Eigentlich sollte die Europäische Union ihr einen Preis
verleihen: So ganz alleine und individuell auf sich selbst und ihre
Familiengeschichte gerichtet, hat Anne Weber ein kulturelles Dreiländerprojekt
erarbeitet und mit einem furiosen Abschlussbericht von 268 Seiten zu Ende
geführt, wofür sonst dutzende Menschen zigtausend Euro an Fördergeldern
verbraten und bürokratische Papiere produzieren, die kaum eine Öffentlichkeit
finden.
Anne Webers Arbeit kostet die EU keinen Cent und ist doch
ganz im Geiste der Aufarbeitung, Versöhnung und der Vergangenheits- und
Gegenwartsbewältigung von Frankreich, Deutschland und Polen erbracht: In ihrem
Buch „Ahnen“ (Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 2015, € 19,99) – in Frankreich unter dem Titel „Vaterland“ veröffentlicht –
vollzieht sich wie von selbst der Schritt vom Individuellen zum Allgemeinen in
der Erforschung der gemeinsamen Schreckensgeschichte, die diese drei Länder
verbindet.
Anne Weber (Foto: Isolde Ohlbaum) |
Das Buch erreichte im Mai Platz 1 der Bestenliste des SWR
und hat reihenweise enthusiastische Rezensionen erhalten. Anne Weber befindet
sich zur Zeit auf einer anstrengenden Lesereise; letzte Woche war sie in
Berlin, vorgestern in Poznań, gestern wieder in Berlin im Literaturhaus in der
Fasanenstraße, wo Alexander Camman
von der “ZEIT” ein anregendes Gespräch mit ihr führte und sie einige Passagen
aus “Ahnen” vorlas. Sie ist eine ausgezeichnete Vorleserin.
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Alexander Camman
ging auch kurz auf die Form des Buches ein, das von seiner Autorin ein
“Zeitreisetagebuch” genannt wird. Es sei kein Roman, keine Biografie, kein
Reisebericht, keine historische Abhandlung. Es sei etwas, das es so bisher noch
nicht gegeben habe, konstatierte Camman, er könne nichts Vergleichbares aus
seiner Lektüreerfahrung benennen. Damit zeigte sich Anne Weber sehr zufrieden:
sie lachte. Das kam an diesem Abend bei der sehr ernsthaften Autorin sonst kaum
vor.
Für die
Zusammenhänge mit Anne Webers Familiengeschichte, insbesondere mit ihrem Urgroßvater Florens Christian Rang, verweise ich
auf die Rezension Alexander Cammans in der “ZEIT”.
Ich habe mich in
den letzten Wochen viel mit Inhalt und Form dieses “Zeitreisetagebuches”
beschäftigt und mir dazu auch weitere Werke Anne Webers angesehen. Mich
interessiert, wie Schriftsteller ihre Produkte konstruieren, welche
Erzählperspektive sie wählen, welche Werkzeuge sie benutzen, ob sie die Spuren
ihrer mühsamen Arbeit verbergen oder herzeigen, ob darin von Werk zu Werk
Wiederholungen und Entwicklungen stattfinden. Und da verblüffte mich – obwohl
mir das jetzt hinterher ganz folgerichtig erscheint - dass in dem drei Jahre vorher erschienenen poetischen Liebes-
und Todesroman “Tal der Herrlichkeiten” eine ganze Reihe von Übereinstimmungen
zu “Ahnen” festzustellen sind.
Vielleicht
unnötigerweise möchte ich hinzufügen, dass ich mir diese Mühe nur bei
literarischen Werken mache, die mich besonders begeistert und beeindruckt haben.
Hier sind, noch
ganz vorläufig formuliert, einige Beobachtungen zur Poetologie Anne Webers:
In der einzigen negativen Rezension, die ich zu Anne Webers
„Ahnen“ gefunden habe,
konstatiert Dana Buchzik in der „Welt“, dass die Autorin sich in ihrem Buch
mehr mit sich selbst beschäftige als mit ihrem vorgeblichen Thema, dem Leben
und Werk ihres Urahnen Florens Christian Rang. Die Rezensentin wirft ihr, nach giftigen
Bemerkungen über den „Kritikergeheimtipp“, mit dem ihre Kollegen die Autorin
hochgelobt haben, in gehässiger Heftigkeit Ignoranz, Phlegma und Egozentrismus
vor.
Gründlicher kann man Anne Weber und ihr Buch wohl nicht missverstehen.
