterricht wahr­s­cheinlich weniger er­tragreich sind, und Dyaden, die für den Fremd­spra­chen­nunter­richt gar nicht in Frage kommen, da beide Zielgesell­schaften die gleiche Spra­che sprechen (z.B. German­ness-Austrian­ness), die aber gleich­wohl Ge­genstand einer fruchtbaren begegnungs- und identitätsge­schic­htlichen Untersuchung sein könnten.
    Pragma­tisch gesehen geht es in unserem Zusam­menhang um die Dya­den, die im Fremdspra­chenunter­richt an europäischen Schulen und in der Lehrerausbildung an europäischen Universitäten und Hochschu­len vorkommen können. Die traditio­nell im Schul­rahmen gelehrten leben­den Fremdspra­chen sind die sogenannten "Weltspra­chen" - Englisch und Französisch - sowie die Spra­chen der unmittel­ba­ren Nach­barlän­der. Sie werden gelehrt, da ein bestimmtes Maβ an Beziehungs­inten­sität gegeben ist. Eben diese historisch gewachsene Bezie­hung­sintensi­tät ist aber auch die Vorausset­zung dafür, daβ "Be­geg­nungsgeschichte" als Leitkatego­rie für Landeskun­de funktionie­ren kann.
    Im Vorhergehenden ist bei der Hinführung zum Begriff der "Dyade" bewuβt auf die Begriffe "Volk" oder "Nation" ver­zich­tet worden, da diese jeweils bereits ideologische Begriffe darstellen, deren Verstär­kung nicht in der Inten­tion dieser Arbeit liegt. Bei der Konstruktion von Begeg­nungsdyaden handelt es sich denn auch gerade nicht um einen "wesensmäßigen" Vergleich von "Volks‑" oder "Nationalcha­rak­teren", sondern um eine phänomenologische Analyse der wechsel­seiti­gen Anschauungen und Anschau­ungsweisen, die eine "in einem Land­strich vereinigte Menge von Men­schen" (Kant) über eine in einem anderen Landstrich verei­nigte Menge von Menschen hegt.
    Die Untersuchung dieser Anschauungen und Anschauungsweisen wird schon im Ansatz eine Differenzierung und Reduktion der unter­suchten Menge in Teilmen­gen erfordern, denn natürlich denken nicht alle Franzosen dasselbe über die Deutschen und nicht alle Deutschen dasselbe über die Engländer. Dennoch ist eine Differenzie­rung nicht das Hauptziel unseres Ansatzes, der auf die Analyse kollektiver Menta­litäten zielt; es liegt in ihr sogar die Gefahr einer völligen Relativie­rung begeg­nungs­spezifischer Anschauungen, die Gefahr einer Leug­nung des Problems, d.h. einer Leugnung der Unter­schiede und damit einer Ver­nachlässigung ihrer Wirkung­smacht, die u.U. auch noch in einem gutgemeinten humanis­ti­schen und kosmopo­litischen Gewand einherkommt. Die Wurzeln des Problems liegen im Phänomen der Herausbildung kultureller und nationaler Identitäten wie es sich seit dem 18. und 19. Jahrhundert entwickelt und im 20. Jahrhundert zu mörderischen Konsequen­zen geführt hat. Diese Bezüge werden in der Rahmenkonzeption dieser Untersuchung berücksichtigt.
    Diese Arbeit widmet sich der Dyade Deutsche-Niederländer bzw. German­ness-Dutchness und arbeitet deren historische Spezifik aus, die u.a. durch die Faktoren: unmittelbare Nachbarschaft, Handel, Nähe/ Distanz, Freund­schaft/Fei­ndschaft und großes Land/kleines Land bestimmt ist. Die Entscheidung für diese Dyade hat Gründe, die in der Biographie und im Ausbildungs­gang des Verfassers liegen. Dennoch ist es vielleicht nicht zufällig, daβ gerade ein Deutscher, der in den Nieder­landen lebt, den Begegnung­saspekt in den Rang eines Leitkon­zepts erhebt: Gängige Vorurteile im deut­schen Bereich gehen von einer weitgehen­den soziokulturellen Einheitlich­keit des deutschen und nie­derländi­schen Raumes aus, was zu Vereinnahmungen führt, gegen die sich Niederländer empört zur Wehr setzen. Andererseits haben die deutschen Nachkriegsgenerati­onen ein positives Bild der "toleranten" und "liberalen" Niederlande, das sie als Folie für die eigene, vergan­genheits- und schuldbeladene Problemidentität benutzen. Bestimmte nie­der­ländi­sche Gruppenmen­talitäten, die historisch ableitbar und beschreib­bar sind, weisen einen extrem ignorie­renden und abweisen­den Cha­rakter gegenüber Deutschen, Deutschem und Deutschland auf. Dutch­ness als Funktion von Germanness und Germanness als Funktion von Dutchness ergeben so ein jeweils eigenes Bild mit eigener Spezifik auf der Grundlage einer gemeinsamen und problemati­schen Begeg­nungs­ge­schichte. Die Notwendigkeit verstehender Begegnung und der dialo­gi­schen Verständi­gung über Gegenstands- und Wahrnehmungs­be­rei­che auf beiden Seiten drängt sich so besonders auf.


