Lange Zeit ist mir kein Buch so nahe gegangen wie dieses.
Ach, es hat schon seine Ironie: Wo alle deutschen Buchpreise
immer wieder an Romane gehen, die eine der beiden deutschen Vergangenheiten zum
Thema haben, plädiere ich seit Jahren für den Gegenwartsroman oder gar gleich
für eine Utopie und preise gelungene Beispiele an, Jan Brandts „Gegen die
Welt“, zum Beispiel, und Reinhard Jirgls „Nichts von euch auf Erden“.
Und jetzt lese ich einen Vergangenheitsroman ganz neuer Art:
Anne Webers „Ahnen. Ein Zeitreisetagebuch“ (Frankfurt am Main 2015) und bin wie
gebannt von der Intensität, mit der die Autorin vorgeht und mir in meiner
Vergangenheitsgemütlichkeit den Schlaf raubt. Vordergründig ist es ein Buch
über ihren Urgroßvater
Florens Christian Rang (1864-1924), den „tiefsten Kritiker des Deutschtums seit
Nietzsche“, laut Walter Benjamin. Wie schön, so ein interessantes Urteil aus
berufenem Munde. Wir sind auf der sicheren Seite, so scheint es.
Anne Webers Blick zurück stößt jedoch immer wieder auf ein “Riesengebirge”, das zwischen ihr und ihrem
Urgroßvater liegt: die
deutsche Tätergeneration. In ihrer Familiengeschichte wird sie durch ihren Großvater repräsentiert. Und langsam wird
jedes Glied dieser Reihe, Urgroßvater, Großvater, Vater und Anne Weber
selbst, das uneheliche Kind, das mit 18 nach Frankreich ging und dort blieb,
abgeklopft und unerbittlich in Frage gestellt. Dabei spielen auch ihre
Erfahrungen als Deutsche in Frankreich eine Rolle, die Verstörungen, die sich
durch Fremdspiegelungen ergeben (die ich ganz ähnlich aus den Niederlanden kenne) und immer wieder die Sprache, die Wörter, die schuldigen Wörter,
die auch die Enkel nicht in Unschuld aussprechen können.
Ich habe es erst halb gelesen. Seit Jahren ist es nicht
vorgekommen, dass ich ein Buch zur Seite lege, nicht weil ich es nicht mag,
sondern weil ich es kaum aushalten kann. Es ist so anders als all die
verständnisvollen oder verständnislosen Nachforschungen von Kindern und Enkeln
der Tätergeneration, für die sich in den letzten zwei, drei Jahrzehnten ein
Markt gefunden hat. Anders als der Blick zurück von der sicheren Seite der
Geschichte aus. Es ist anders, weil es eine Selbstprüfung ist und schonungslos.
Lange Zeit ist mir kein Buch so nahe gegangen wie dieses. Ich komme darauf zurück.
Hier die Rezension im Berliner "Tagesspiegel".
Hier die Rezension im Berliner "Tagesspiegel".
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