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Freitag, 29. Mai 2015

Zur Psychopathologie des niederländischen Deutschlehrers

Vor zwanzig Jahren habe ich den folgenden Aufsatz geschrieben, der dann in meine Dissertation „Land in Sicht“ (1997) eingegangen ist. Er ist heute nicht mehr aktuell, nur noch historisch interessant. Damals berührte er den wunden Punkt vieler niederländischer Deutschlehrer. Die Scheu dieses Thema anzusprechen war groß. Vielleicht findet er heute mehr interessierte Leser.

Peter Groenewold, Zur Psychopathologie des niederländischen Deutschlehrers

    Untersuchungen der Lehrer-Schüler-Interaktion haben Ergebnisse erbracht, die erkenntnistheoretisch eine Parallele zu den im Rahmen dieser Arbeit miteinander verschränkten Identitäts- und Begegnungs- bzw. Situationsforschungen nahelegen: die Interaktanten "erfinden" einander und setzen in diesem Prozeß die von ihnen erworbenen alltagsästhetischen Schemata und Deutungsmuster ein. Die Ähnlichkeit dieses Vorgangs der Erfindung des Lehrers durch die Lernenden (und umgekehrt) mit den alienisierenden Anschauungsformen in dyadischen Nationaldiskursen ist manchmal frappant: In der Erfindung von "Spitznamen" z.B. vollziehen die Lernenden vergleichbare stereotype Etikettierungen. So kommt es in den Niederlanden schon einmal vor, daß Schüler ihren (niederländischen) Deutschlehrer untereinander als "Hitler" bezeichnen.