3.2       Rahmenbegriffe

    Die hermeneutischen Rahmenbegriffe der interkulturellen Germani­s­tik - Toleranz, Fremdheit, Interkulturalität, Distanz und Aneignung -  die auch in die Landeskun­dediskussion einbezogen werden, scheinen uns als leitende Kategorien für die Vermittlung von Gesellschaft, Spra­che und Unterricht weniger geeignet zu sein (vgl. Abschnitt 2.8.1 - 2.8.3). Wir machen für unsere Zwecke Gebrauch von sechs Begriffen, die eher imstande sind, den Orientie­rungs­charakter, die Dynamik und die Prozeßhaf­tigkeit interkultu­rel­len Lernens zu erfassen und den Bedürfnissen einer Landeskunde im Fremdsprachenunterricht zu die­nen: Begegnung, Identität, Diskurs, Dialog, Spiel und Partizipation.
Begegnung und Identität sind dabei die zentralen Leitbegriffe, denen Diskurs, Dialog, Spiel und Partizipation zugeordnet sind. Partizipation steht am Ende zur Kennzeichnung gelingender Begeg­nung. Diese sechs Rahmen­be­griffe lassen sich in einem Reigen von Bezie­hungs­koppelungen den drei zu vermittelnden Ebenen der Landes­kunde, nämlich Gesellschaft, Sprache und Unterricht, zuordnen: Begeg­nung und Identität verbinden sich mit Gesellschaft, Identität und Diskurs mit Ge­sellschaft und Sprache, Diskurs und Dialog mit Sprache und Unter­richt sowie Dialog und Spiel mit Unterricht. Am Schluß führt das Paar Spiel und Partizipation wieder zur Ge­sellschaft zurück. Die­ser Bezie­hungs­reigen bestimmt den weiteren Aufbau der hier vorge­legten Un­tersu­chung.
    Natürlich ist keiner der vorgeschlagenen Rahmenbegriffe neu. Man­che von ihnen haben eine ausgeprägte pädagogische und didaktische Ver­gangenheit. Das im Zusammenhang mit Fremdspra­chenunterricht neueste Element ist der Begriff der "Identität", der in den neunziger Jahren zu einer fachübersteigenden wissen­schaftlichen Modekate­gorie geworden ist. Die Qualität der Begriffe muß sich demnach aus ihrer Kombination und ihrer Operationalisier­barkeit für die Landeskun­de im besonderen und für den Fremdspra­chenunterricht im allgemei­nen beweisen.
    Die einzelnen Rahmen­begriffe und ihre wechsel­seitige Vermittlung und Zuordnung werden im folgenden näher erläutert. Daraus ergibt sich die Zusam­menstellung eines interdisziplinären Pakets wissen­­schaftli­cher "Zugänge", die eine kohärente Darstellung des Gesamtzu­sam­menhangs im Rahmen der Bedürfnisse von "Begeg­nungsgeschich­te" ermögli­chen:

    -      der gesellschafts- und kulturgeschichtliche Zugang
    -      der historisch-semantische Zugang
    -      der pragmatisch-narratologische Zugang
    -      der didaktische Zugang

    Mit den vier Zugängen werden der Gegenstandsbereich der Begeg­nungsge­schichte, ihr Er­kenntnis­interesse, ihre Quellengrundlage, ihre Methodologie und ihre Umsetzung im Fremdsprachenunterricht be­schrieben und problematisiert. Die einzelnen Zugänge werden in den Kapiteln 4 - 7 dieser Arbeit inhaltlich und methodolo­gisch behandelt.


