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Montag, 4. Mai 2015

Die Zerstörung meiner Vergangenheitsgemütlichkeit – Anne Webers Buch „Ahnen“

Lange Zeit ist mir kein Buch so nahe gegangen wie dieses.

Ach, es hat schon seine Ironie: Wo alle deutschen Buchpreise immer wieder an Romane gehen, die eine der beiden deutschen Vergangenheiten zum Thema haben, plädiere ich seit Jahren für den Gegenwartsroman oder gar gleich für eine Utopie und preise gelungene Beispiele an, Jan Brandts „Gegen die Welt“, zum Beispiel, und Reinhard Jirgls „Nichts von euch auf Erden“.

Und jetzt lese ich einen Vergangenheitsroman ganz neuer Art: Anne Webers „Ahnen. Ein Zeitreisetagebuch“ (Frankfurt am Main 2015) und bin wie gebannt von der Intensität, mit der die Autorin vorgeht und mir in meiner Vergangenheitsgemütlichkeit den Schlaf raubt. Vordergründig ist es ein Buch über ihren Urgroßvater Florens Christian Rang (1864-1924), den „tiefsten Kritiker des Deutschtums seit Nietzsche“, laut Walter Benjamin. Wie schön, so ein interessantes Urteil aus berufenem Munde. Wir sind auf der sicheren Seite, so scheint es.

Anne Webers Blick zurück stößt jedoch immer wieder auf ein “Riesengebirge”, das zwischen ihr und ihrem Urgroßvater liegt: die deutsche Tätergeneration. In ihrer Familiengeschichte wird sie durch ihren Großvater repräsentiert. Und langsam wird jedes Glied dieser Reihe, Urgroßvater, Großvater, Vater und Anne Weber selbst, das uneheliche Kind, das mit 18 nach Frankreich ging und dort blieb, abgeklopft und unerbittlich in Frage gestellt. Dabei spielen auch ihre Erfahrungen als Deutsche in Frankreich eine Rolle, die Verstörungen, die sich durch Fremdspiegelungen ergeben (die ich ganz ähnlich aus den Niederlanden kenne) und immer wieder die Sprache, die Wörter, die schuldigen Wörter, die auch die Enkel nicht in Unschuld aussprechen können.

Ich habe es erst halb gelesen. Seit Jahren ist es nicht vorgekommen, dass ich ein Buch zur Seite lege, nicht weil ich es nicht mag, sondern weil ich es kaum aushalten kann. Es ist so anders als all die verständnisvollen oder verständnislosen Nachforschungen von Kindern und Enkeln der Tätergeneration, für die sich in den letzten zwei, drei Jahrzehnten ein Markt gefunden hat. Anders als der Blick zurück von der sicheren Seite der Geschichte aus. Es ist anders, weil es eine Selbstprüfung ist und schonungslos.


Lange Zeit ist mir kein Buch so nahe gegangen wie dieses. Ich komme darauf zurück.

Hier die Rezension im Berliner "Tagesspiegel".

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