Es hätte ja genügt, sich noch einmal das Titelblatt anzusehen: Dort steht nicht
„Florens Christian Rang. Eine Biografie“, sondern „Ahnen. Ein
Zeitreisetagebuch“. Die Ich-Perspektive ist programmatisch, es geht um die Verantwortung des Ichs vor der
Geschichte, denn „Geschichte ist etwas Angeborenes“ (Ahnen, 171). Und die
Autorin macht dies mit ihrer Reise durch Zeit und Raum, mit ihrem
französisch-deutsch-polnischen Itinerarium deutlich, erschütternd deutlich.
Eine umgekehrte Feststellung finden wir bei Anne Weber selbst.
Es geht um W.G. Sebald, den Mann, der seine deutschen Vornamen Wilfried und
Georg nicht ertragen konnte und nur noch abgekürzt verwendete: „Sebald zog jung
nach England und widmete sich jüdischen ‚Schicksalen’ (...) In seinem Roman
Austerlitz gibt es zwei Figuren: den tschechischen Juden Austerlitz und einen
Mann, dem Austerlitz seine Geschichte erzählt und der sie an uns weitergibt.
Wer ist dieser Weitererzähler? Er ist ein offenes Ohr und ein unbeschriebenes
Blatt: Er ist Sebald selbst, sein literarischer Stellvertreter“ (Ahnen, 171f.).
Anne Weber konstatiert, dass Sebald, der 1944 geborene Erzähler,
sich „als ein Mensch ohne eigene Geschichte, ohne Herkunft“ präsentiere, sich
also ausklammert aus der Geschichte des Schreckens. Sie will das nicht kritisieren,
aber sie kann und will sich nicht wie er als unbeschriebenes Blatt vorzeigen.
Darum beginnt sie ihr Buch mit der Geschichte des – wenig schmeichelhaften,
aber ironisch gemeinten – Kosenamens „Panzerdivision“, den ihr, französisch
ausgesprochen: Pansèredivisión, ein Pariser Freund gegeben hatte und den sie
dann als Passwort in der Bibliothèque nationale benutzt hat und seitdem nicht
mehr los wird.
„Es ist ein weiter Weg von Florens zu Panzerdivision“
(Ahnen, 11). Die Autorin schildert die Problematik, zu der sich jeder Deutsche
aus den Nachkriegsgenerationen verhalten muss, der sich, egal ob zu Zwecken der
Familiengeschichte oder aus wissenschaftlichen Absichten, mit der Vergangenheit
vor hundert, zweihundert Jahren beschäftigen will:
„Seit ich aufgebrochen bin zu dieser Reise in die Fremde, zu meinen Vorfahren hin, habe ich ein Bild vor Augen: Ich sehe ein unüberwindbar scheinendes Gebirge, das sich zwischen mir und dem hundert Jahre vor mir Geborenen aufrichtet. Ein gewaltiges Massiv, ein Riesengebirge; angehäuft aus Toten“ (Ahnen, 37f.).
„Seit ich aufgebrochen bin zu dieser Reise in die Fremde, zu meinen Vorfahren hin, habe ich ein Bild vor Augen: Ich sehe ein unüberwindbar scheinendes Gebirge, das sich zwischen mir und dem hundert Jahre vor mir Geborenen aufrichtet. Ein gewaltiges Massiv, ein Riesengebirge; angehäuft aus Toten“ (Ahnen, 37f.).
Das Verfahren, das sie für ihre Recherchen zu ihrem
Vorfahren entwickelt und das die Struktur von „Ahnen“ bestimmt, ist ein
fortwährendes Hin- und Zurückgehen, wobei sie außer ihrem 1924 gestorbenen Urgroßvater immer
wieder auch ihrem Nazi-Großvater, ihrem Vater und sich selbst begegnet. Das
„Riesengebirge der Toten“ steht dabei immer wieder im Wege und erfordert ein
fortwährendes Prüfen von Handlungen, Haltungen, geschriebenen und gesprochenen
Sätzen und Wörtern. Seitenlang quält sie sich am Anfang (S. 14-19) mit dem
Aussprechen und der Aussprache des Wortes „Auschwitz“.
Anne Webers Zeitbegriff lässt das Vergehen und
Vergangen-Sein von Vergangenheit nicht zu. Die Toten sind unter uns. Alles ist
noch da, ist gegenwärtig, sogar die Zukunft ist in der Gegenwart enthalten.