3.2.1          "Begegnung" als Leitbegriff

    Was kann der Begriff "Begegnung" in seiner synchro­nen und dia­chronen ("Begeg­nungsgeschichte") Bedeutung für die Landes­kunde in einem kommunika­tiv‑interkulturellen Fremd­sprache­nunterricht lei­sten?
    Gewählt haben wir den Begriff als Resultat der Suche nach einem mög­lichst einfachen, im weitesten Sinne "landeskundli­chen" Grundele­ment bzw. einer einfachen Grundsituati­on des Fremdspra­chenunter­richts: Den Lernenden "begegnet" in der fremden Sprache und - ver­mittelt durch die fremde Sprache - die andere Kultur, das andere Land, der fremdspra­chige/‑kultu­relle andere Mensch. Diese Begeg­nung vollzieht sich im Unterricht vorstruktu­riert und textver­mittelt über verschiedene Medien sowie über eine in der Regel eigenkul­turelle Mittlerper­son (Leh­rer) oder auch über fremdkultu­relle Personen in ganz unter­schiedlichen inner‑ und auβerunter­richtlichen Zusam­menhängen.
    Von groβer Bedeutung ist auch, daβ vorgängige kognitive und affekti­ve Elemente aus dem Erfahrungshorizont der Lernenden die Begeg­nung mitkonsti­tuieren und in den Unterricht eingehen. In der Thema­tisierung der Wechselseitigkeit und in der Herein­nahme affekti­ver Elemente realisiert sich das Grundprinzip des interaktiven Unter­richts.
    In der Wissenschaftsgeschichte, insbesondere in der Ge­schichte der Pädagogik, ist die Kategorie "Begegnung" nicht ohne Vorgänger: Als anthropologisch‑pädag­ogische Fundamen­talkatego­rie im existentialisti­schen Sinne (vgl. Gerner 1969) wollen wir sie jedoch nicht betrach­ten, eher im Sinne eines pragmati­schen Konzepts, das geeignet ist, die Implikationen der Aufgabenstellung eines modernen Fremdspra­chen­unter­richts zu umgreifen. Dennoch geben die drei repräsen­tativen Begeg­nungsbe­griffe der existentialis­ti­schen Pädagogik der Nach­kriegs­zeit durchaus die Stichworte für die Diskussion einer pragma­tischen Begeg­nungslehre. Verblüffend ist auch die begrifflich-sprachliche Nähe zu Positionen der Fremdheits­forschung der achtziger Jahre: "Begeg­nung als verarbeiten­des Hereinnehmen des Anderen gerade als Ande­res" (Theodor Litt), "Begeg­nung als Anders­werden am Anderen" (Boll­now) und "Begeg­nung als Selbstwer­den durch das Andere" (Derbolav) (zitiert bei Gerner 1969: 25; vgl. Abschnitt 2.8.1 und 2.8.2 dieser Ar­beit).
    Die nahe Verwandtschaft der erkenntnistheoreti­schen Grundlagen der älteren Begegnungspädagogik mit der "Fremd­heitsfor­schung" ist au­genfällig (vgl. Wierlacher 1985 und Krusche 1985). Letz­tere richtet sich jedoch in einer Verabso­lutierung des Fremd­heitsbegriffs mit Vor­liebe auf das extrem Fremde. Ihre wissen­schaftsge­schichtli­chen Theo­rie­grundlagen sind u.a. in den Arbeiten von Claude Lévi‑­Strauss und Michel Leiris zu suchen, also in der anthropo­lo­gisch‑ethnologi­schen Wende des 20. Jahrhunderts, die die Überstei­gung und Refle­xion des eigenen (europäischen) Kulturraums zum Programm erklär­te.
    Wir sehen im Konzept "Begegnung" für den Fremdsprachenunter­richt eine Reihe von Vorteilen gegenüber den Konzepten der "Fremd­heit" und/oder der "Toleranz". Der wichtigste dieser Vorteile ist der Prozeß- und Handlungscharakter des Begriffs, der ihn als Leitkonzept für ein interaktives Fremdsprachenlernen sehr geeignet erscheinen läßt: Be­gegnung ist eine Aktivität, in der alltägliches Handeln, Per­spektiven­wechsel, Reflexion und Problematisierung zusammenfließen. Begeg­nung ist ein Geschehen mit dynamischem Potential, das Mög­lichkeiten für ein Gelingen und für ein Scheitern von Verständi­gungs­prozessen in sich birgt. Begegnung kann auch scheitern, so wie Kom­munikation auch scheitern kann. Der Begeg­nung ist aber auch eine Empathie ei­gen, die auf ein Gelingen des Prozesses gerichtet ist.
