Zwei Lerchen
Ich hörte zwei Lerchen singen
Sie sangen so hell und klar
Und flogen auf freudigen Schwingen
Am Himmel so wunderbar.
Die eine nahte der Sonne
Geblendet doch schrak sie zurück
Wohl dachte sie oft noch mit Wonne
An dies vergangene Glück.
Doch wagt sie nicht zu erheben
Die Schwingen nach jenem Strahl
Sie fürchtet, es möchte ihr Streben
Ihr werden am Ende zur Qual.
Die andre in mutigem Drange
Schwingt sich zu der Sonne heran
Doch schließt sie die Augen so bange
Auf nie noch betretener Bahn.
Sie kann doch nicht widerstehen
Sie fühlt unbesiegbare Lust
Die himmlischen Strahlen zu sehen
Sich selber kaum mehr bewußt.
Sie blickt in die strahlende Sonne
Sie schaut sie an ohne Klag
In himmlischer Freude und Wonne,
Bis endlich ihr Auge brach. – –??!!!
Mehr als die Hälfte der Gedichte aus dem Band "Sämtliche Gedichte" (2019) stammen aus der Schulzeit Nietzsches zwischen 1854 und 1864. Dabei handelt es sich um hunderte von Gelegenheits-, Stimmungs- und Naturgedichten, wie sie im 19. Jahrhundert von vielen deutschen Schülern geschrieben wurden, aber die Intensität und die Quantität mit der Nietzsche das tat, auch schon als Zehnjähriger, ist ungewöhnlich.
Nur wenige Gedichte ragen aus dieser Masse heraus, haben etwas Besonderes. Dazu gehört "Zwei Lerchen", das einen Vorschein von den späteren Vogelgedichten in Zusammenhang mit Nietzsches Philosophie gibt: für einen Dreizehnjährigen ein ganz ungewöhnliches Gedicht!
Außerdem "Colombo", aus demselben Jahr (1858), das erste der Kolumbusgedichte, auf die ich noch zurückkomme.
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