Die fünf Sätze aus „Die helle Kammer“, die ich in meinem
letzten Beitrag zitiert habe, sind nicht auf jedes Foto, auch nicht auf jedes
„meisterhafte“ Foto anwendbar. Sie formulieren aber wesentliche Teile des
Prozesses, der beim intensiven Betrachten eines Fotos im Betrachter in Gang
kommt.
Das punctum, das Bestechende an einem Foto,
für das Barthes einige Beispiele gibt, kann etwas so Auffälliges sein, dass es
auf jeden Betrachter wirkt. Es kann aber auch ein zufälliges, „bescheidenes“
Element sein, das nur von Wenigen bemerkt wird oder völlig subjektiv ist. Und
es kann in einem außerbildlichen Faktum oder in einem persönlichen Kontext
liegen, den der individuelle Betrachter mit einem bestimmten Bild verbindet.
Bei den hunderten
Fotos von August Sanders Projekt „Menschen des 20. Jahrhunderts“ (1925-1954) stellt
der Betrachter sehr schnell fest, dass sie weitgehend einem stereotypen Schema
folgen: Sander stellt Menschen, meist einzeln oder zu zweit, vor seine Kamera,
sorgfältig ihrer Lebenswelt entsprechend gekleidet und in einem Interieur, das
dazu passt, oft aber auch vor einem Hintergrund, der neutral ist und wenig oder
keine ablenkende Elemente enthält. Die ganze Intensität geht von den
fotografierten Personen aus, ihren Gesichtern, ihrer Körperhaltung, ihrer
Kleidung. Es sind keine spontanen Fotos, Sander gab seinen Modellen
Gelegenheit, sich in einer ihnen genehmen Pose zu präsentieren, auch wenn er
natürlich nachgeholfen haben wird. Keines seiner Bilder ist verletzend oder
erniedrigend für den Menschen. Er setzt die Menschen in ihr Recht, an ihren
Ort, in ihre Zeit.
Zum Weiterlesen bitte hier klicken:
Im Foto
„Corpsstudent“ (1925) liegt das punctum, an dem das Auge des Betrachters schnell hängen bleibt, nicht in einem beigefügten
Gegenstand, sondern in den frischen „Schmissen“ im Gesicht des noch sehr
jungenhaften und dementsprechend auch „verletzt“ wirkenden Burschenschaftlers, der,
wie damals noch üblich, einer ohne Gesichtsschutz „schlagenden Verbindung“
angehörte. Die Verwundungen stehen im
Kontrast zu seiner makellosen Prunkuniform. Mag sein, dass die quer übers
Gesicht verlaufenden Säbelhiebe den heutigen Betrachter mehr entsetzen oder
fassungslos machen als deutsche Menschen der zwanziger Jahre, aber die von
ihnen ausgehende Intensität muss auch für die Zeitgenossen ganz offensichtlich
gewesen sein.
Auf dem Foto der
„Bildhauerin“ (1929) ist auf den ersten Blick kein besonderes materielles Merkmal zu bemerken. Der
Stuhl, auf dem sie sitzt, ist kaum zu sehen. Der Hintergrund ist eine unscharfe
helle Wand, der rechte Bildrand besteht aus einem dunklen Streifen, eventuell
ein Vorhang. All dies dient der lichtvollen Klarheit, mit der der Körpers der
Künstlerin in den Vordergrund tritt. Für mich waren insbesondere die Hände das punctum. Sie liegen nicht im Schoß,
sondern sind über die Knie vorgestreckt, parallel, leicht zum Betrachter hin
geöffnet. Sie sind dem Betrachter am nächsten, wirken deshalb auch größer als
sie wirklich sind. Sie sind das Wesentliche: die Bildhauerhände, Hände, die
Bilder formen können.
Andere würden wahrscheinlich das Gesicht nennen, das,
anders als bei den meisten Fotografien von Sander, den Betrachter nicht
anschaut, sondern rechts oben an ihm vorbeiguckt, mit einem klaren und doch
visionären Blick. Beide Elemente, Gesicht und Hände, haben die stärkste
Ausstrahlung. Sie sind verbunden in dem, was ein Bildhauer tut: schauen und
formen. Und der Fotograf Sander schaut und formt hier eine künstlerische Kollegin
mit seinen Mitteln, dem Licht und der Perspektive.