Der Begriff "Begeg­nung" umgreift den der "Fremdheit" und den ver­stehenwollen­den Umgang mit ihr; er dynamisiert die Starrheit der Fremdheit. Er umgreift auch die "Toleranz" in gleicher Art, indem er auch sie dynamisiert und in eine Folge von Handlungen, Reflexio­nen und Problematisierungen auflöst.
    Dem Begriff der Toleranz ist wegen seiner gesellschaftsethischen Qua­litäten die Sympathie des Publikums sicher. Niemand möchte als unto­lerant gelten. Wer die Toleranz im Munde führt, ehrt sich selbst und das eigene Handeln gleich mit. Begegnung ist diesbezüglich neu­tral und bescheiden: sie muß sich immer erst im Dialog beweisen und neu konstituieren.
    Begegnung ist postulierte Nähe, die vollzogen werden muß. Dies gilt für den einzelnen Begegnungsakt und auch für das hier vorgestell­te Gesamtkonzept. Von unserem Konzeptverständnis her richten wir uns ganz auf die "Nahfremdheit", die von der Fremdheitsforschung stark vernachlässigt worden ist (vgl. Abschnitt 2.8.1).
    Eine Begegnung vollzieht sich zwischen einem "Ich" und einem "Du", zwischen dem "Eigenen" und dem "Anderen". Diese Proble­ma­tik und Begrifflichkeit ist in der Philosophie (und Pädag­ogik) des 20. Jahrhu­nderts so "aufgeladen" worden, daß wir für unser Vorge­hen einer Standortbestimmung bedürfen, die als Rahmen für den in dieser Arbeit zentralen Identitätsbe­griff dienen kann. Wir finden diesen Rah­men in der Denkschule der phänomenologischen Philosophie. Bern­hard Waldenfels (1980) zeigt die "Aktualität der Phänomenologie" an den Problemfel­dern "Leibliches Verhal­ten", "Sprache und Kommunika­tion" sowie "Lebenswelt und Ge­schichte". In der Affinität dieser Berei­che zu den Paradigmen des Fremdsprachenunterrichts der letzten 15 Jahre (vgl. Kapitel 2) sehen wir die Chance einer fruchtbaren Verbin­dung.
    "Das leibliche Da bedeutet eine Vorgegebenheit von Welt, Selbst und Anderen, hinter die wir nicht zurückkönnen, und fernerhin ist diese Vorgegebenheit kein bloßes factum brutum, gegen das unsere Sinnentwürfe anrennen, vielmehr heben die Prozesse der Sinnbildung selbst an mit einer leiblichen Spon­taneität und schlagen sich nieder in leiblichen Gewohnheiten" (Waldenfels 1980: 17).
    Jede Wahrnehmung schließt eine Deutung in sich, die sich sowohl durch Versprachlichung als auch durch "vor- und außer­sprachliche Gestaltungs- und Strukturierungsleistungen" (Waldenfels 1980: 21) reali­siert: sie trägt bei zur Konstruktion der Wirklichkeit einer kom­munizierenden Gemein­schaft. Die "Pluralität von Deutungs­systemen" stellt sich bei Begegnun­gen als Hindernis, nicht aber als Verhinderung wechselseitiger Partizi­pation heraus.
    "Wie zwischen konkreten Sprachen, so ist auch zwischen ver­schie­denen Kulturen eine Übersetzung möglich, die eine Einheit in der Differenz herstellt" (Waldenfels 1980: 25). Oder, mit den Worten Hel­muth Plessners: "Wenn sich einzelne Menschen einigen, und wir erle­ben das täglich in der Wissen­schaft, im Rechtsleben, ja selbst im Kunstgenuß, wenn die ganze Fülle der Werte unseres Denkens, Füh­lens, Wollens bin­dend in Aktion tritt, echte Wirkung vom Einen zum An­dern über das über­persönliche Sachzentrum des Wertgehalts mög­lich ist, dann gibt es echte Gemeinschaft" (Plessner 1924: 47). Ples­sners Emphase für sein Konzept der "Sachgemeinschaft" steht notabe­ne im Zusammenhang einer Darstellung der "Grenzen der Gemein­schaft". "Nicht warme, dichte Atmosphäre, sondern kalte, dünne Luft weht hier, der Hauch des Geistes" (Plessner 1924: 48). In seiner Hal­tung der "Kälte" in Zeiten der aufkom­menden irrationalen Bluts- und Volks­gemeinschaft ist er uns ein Lehrer zur Frage des Verhältnisses von Nähe und Distanz, die sich in jeder Begegnung stellt (vgl. Ab­schnitt 4.4.3).


