Ich lese gerade die hochinteressante Geschichte, wie es dazu gekommen ist, dass zwei italienische Philologen ab 1961 im Nietzsche-Archiv in Weimar den Nachlass Nietzsches entziffert und die grosse Gesamtausgabe vorbereitet haben, die dann seit 1980 als "Kritische Studienausgabe" (KSA) preiswert im Taschenbuch zugänglich wurde. Mit dieser Ausgabe arbeitet heute die gesamte wissenschaftliche Welt.
Der Potsdamer Kulturwissenschaftler Philipp Felsch hat daraus ein spannendes Buch gemacht: "Wie Nietzsche aus der Kälte kam" (München 2022). Aber dazu schreibe ich in einem späteren Beitrag mehr.
Ich habe nämlich, wie ich das manchmal mache, beim Lesen ein bisschen gespiekt, wie der Autor sein Buch wohl beendet. Nun, es kommen - Überraschung! - gleich zwei neue Nietzsche-Gesamtausgaben, von denen ich noch nie was gehört hatte!
Ich habe ja gar nichts dagegen, dass nach der ästhetisch lieblosen Billigausgabe von Colli und Montinari mit den endlosen Nachlassbänden nun eine schön edierte Ausgabe letzter Hand erscheinen soll. Aber...
Die beiden deutschen Verlage haben bereits 2013 unabhängig voneinander angekündigt, je eine weitere Nietzsche-Ausgabe herausbringen zu wollen: Der Göttinger Steidl Verlag lässt unter seinen Fittichen einen obskur anmutenden L.S.D. Verlag von Karl Lagerfeld (!?) eine 19bändige Ausgabe vorbereiten, herausgegeben immerhin vom langjährigen Leiter des Weimarer "Kollegs Friedrich Nietzsche", Rüdiger Schmidt-Grépály.
Die andere Ausgabe soll 20 Bände mit Faksimiles der Druckoriginale letzter Hand umfassen und erscheint als "Basler Ausgabe" im Frankfurter Stroemfeld Verlag. Die ersten beiden Bände mit dem "Zarathustra" liegen seit 2013 vor, sind aber schon lange vergriffen. Seitdem ist nichts mehr erschienen; es gibt offenbar Finanzierungs-schwierigkeiten.
Manche haben vielleicht noch gute Erinnerungen an die schöne grüne Hölderlin-Ausgabe im Faksimile, die seit 1986 bei Stroemfeld erschien. Das dauerte auch sehr lange! Ich hatte damals nur die Geduld und das Geld für zwei Bände. Heute zahlt man für die 20bändige Edition über 3.000 € im Antiquariat!
Bei Steidl ist es schlimmer: Der Herausgeber hat sich in den Kopf gesetzt, Nietzsches Originalveröffentlichungen in ihrer Dinglichkeit, das heißt, in Gestalt und Druck der Ausgabe letzter Hand und soweit möglich auch im Papier dem Original angenähert herauszubringen. Damit scheint es Probleme zu geben, die auch ins Geld gehen. Billig wird die Ausgabe nicht! Noch liegt nichts vor, außer zwei Teaser-Bändchen: einem mit Gesprächen zwischen dem Herausgeber Schmidt-Grépály, Peter Sloterdijk(!) und Bazon Brock (!!) und einem mit einer Kompilation von Nietzsche-Zitaten über das Lesen. Dafür haben sie aber bei Nietzsche einen wirklich schönen und sinnigen Titel gefunden, der bei manchem Germanisten einen falschen Reflex erzeugen könnte: "Lernt mich gut lesen!"
Philipp Felsch zitiert im Zusammenhang dieser beiden Neueditionen Karl Marx' bekannten Spruch, "dass sich alle wichtigen Begebenheiten der Weltgeschichte zweimal, 'das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce', ereignen".
Die Tragödie war hier die verfälschende Werkausgabe von Nietzsches Schwester, die sein Werk den Nazis in die Arme getrieben hat. Bis über meine Generation hinaus haben bis heute Leute ein Buch aus dem Kröner-Verlag mit dem Titel "Der Wille zur Macht" im Schrank. Schmeißt es endlich weg!
Die Farce sind die beabsichtigten, aber seit zehn Jahren in der Luft zerplatzenden Seifenblasen-Editionen von Steidl und Stroemfeld. Dazwischen bleibt uns die ungeheure Fleißarbeit der beiden italienischen Philologen, die Nietzsches Werk aus der Kälte (sowohl der Nazis als auch der Kommunisten) geholfen haben.
Dass wir in den Niederlanden jetzt schon seit zwei Jahren auf den schönen Band in der Historische Uitgeverij Groningen mit den Übersetzungen der Gedichte Nietzsches durch Ard Posthuma warten müssen, ist daneben nur eine Petitesse!
Apropos: Ards Übersetzung war für mich beinahe genau vor zwei Jahren der Anlass für meine Nietzsche-Reihe in diesem Blog: am 10. August 2020 ist der erste Post erschienen. Der bisher letzte liegt auch schon fast ein Jahr zurück: Nr. 28 am 6. September 2021.
Stroemfeld und Steidl sind schöne Beispiele für Bibliophilie als narzisstische Perversion. Die Ausgabe von Colli und Montinari ist unerreichbar.
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