Anlässlich der Lektüre von Andrzej Stasiuks
„Dojczland“ (Frankfurt am Main 2008) wird mir klar, dass eine „Vergleichende
Begegnungsgeschichte“ nicht nur zu jeweils landesspezifischen Unterschieden
führt, sondern auch zu Übereinstimmungen. Stasiuk beschreibt darin seine
Empfindungen bei seinen vielen Reisen durch Deutschland, ähnlich wie Cees
Nooteboom das aus niederländischer Sicht getan hat.
Mit der polnisch-deutschen
Begegnungsgeschichte habe ich mich nur am Rande beschäftigt (nicht zu
verwechseln mit der polnischen Geschichte:
die war mir sehr wichtig); einfach aus dem Grunde, weil man zum Betreiben von
Begegnungsgeschichte beide Sprachen gut beherrschen muss.
Ich habe bei Stasiuk eine Textstelle
gefunden, die mich frappierend an einen 1978 veröffentlichten Text von
Nooteboom erinnert:
„Ach, mich einfädeln in das surreale Netz der
Autobahnen, mich verfransen in den übernatürlichen Trajektorien der Auffahrten,
Überführungen und Ringstraßen. Fahren und nur zum Tanken anhalten. Ja, ein Jack Kerouac der
Bundesrepublik sein, ein Dean Moriarty von Schleswig-Holstein oder
Sachsen-Anhalt. Endlich dorthin fahren, wo die silbernen ICEs nicht hinkommen
und wo kein Flugzeug landet. Die sechsspurigen Fahrbahnen verlassen, um in die
bukolische Landschaft von Mecklenburg oder die Alpenlandschaft von Bayern
einzutauchen und wieder zurückzufinden auf die Autobahnen, mit hundertfünfzig darüber
donnern und zusehen, wie sich der rote Treibstoffzeiger unerbittlich dem
‘Empty’ nähert. Das werde ich irgendwann einmal machen. Ich komme mit dem Auto
her und werde im Kreis fahren, in keine Stadt hineinfahren, nur immer die
Wegweiser ablesen: Berlin, München, Frankfurt, Hamburg, und weiterdüsen. Bis in
die Unendlichkeit und ins Nichts, bis der Motor auseinanderfliegt und die
Karosserie total verrostet und ich an Schlaflosigkeit sterbe. Und dann halte
ich in der Lindenstraße an und steige als Leiche in
den dritten Stock hinauf, um das alles zu beschreiben.“
Andrzej Stasiuk, Dojczland, Frankfurt am Main
2008, S. 36f.
Und hier der Paralleltext von Nooteboom, der mich damals so betroffen gemacht hat und den ich als „Die Reise ins Nichts“ beschrieben habe. Die Übersetzung ist von mir:
„Um genau neun Minuten nach
sechs abends falle ich ohne nähere Kriegserklärung in Deutschland ein. Die
Schilder ändern ihre Farbe, die Buchstaben ihre Form, ich werde ein Ausländer,
und während ich weiterfahre wird es dunkel. Es ist wenig Verkehr, Gelegenheit
genug zu meditieren. Die deutsche Landschaft gleitet vorbei, und ich dringe in
ein viel gröβeres Ganzes ein als dasjenige, aus dem ich gerade komme. Die
Autobahn ist so etwas wie eine Bahn um die Erde. Wenn man irgendwo hin will, muss
man den Kurs ändern. Schafft man es nicht, die Raketenmotoren rechtzeitig in
Betrieb zu nehmen, dann wäre man dazu verdammt, auf ewig in einer Bahn um
Deutschland zu kreisen, ohne jemals in Köln, Würzburg, Wertheim, Nürnberg,
München oder wie die Krater auch heiβen landen zu können. Ein schimmelndes
Skelett im Ewigen Mercedes.
Wer öfter nach Deutschland
kommt, muss die Gefühle kennen, die mich langsam aber sicher umfangen. Aus dem
Autoradio erklingt Musik für Lastkraftfahrer, dieselbe Art Musik, die beim
Steig‑ und Sinkflug in Flugzeugen benutzt wird und dazu dient, durch ihre
betäubende Wirkung die Angst vor dem Übernatürlichen zu beschwören. An der
Autobahn liegen keine Städte. Da liegen nur Schilder, die Städte bedeuten
sollen. Manchmal raucht in der Ferne wohl einmal ein Schornstein oder es
erstreckt sich ein Wald die Hügel hinauf, in dem nach Aussage wiederum eines
Schildes Hirsche zum Vorschein kommen können, aber Beweise gibt es nicht. Das
Beste unter diesen Umständen ist, einfach zu einer Unio mystica mit der
Autobahn zu kommen, sich mit dem Beton und den Rillen im Beton zu vereinen,
denn nach einer Stunde oder länger, die man mit diesen geistigen Übungen
verbracht hat, drängt sich einem die schreckliche Wahrheit auf: daβ Deutschland
vielleicht gar nicht existiert. Schlieβlich hat man in anderen groβen Ländern
(wie England oder Frankreich) auch Autobahnen, aber die münden im richtigen
Augenblick immer wieder bei irgendeinem mittelalterlichen Dorf, durch das man
in endlosen Staus stundenlang hindurch muss, aber dann weiβ man jedenfalls, daβ
das Land existiert. Nicht hier. Wald, Wiese, Flur, Hügel, Gebirge sind
flüchtige Schatten, und nur mit äuβerster Willenskraft zwinge ich mich aus dem
schicksalhaften Kreis heraus und komme auf eine echte Straβe mit echten
Pflastersteinen, Richtungsschildern in dieser merkwürdigen Farbe Gelb, derer
ich mich noch aus meiner entschwundenen Jugend erinnere, Gasthäusern, aus denen
Menschen herauskommen: ich bin in Köln, in einem Hotel neben dem Dom.“
Cees Nooteboom, Een avond in
Isfahan, Amsterdam 1978, S. 50 (Übersetzung: Peter Groenewold)
Ich will jetzt nicht auf eine
mögliche Analyse dieser Parallelität eingehen, sondern nur eine Frage stellen:
Die beiden Texte sind im Abstand von etwa 30 Jahren entstanden. Eine ganze
Generation liegt dazwischen. Kann es sein, dass für Polen eine „retardierte“
Begegnungsgeschichte zutrifft? Für Polen sind die Grenzen nach Deutschland erst
seit 1990 offen (die vorherige Nachbarschaft zur DDR ändert daran nichts: da
waren die Grenzen auch zu). Das heißt, die
Polen haben erst seit 1990 die Chance, sich aktiv begegnungsorientiert zu
Deutschland und den Deutschen zu verhalten. Daran mussten sie sich erst mal
gewöhnen: In den ersten fünfzehn Jahren gibt’s da nicht viel, genau wie in den
Niederlanden zwischen 1950 und 1965.
Das
wiederum heißt, dass Stasiuk in seinem
“Dojczland” von 2008 auf dem Stand von Nooteboom 1978 ist: retardierte
Begegnungsgeschichte also.
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