3.2.2          Begegnung als Begegnungs­ge­s­chichte

    Begegnung und Begegnungsgeschichte werden hier nicht als zwei ver­schiedene Konzepte verstanden, sondern als der synchrone und di­achrone Aspekt ein und desselben Konzepts. Unter Begegnungs­ge­schichte verstehen wir die Geschichte des kognitiven und affekti­ven "Wissens", die Geschichte der kognitiv und affektiv bestimmten Ein­stellungen der An­gehörigen einer Nation gegenüber einer anderen Nation und deren An­gehörigen.
    Traditionelle beziehungsgeschichtliche Ansätze und Untersuchun­gen - also etwa Politik- und Diplomatiegeschichte - haben ein völlig anderes Erkenntnisinteresse und bedienen sich völlig anderer Quellen. Bezie­hungsgeschichtliche Forschun­gen konzentrieren sich auf die Dar­stel­lung der Veränderungen in den Beziehungen zweier (oder mehre­rer) Nationen und auf die Analyse der Faktoren, die zu den Verände­run­gen geführt haben. Affektive Faktoren spielen hierbei als Gegen­stand der Darstellung in der Regel keine Rolle oder nur eine Neben­rolle. Kollektive Einstel­lungen affektiver Art, die sich in schriftlichen Quel­len nieders­chla­gen, gelten als unseriöse Bezugsgrö­βen und finden höchstens pejora­tive Erwähnung.
    Der Untersuchungsgegenstand der Begegnungsgeschichte ist jedoch gerade das kollektive gegenseitige Fremdbild, wie es sich in den Indi­viduen repräsen­tiert. Dieses Fremdbild im Kopf der Individuen be­steht nicht aus einem Satz von Stereotypen, die "unwissen­schaftlich" sind und mit denen zu beschäfti­gen sich für eine seriöse Geschichts­wissen­schaft nicht lohnt, sondern es handelt sich um ein differenzier­tes, mehr oder weniger kohärentes und sedimentiertes Gebilde, in dem tendentiell die gesamte kollek­tive Begeg­nungsge­schichte der betreffen­den Dyade aufgeho­ben ist, wenn auch in fragmentierter Form und durchwirkt mit Faktoren des Selbstbil­des und aktueller intrakultureller Bedürfnisse. In den geschichtlich gewach­senen Sedimentschich­ten des kollektiven Fremdbildes sind die Stereoty­pen und andere begeg­nungs­spezifische Anschau­ungsformen wie Fossile aufgehoben.
    Eingreifende Veränderungen sowohl langfristiger wie auch kurzfri­stiger Art in den Beziehungen zwischen zwei Nationen haben Folgen für das kollektive wechselseitige Fremdbild ‑ bzw. die kollektiven wech­sel­seitigen Fremdbilder, denn es kann gruppen‑ und schichten­spezifi­sche Abweichun­gen geben ‑ in einer Dyade. Sie können zu einem begeg­nungsgeschichtli­chen Brennpunkt führen, in dem es zu einer Ver­stär­kung und/o­der Neuverteilung der Fremdbild­se­dimente komm­t: In älteren Schichten aufgehobene Stereotype und Anschau­ungswei­sen dringen an die Oberflä­che und überlagern neuere Ent­wicklungen oder umge­kehrt. Diese Fremdbildtektonik ist jedoch vom Phänomen des "décalage"[4] bestimmt (oder amerikanisch: "cultural re­tard")[5], einer Ungleichzeitig­keit, Verzögerung in der Anpassung des Fremdbil­des an aktuelle Entwicklungen.
    Ein solcher begegnungsgeschichtlicher Brennpunkt ist erkennbar an einer Intensivie­rung der Produktion von Texten, die begeg­nungs­spezi­fische Aussagen enthalten: der Diskurs in der Gesellschaft X über die Gesellschaft Y erfährt eine qualitative und quantitative Steigerung. Ein Dialog zwischen X und Y setzt ein. Die Texte dieser Diskurse und Dialoge, aus denen sich begegnungsspezifische Aussagen isolieren lassen, bilden das Quellenmaterial der Begeg­nungsge­schichte.