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    Die wenigen deutschen Ausdrücke und idiomatischen Redewendungen, die Schüler aus freien Stücken im Unterricht benutzen, stammen zum Teil aus der Besatzersprache - "Ausweis!", "Schweinehund!" - und werden meist in militärischem Ton reproduziert. Auch Sprüche, die mit deutscher Schuldleugnung verbunden sind - "Wir haben es nicht gewußt" - gehören bis in die jüngeren Generationen hinein zum deutschen Zitatenschatz und werden gerne zur Zeit und zur Unzeit in deutsch-niederländischen Situationen verwendet. Diese Verbindung von Disziplinierung und Ordnung mit dem Unterrichtsfach Deutsch haben wir in unserer Typologie der Anschauungsformen (s. Abschnitt 6.3.4, Kategorie 12) als "Fetischisierung des faschistisch-militaristischen Sprachgebrauchs" eingeordnet: die Verselbständigung eines stark alienisierenden Codes durch seine Übertragung auf einen anderen Gegenstandsbereich. Allerdings: eine (gesellschaftlich) erfahrbare Verbindung zwischen Ableitungs- und Zielbereich des Fetischs ist hier vorhanden.
    Der Verweigerung der Partizipation auf seiten der Lernenden entspricht die Partizipationsblockade der Lehrenden. Der Formalismus des niederländischen Deutschunterrichts produziert mit Vorliebe inhaltsleere Listen: z.B. "Schwere Wörter", lange Reihen konstruierter grammatischer Problemsätze zum Übersetzen und alphabetisch geordnete Idiombücher.
    Die eigentliche Problematik wird in den Niederlanden noch weitgehend tabuisiert. Sie ist in allen Deutschland umringenden Nationen in der Nachkriegszeit wirksam gewesen: die Verbindung des Deutschunterrichts und der Deutsch Lehrenden mit der "Sprache des Feindes". Diesen Teil der Begegnungsgeschichte, der uns auch ganz direkt als Person betrifft, möchten wir hier nur in bezug auf die niederländischen Deutschlehrer thematisieren, für die das Problem potentiell psychopathogene Konsequenzen hatte und hat.
    Wer in den ersten Jahren nach der Befreiung 1945 in den Niederlanden als Deutschlehrer auftrat, konnte dies verständlicherweise in seiner Umgebung nur durch demonstrative Distanzierung von aller aktuellen Germanness vertreten. Zu nahe lag der Kollaborationsvorwurf, der im übrigen für einen Teil der Lehrerschaft auch durchaus zutraf. Der Rettungsanker war einerseits, ähnlich wie in Deutschland selbst, die Entideologisierung des Faches, die aber - wie wir gesehen haben - in der niederländischen Tradition weitgehend sowieso bereits gegeben war; andererseits wurde, vor allem im Literaturunterricht, die Kanonbildung im Hinblick auf die Werte der jeweils eigenen "Säule" der niederländischen Gesellschaft betrieben (vgl. Koldijk 1990: 139-147).
    Inwieweit die weitere faktische Formalisierung des Deutschunterrichts in den Nachkriegsjahrzehnten durch das kommunikative Paradigma hindurch (oder: an ihm vorbei) bis in die Gegenwart hinein auch mit der Problematik des Faches Deutsch und des Deutschlehrers nach der nationalsozialistischen Besatzungszeit zusammenhängen könnte, wird in den fachgeschichtlichen Abschnitten bei Kwakernaak nicht thematisiert (vgl. Kwakernaak 37f. und 157-160). Auch Koldijk (1990) geht in seiner Dissertation zum deutschen Literaturunterricht in den Niederlanden nicht explizit auf diesen Aspekt der Lehrerproblematik ein, obwohl auch er einen geschichtlichen Abriß des Literaturunterrichts gibt (vgl. Koldijk 1990: 73-84). Koldijk spricht in einem ebenso verhüllenden wie offenbarenden Understatement von der "begrijpelijke vermindering van de belangstelling voor het vak Duits" [verständlichen Abnahme des Interesses für das Fach Deutsch] (Koldijk 1990: 132) in den Jahren nach der Befreiung.
    Die sozialpsychologisch peinliche und identitätsbedrohende Situation des niederländischen Deutschlehrers nach 1945 ist meines Wissens in der Forschung nie explizit thematisiert worden.
    Der Kollaborationsvorwurf hat zwei zeitliche Dimensionen: zum einen die reale, die die Deutschlehrer betrifft, die während der deutschen Besetzung Deutschunterricht gegeben haben, zum anderen die irreal-anachronistische, die "die Sprache des Feindes" bis in die Gegenwart verlängert und auch die Deutschlehrer betrifft, die nach dem Kriege aufgewachsen sind und - aus welchen Gründen auch immer - diesen Beruf ergriffen haben. Möglicherweise spielt parallel zu Vorwürfen von außen auch noch ein innerer Kollaborationskomplex eine Rolle, eine Art ausweglose Selbstbezichtigung, in der sich die nationalethische Identität des niederländischen Deutschlehrers auf eine sehr grundsätzliche Art in Frage gestellt sieht.
    Für den niederländischen Deutschlehrer entsteht in beiden Fällen, nämlich beim realen und beim anachronistischen Kollaborationsvorwurf, ein Identitätsproblem, eine Geschichte von Identitätsgefähr¬dun¬gen und -verletzungen, deren Leidensintensität und -intimität nicht gesellschafts- und diskursfähig ist und deshalb von den Betroffenen in der niederländischen Öffentlichkeit nicht thematisiert wird.
    Bis in die Gegenwart hinein charakterisiert sich daher der niederländische Deutschunterricht durch eine Abstrahierung von allem, was mit (der niederländischen Sicht von) Germanness verbunden werden könnte. Nur die Zeit von 1940-1945 spielt retrospektiv bis in die Gegenwart eine andere Rolle: hier tritt Germanness in der Funktion als negative Folie von Dutchness auf.
    Dieses Phänomen zeigt sich auf allen Ebenen bis hin zum universitären Sprachstudium. Die kulturelle Kontaktscheu wächst mit dem Grad der Verinhaltlichung. Die geringsten Probleme bestehen im Bereich der klassischen deutschen Musik. Auch die deutsche Literatur wird nicht als Vehikel für Germanness behandelt, sondern als universalethischer Quellenschatz exploitiert. So erfolgt nach 1945 - ähnlich wie in Westdeutschland selbst - der Rückgriff auf die deutsche Klassik, auf den Goetheschen Kosmopolitismus und die Hölderlinsche Deutschlandskepsis.
    Dies geschieht einerseits "met de idealen van het neo-humanisme, anderzijds met de normen die de 'verzuilde' levens- en wereldbeschouwing aan het bijzonder voortgezet onderwijs oplegde" [mit den Idealen des Neuhumanismus, andererseits mit den Normen, die die 'versäulte' Lebens- und Weltanschauung dem konfessionellen Sekund-arstufenunterricht auferlegte] (Koldijk 1990: 181).
    Am größten wird die Kontaktblockierung bei landeskundlichen Themen (es sei denn, sie spielten eine Rolle in der Eigenidentitätsbildung: die Zeit von 1940-1945). Kein niederländischer Verlag hat ein landeskundliches Lehrbuch über ein deutschsprachiges Land im Angebot: offenbar besteht kein Bedarf. Eine niederländische Deutschstudentin formulierte dieses Phänomen (im Jahr 1992) gegenüber dem Autor wie folgt: "Wir studieren das Fach Deutsch hier so, als ob es das Land Deutschland gar nicht gibt". Diese Aussage korrespondiert mit unserer allgemeinen Begegnungsanalyse im Abschnitt "'Deutschland': Die Fahrt ins Nichts" (vgl. Abschnitt 6.4.1).
    Vor diesem Hintergrund erhält das oben zitierte Motto "Deutsch macht Spaß" etwas Verkrampftes, Unwahres. "Deutsch macht krank" wäre der niederländischen Situation adäquater. Aber wieso sollte ausgerechnet aus der niederländischen Deutschdidaktik der Ansatz zur Aufarbeitung eines Problems kommen, das ein gesamtgesellschaftliches Tabu betrifft?


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