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Freitag, 8. Juli 2022

Meine kleine Ukraine-Bibliothek (8): Literarische Verflechtungsgeschichte - Was gehört zur ukrainischen Literatur?


Im neuen Heft der österreichischen Literaturzeitschrift „Volltext“ (Nr. 2/2022) beginnt der Schweizer Slawist Felix Philipp Ingold (geboren 1942) den inzwischen siebten Teil seiner „Grenzgänge der Literatur“ mit der Frage „Wie viele russische Literaturen?“


Hier folgen die ersten Zeilen daraus:

 

“Die eine russische Nationalliteratur gibt es nicht; es gibt diverse ‚russländische‘ Literaturen in mancherlei Sprachen. Man kennt die russischsprachige Klassik von Puschkin bis Tolstoj und Korolenko, im Anschluss daran die mehrsprachige ‚multinationale‘ Sowjetliteratur mit namhaften ukrainischen, litauischen, georgischen, usbekischen, kirgisischen Autoren, dazu die eigenständige russische Exilliteratur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts (…).“



Ein Buch aus vergangenen Zeiten (1970)


Nun gut: Nach dem Zerfall der Sowjetunion ist die ‚multinationale‘ Sowjetliteratur wieder in ihre neonationalen Einzelliteraturen zerfallen, die nach 1991 ein intensives neues und (teilweise) freieres Dasein bekommen haben. Das gilt gewiss für die ukrainische Literatur, die man nun nicht mehr vom vergangenen gemeinsamen sowjetischen Dach aus, sondern von ihrer eigenen Identität (gegebenenfalls ihren eigenen Identitäten) her betrachten sollte.


Ich stelle also die Frage: 

Wie viele ukrainische Literaturen? 


Und kann dann folgerichtig genauso wie Felix Philipp Ingold sagen: Die eine ukrainische Nationalliteratur gibt es nicht; es gibt diverse ukrainische Literaturen in mancherlei Sprachen. Man kennt (oder kennt eben nicht!) die ukrainische Klassik von Schewtschenko bis Kozjubynsky und Korolenko (ja, der gehört auch dazu!), dazu viele namhafte russische, polnische, österreichisch-ungarische Autoren, im Anschluss daran die mehrsprachige ‚multinationale‘ Sowjetliteratur auf ukrainischem Boden und die eigenständige ukrainische Exilliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts. Und jetzt eben doch – seit dreißig Jahren – eine neue „postkolonialistische“ ukrainische Nationalliteratur!

 

Ich habe auf dem mir zugänglichen westlichen Buchmarkt keine ukrainische Literaturgeschichte gefunden, die die im letzten Absatz genannten Kriterien berücksichtigen würde; eigentlich überhaupt keine ukrainische Literaturgeschichte. Die könnte auch wohl erst jetzt geschrieben werden. Der Artikel „Ukrainische Literatur“ in der deutschen Wikipedia gibt ansatzweise ein Bild davon und es wird ansatzweise deutlich, wieviel Unterdrückung, Terror und Gewalt ukrainische Autoren, die während der Sowjetherrschaft auf ukrainisch veröffentlichen wollten, erfahren haben. All das müsste auch eine neue ukrainische Literaturgeschichts-schreibung berücksichtigen.

 

Wahrscheinlich haben sich ein paar ukrainische Literaturwissenschaftler schon an die Arbeit gemacht.



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