3.3       Begegnung und Identität:
            gesellschafts- und kulturge­schichtli­cher Zugang

    Begegnungsgeschichte steht vor dem Hintergrund der allgemeinen Gesellschafts­geschichte der jeweiligen zwei Zielkulturen. Politische, wirtschaftliche und sozialgeschichtliche Faktoren beeinflussen sie. Ihre Inhalte sind gekennzeichnet durch die potentielle Problema­tisierung des gesamten Spektrums der Identitäts- und Sinnbildung­soperationen der Individuen der Zielgesellschaften. Die absolute Breite des Gegen­standsbe­reichs wird jedoch reduziert durch die Fokussie­rung auf die Begegnungsaspekte zweier nationaler Kulturen: auf ihre konkurrieren­den Wirklichkeitsmodelle, auf ihre wechselseitigen Deutungsmuster.
    Im Verlauf der Modernisierungsschübe der "Achsenzeit" des 17. bis 19. Jahrhun­derts entste­hen Nationen und Nationalkulturen im moder­nen Sinn. Die Modernisie­rungsprozesse verlaufen in Mittel- und Nord­west­europa teils gleichzeitig, teils ungleichzeitig, teils ein­heitlich, teils mit spezifischer Unterschied­lichkeit. Die ge­sellschaftsgeschichtlichen Entwicklungen des mitteleuropäi­schen Raumes sind in den letzten Jahren von der Geschichts­wissenschaft mit zum Teil neuen Ansätzen und Ergebnissen erforscht worden.
    Der kulturelle Nationalismus des 18. und 19. Jahrhunderts propa­gierte die Idee der permanenten Erneuerung der historischen Identität der Nation (vgl. z.B. Herder). Der Vorgang der Iden­titätsbildung ist prinzipiell unabs­chließbar. Er vollzieht sich organisch-evolutionär in einem dialektischen Prozeß zwischen Traditionalität und Modernität. Träger dieses Prozesses sind die Intellektu­ellen, die durch ihre Mög­lichkeit, die Medien zu nutzen, die die moderne Form der Öffentlich­keit konstituieren und be­herrschen. Sie "erfinden" die Nation, sie ge­ben ihr auch durch "invented traditions" (Hutchinson) ideologi­schen Halt in der Vergangenheit und Projekte für die Zukunft. "Typically cultural nationalists establish informal and decentralized clusters of cultural societies and journals, designed to inspire a spontaneous love of community in its different members by educating them to their common heritage of splendour and suffering. They engage in naming rituals, celebrate national cultural uniqueness and reject foreign practi­ces, in order to identify the community to itself, embed this identity in everyday life and differentiate it against other communi­ties" (Hut­chin­son 1987, zitiert in Hutchinson/Smith 1994: 124).
    Der von Hutchinson angesprochene Differenzierungsprozeß einer "imagined community" (Anderson) gegenüber anderen erfundenen Gemeinschaf­ten, insbesondere gegenüber direkt benach­barten, ist es­sentiell für die Aufrech­terhaltung des eigenen Identitätskon­strukts. Begegnungsge­schichte ist demnach immer auch Iden­titätsge­schich­te. Mit dieser Entwicklung korrespondieren gesellschaftsgeschichtliche Umwälzun­gen, die in der qualitativen und quantitativen Zunahme von Mobilität und Kommuni­kationsdichte sowie in der Verbürgerli­chung der Kultur begründet sind.
    Die Dyade, an der begegnungsge­schichtliche Verfahrensweisen hier vorgeführt werden, ist German­ness-Dutchness. Das vierte Kapitel dieser Arbeit gibt einen knappen vergleichenden Abriß der begeg­­nungs- und identitätsge­schichtlich relevanten gesellschaftsge­schichtli­chen Hin­ter­gründe in Deutschland und in den Niederlan­den auf der Basis der neueren Untersu­chungen. Hierin ist auch eine vergleichende Darstel­lung der deut­schen und niederländi­schen Träger­schichten des Begeg­nungsdis­kurses verarbeitet. Das Kapitel erläutert, warum die kontrasti­ve und konfrontative "Dialogik" der nationalen Begegnungs­diskurse zustandekommt und leitet über zu der Frage, wie diese sich textuell repräsentiert.