Totum simul:
„Es fahren mir tausend Dinge zugleich durch den Kopf, viel
Widersprüchliches, Uneindeutiges, und mir ist, als müsste ich diese tausend
Dinge auch alle gleichzeitig zu lesen und zu spüren und zu denken geben: ein
vom Auge mit einem Mal zu erfassendes Bild fertigen. Ich kann aber nicht
anders, als dem unumstößlichen Gesetz des Buches – des Lesers ebenso wie des
Schreibers – zu folgen, das da lautet: eines nach dem anderen. Das Buch ist der
Überbringer des inneren Bildes. Das innere Bild kann nie alles auf einmal
zeigen, kann keine Gleichzeitigkeit herstellen. Aber in ihm kann sich alles im
gleichen Moment Verspürte und Gedachte wie in einer Linse bündeln“ (Ahnen, 37).
Und so ist es kein Zufall, dass Anne Weber in ihrer
Annäherung an den Urgroßvater diesem ein „Passwort“ oder einen Namen geben
will, der zu ihrem Verfahren des Hin- und Hergehens in Zeit und Raum passt: „Ich wähle – nach einem Vogel, den ich an
französischen Küsten oft dem Vor und Zurück des Wassersaumes habe folgen sehen
– Sanderling“ (Ahnen, S. 7).
Damit schlägt sie eine Brücke zu ihrem poetischen Liebes- und Todesroman „Tal der Herrlichkeiten“ (2012). Angesichts der historisch-philologischen Thematik von „Ahnen“ sollte man nicht
vermuten, dass es zwischen diesen beiden Büchern viel Gemeinsamkeiten gibt,
aber doch ist es so: Der Protagonist von „Tal der Herrlichkeiten“ – auch er
trägt einen Vogelnamen, Sperber – ist ein ewiger Wanderer am Strand der Normandie.
Derselbe Zeitbegriff, dem wir in „Ahnen“ begegnen, kehrt hier in poetischer
Form wieder:
„An mehreren Tagen im August und vor allem im September, zur
Tagundnachtgleiche, zog sich das Wasser so weit zurück, dass es ungeahnte, fast
nie ans Licht kommende Felsen aufdeckte, weite, vielgestaltige Landschaften
tauchten, die nach wenigen Stunden schon wieder überschwemmt sein würden. An
jenen seltenen Tagen großer Ebbe und
Flut kamen, so schien es, die weit verstreuten, vom Meer zerfressenen Ruinen
versunkener Städte zum Vorschein. Die zackigen Rücken der niedrigen Felsmauern,
die das zurückflutende Wasser vor der Küste entblößt hatte, ähnelten den
bleiernen Ziergiebeln einer halb im Sand begrabenen gotischen Kathedrale, und
tatsächlich war aus der Ferne ein Glockenläuten zu hören, das von einer der weiter
im Land zurückliegenden Kapellen herrühren mochte” (Tal der Herrlichkeiten,
82f.).
Beide Bücher finden
ihr dramaturgisches Ende im Reich der Toten: Im “Tal der Herrlichkeiten”
erfährt die tragische Liebesgeschichte Sperbers eine mystische Überhöhung durch
das Orpheus-Motiv: Sperber, der den Tod der Geliebten nicht akzeptieren will,
sucht das Reich der Toten auf, begegnet dort seiner Mutter und seiner ersten
Frau, findet schließlich die
Geliebte und versucht – vergeblich – sie ins Leben zurückzutragen (Tal der
Herrlichkeiten, S. 222-253).
In “Ahnen” ist es
die Allerheiligen/Allerseelen-Feier auf dem Friedhof in Poznań, an der die
Ich-Erzählerin teilnimmt. Sie erinnert sich, dass in Deutschland 1934 der Totengedenktag
abgeschafft wurde: “Gewissermaßen sollten die Toten selbst abgeschafft werden. Dieselben Leute, die mehr
Menschen töteten als sonst je vor ihnen, wollten von Toten nichts hören und
sehen” (Ahnen, S. 257f.).
Die
Ich-Erzählerin/Autorin ist in der polnischen Friedhofswelt, wo am Abend des 1.
November hunderte von Einwohnern Poznańs ihre Toten besuchen und die Gräber mit
Lichtern schmücken, allein und fremd wie Orpheus in der Unterwelt. Sie, die
Heidin, nimmt an den “Gesten der Frömmigkeit” teil. In der Dunkelheit erscheint
es ihr, als könne sie “alles auch anders sehen, nämlich in den leise
Umherirrenden die Toten, oder zu kurzem Mitternachtsleben erwachte Gespenster,
und in den flackernden, hellen Lichtern die Lebenden” (Ahnen 268).
Diese
Gedankenfiguren der Umkehrung, die Hin- und Herbewegungen der Wahrnehmung
kennzeichnen das Werk Anne Webers und machen es reichhaltig.
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