Das für heutige
Augen verstörendste Foto „Junger Soldat“ (1945) zeigt einen deutschen Wehrmachtssoldaten. Es
wurde im Westerwald aufgenommen, wahrscheinlich in Kuchhausen, dem Wohnort
Sanders ab 1944. Dem Betrachter in die Augen blickt ein gut aussehender,
wohlgenährter, vollentspannter Soldat in Heeresuniform, den runden
Wehrmachtshelm auf dem Kopf. Nichts in seinem Gesicht und an seiner Haltung weist
auf den totalen Zusammenbruch Deutschlands und seiner Armeen im Frühjahr 1945,
nichts auf die Situation im Westerwald mit den vorrückenden Amerikanern, nichts
auf die von ihm und seinen Kameraden ausgehende Gewalt, auf die hunderte von
V2-Raketen, die aus dem Westerwald in den Westen abgeschossen wurden, auf die
Zerstörung und Zerstückelung von Körpern, auch in nächster Nähe dieses Soldaten.
Er strahlt tiefsten, gewalttätigen, verständnislosen Frieden aus. Sein Körper
ist bis zum breiten Uniformgürtel zu sehen. Das „Gott mit uns“ auf dem Koppelschloss ist deutlich lesbar.
Der Hintergrund, ein unzerstörtes dörfliches Fachwerkhaus, verstärkt den
Gesamteindruck.
Und doch: „In der
Photographie lässt sich nicht leugnen, dass die
Sache dagewesen ist. Hier gibt es eine Verbindung von zweierlei: aus
Realität und Vergangenheit“ (Roland Barthes). Dieser Soldat ist so dagewesen,
und dennoch zeigt das Bild eine Lüge. Auch die Lüge ist dagewesen. Möglich,
dass Sander genau das gemeint hat.
Diese
Betrachtungen zum Foto „Junger Soldat“ habe ich gestern geschrieben. Die Datierung auf
1945 hatte ich der Website des Metropolitan Museum of Art entnommen. Das Bild
steht dort mit dem Text „Junger Soldat, Westerwald, ca. 1945“ in „The Collection Online“. Viele Besucher des
Museums und der Website werden ähnlich fassungslos vor diesem Foto mit seinem
Entstehungsjahr gestanden haben wie ich. Manche Blogs berichten davon.
Heute fiel mir
auf, dass die weitaus häufigere Datierung des Bildes im Internet das Jahr 1940 ist. Auch in
der bisher umfangreichsten und sorgfältigsten Edition des Projekts „Menschen im
20. Jahrhundert“ in sieben Bänden (München/Paris/London 2002) wird der Soldat
auf ca.1940 datiert. Eine Problematisierung dieser unterschiedlichen Datierungen
habe ich bisher nicht gefunden.
Die meisten
Abbildungen Sanders von Soldaten des Zweiten Weltkriegs sollen in seinem Kölner
Atelier entstanden sein. Ab ca. 1942 begann er sein Archiv in das kleine Dorf
Kuchenheim im Westerwald zu verlagern. 1944 ging der große Rest bei den Luftangriffen
auf Köln verloren und Sander zog ganz nach Kuchenheim.
Das Foto des Soldaten
ist eindeutig im Westerwald aufgenommen, eventuell sogar vor seinem dortigen
Wohnhaus. Ich nehme an, dass diese Elemente des Fotos zur Datierung des
Metropolitan auf 1945 geführt haben. Da Sander jedoch nicht erst ab Ende 1944,
sondern schon vorher bei verschiedenen Gelegenheiten im Westerwald war, ist sie nicht schlüssig zu nennen.
Was bedeutet das
nun für meine Betrachtungen von gestern, die in der "Lüge!" gipfelten? Sind sie damit hinfällig geworden?
Nein, was mich betrifft, nicht. Mein punctum bleibt.
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