3.4       Identität und Diskurs: historisch-semantischer Zugang

    Begegnungsgeschichte ist bestimmt durch die spezifischen nationa­len Konfigura­tionen kultureller Muster, die im Laufe der "Erfindung der Nationen" als Selbst- und Fremddeu­tungsmuster "kollektiviert" werden.
    Die kollektiven Logiken und Dialogiken der Nationalkulturen ver­festi­gen sich in bewußtem und unbewußtem Kontrast zu den Nach­barkul­turen. Untersuchungen der "Bedeutung" und Wirkung­smacht historischer "Grundbegriffe" sind in den letzten Jahren vor allem von Reinhart Kosellek angeregt und durchgeführt worden. Auch zur Me­thodologie einer "historischen Semantik" liegen interessante Ansätze vor.
    Begegnung und Begegnungsgeschichte werden greifbar und rekon­struierbar als Diskurs und als Dialog, als eine Vielzahl aufeinander reagierender Texte, in den Tausende von Begegnung­sakten festgehal­ten sind. Der Begegnungsdiskurs und seine Geschichte gehören - wie bereits im letzten Abschnitt festgestellt - einem Diskurstyp an, der viele Urteile, Vorurteile und Stereotypen transportiert und deshalb im heutigen rationalen Wissenschaftsdis­kurs diskrimininiert und tabui­siert wird. Für die Diskursgeschichte der Begegnung gilt jedoch das­selbe, was Foucault in seiner "Ordnung des Diskurses" am Beispiel der Geschichte der Biologie festgestellt hat: sie besteht "nicht nur aus­ Wahr­heiten, sondern auch aus Irrtümern, die nicht Residuen oder Fremd­kör­per sind, sondern positive Funktionen haben, historisch wirksam sind und eine Rolle spielen, die von der Wahrheit oft nicht zu trennen ist" (Foucault 1982: 22).
    Und entsprechend zu Foucaults Gedankengang mußten zu verschie­denen Zeiten auch in Texten, die im weitesten Sinne der Ethnogra­phie zuzurechnen sind, Sätze bestimmten paradig­matischen Bedingun­gen entsprechen, die - teils radikalen - zeitlichen Veränderu­ngen unterla­gen. So verschwindet zum Beispiel die paradigmatische Gültigkeit der Physiognomik, die sich in ethnogra­phischen Texten des 19. Jahrhun­derts zeigt, im Laufe des 20. Jahrhunderts völlig aus dem Gesichts­kreis.
    Das fünfte Kapitel untersucht auf der Grundlage und unter Fort­führung dieser Ansätze die Funktion nationalkultureller Deutungs­mus­ter im deutsch-niederländi­schen Begegnungsdiskurs. Dabei wird die spezifische Phänomenologie des deutsch-niederländi­schen "Deu­tungsfächers" aufgezeigt, der einen begriffsse­manti­schen Rahmen für die Analyse deutsch-niederländischer Begegnun­gen bietet.


3.5       Diskurs und Dialog: pragmatisch-narratologischer Zugang

    Die begegnungsgeschichtliche Dialogik entsteht an den hin- und hergehen­den Texten der nationalen Begegnungsdiskurse, Texten, die den Dialog suchen, Texten, die ihn eher meiden, Texten, die ihn im­plizieren. "Wo verschiedene Diskursordnungen aufeinanderstoßen, treten Streitfälle auf - Lyotard spricht von différend - , für die es keine Entscheidungsinstanz gibt, da übergreifende Maßstäbe fehlen" (Wal­denfels 1990: 49). Diskursen eignet Regionalität; sie haben Territorien und Grenzen, innerhalb derer sie der Festigung der Identitäten dienen. "Die Identität wird fraglich an den Grenzen der Diskurse" (Waldenfels 1990: 53f.). Der Dialog dagegen kann prinzipiell global und grenzenlos sein: er überschreitet die regiona­len Diskurse. Diskurse sind endlos, Dialoge haben ein Ziel: die Abglei­chung unterschiedlicher Positionen. Diskurse konstruieren Wirklich­keitsmodelle, Dialoge vermitteln zwi­schen ihnen.
    Dem Dialog der Personen entspricht der Dialog der Texte, ihre Inter­textua­lität. Die Pragmatik der Begeg­nungstexte hat die He­raus­lösung dieser Intertexte zum Ziel. Die Untersuchung der textuellen Repräsentation kontrastiver und konfligier­ender nationaler Deutungs­muster bewegt sich zwischen den Stühlen einer ganzen Reihe von Disziplinen und Unterdisziplinen: Tangiert sind sowohl Sprach- und Literatur­wissenschaft mit ihren komparatisti­schen, imagologischen, erzählwis­senschaftli­chen und pragmatischen Komponenten, als auch die Geschichts- und Sozialwis­senschaf­ten mit ihren menta­litätsge­­schichtli­chen, narratologischen und kultursozio­logi­schen Zweigen. Die Untersuchung der sprachlichen Umsetzung von Alienisierungsakten ist mit der Begrifflichkeit der Stereotypie nicht zu erfassen. Sie bedarf eines differenzierteren Ansatzes.
    Das sechste Kapitel geht in einem Exkurs auf die Beschränkungen der Imagologie ein und entwickelt einen Ansatz zur begegnungsge­schichtlichen Texttheorie und Quellenkunde sowie als Analyseinstru­ment eine Typologie xenograp­hi­scher Anschauungs­formen.


3.6       Dialog, Spiel und Partizipation: didaktischer Zu­gang

    Dialog ist vom Alltagsverständnis her der mündliche Austausch zweier (oder mehrerer) realer Personen. Dialog läßt sich aber auch als ein abstrahierter Austausch mit abstrakten Interaktanten verstehen: in diesem Sinne können wir z.B. von einem deutsch-niederländischen Dialog sprechen. Beide Dialogarten sind, insofern sie sich auch als emphatische Formen des Gesprächs darstellen lassen, die zentralen Austausch- und Verständigungsformen landeskundlicher (Unterrichts-) Kommuni­kati­on. Der abstrakte Dialogbegriff hat als Bezeichnung in­terkulturellen Aus­tauschs Tradition und wird auch neuerlich in diesen Zusam­menhängen wieder verstärkt gebraucht (vgl. die Beiträge in Hess-Lüttich/Papiór 1990). Daneben wird er immer auch schon als pädagogischer Dialog verstanden, in dem Lehrende und Lernende sich gemeinsam verstehens- und verständigungs­orientiert zueinander ver­halten. Als solcher wird er im muttersprachlichen Unterricht als Ge­sprächsform erlernt und geübt.
    Im Fremdsprachenunterricht kommt in der Didaktik des Dialogs vor der an­spruchsvol­len Ebene der Reflexion und Rhetorik zunächst der Erwerb der schlichten sprachlichen Überleben­skompetenz ins Blickfeld. Diese stellt sich ihrerseits dialogisch dar: nämlich in der Performanz alltäglicher dialogisch orientierter Handlungen (z.B. Er­kun­dungsdialo­ge, Kontaktgespräche), die mit Hilfe von Lehrwerk­dia­logen und dazugehörigen Übungen vermittelt werden. Eine Übungs­form, die sich seit den siebziger Jahren wachsender Beliebtheit erfreut, ist das Rollenspiel, in dem die Situationsbezo­genheit sprachlichen Handelns in simulativen Akten nachvollzogen werden kann. Die Mög­lichkeiten spielerischer Simulation über begrenzte Situationsdefinitio­nen hinaus sind noch wenig aus­geschöpft. In ihnen eröffnet sich die Verbindung von Spiel mit Begegnung und Identität, womit unser Reigen an seinen Ausgangs­punkt zurückkehrt.
    Im siebten Kapitel werden Wege zur Didaktik der Begegnung und Begeg­nungsge­schichte gezeigt. Die Einbettung der Begegnungsge­­schichte als landeskundliche Komponente des Fremdsprachenun­ter­richts hat Folgen für die Didaktisierung ihrer Fragestel­lung und Quel­lentexte. Es geht darum, die Eigenge­setzlich­keit des Fremd­sprachen­unter­richts, deren Hauptkompo­nenten im ersten Kapitel be­schrie­ben wurden, mit den Prinzi­pien der Begegnungsge­schichte zu vermitteln. Die Lernenden sind als Subjekte der thematisierten Natio­nal­kulturen immer schon auch Subjekte des themati­sierten Be­geg­nungs­diskur­ses und haben damit die ideale Chance, auch Subjekte ihres Lernpro­zes­ses zu sein. Über die Text- und Dialogdidaktik hinaus muß sich dieses Potential in handlungsorien­tierten Simulatio­nen ver­wirkli­chen können. Hierzu werden die Möglichkeiten ausgelotet, die sich in kon­ventionel­len Unterrichtssituationen verwirklichen lassen, aber auch die gegen­wärtig sichtbaren Erneuerungen, die sich aus der revolutionären Kul­turtechnik des Internet und des World Wide Web ergeben.




[1]     Das Sprachenlernen in binationalen Gruppen ist in der Bundesrepublik Deuts­ch­land seit den sechziger Jahren im Rahmen deutsch-französischer Jugendbe­gegnun­gen konzeptualisiert und in der Literatur unter der Bezeichnung "Tandem" be­schrieben worden (vgl. Herfurth 1993 und 1994).

[2]     Der Begriff "Dyade" wird z.B. in der Familiensoziologie und in der Dialog­for­schung zur Bezeichnung einer zu Untersuchungszwecken fokussierten Zweierbezie­hung innerhalb einer aus mehreren Personen bestehenden Gruppe gebraucht.
[3]     Die deutschen Wortbildungsmöglichkeiten führen hier zu unschönen oder belade­nen Begriffen, wie "Französischheit" oder "Deutschheit". Wir wählen deshalb die im anglo­sächsischen Sprachraum in der Identitätsforschung zunehmend benutzten Wortbildun­gen mit dem Suffix -ness.
[4]     Der Begriff "décalage" wurde von dem Franzosen J.‑ M. Carré in seinen Untersu­chun­gen zum Deutschlandbild bei französischen Schriftstellern entwickelt. Er gebrauc­hte ihn erstmals 1928. Carré gilt als Begründer der komparatistischen Ima­gologie. Vgl. Fischer 1981: 1­57‑­190.
[5]     "Cultural retard" ist der entsprechende Begriff zu "décalage" in der amerikani­schen Soziologie. Er wurde entwickelt von W. F. Ogburn, Social Change with Respect to Cultural and Original Nature, New York 1922.

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