Elbphilharmonie 30.9.2024 |
Deutscher Buchpreis 2024
Aus dem Zyklus „Schneewittchen 2.0“
(Zur Poetologie von Clemens Meyer)
Schneewittchen nahm teil in der Kategorie:
„Schöner als ich? Das gab’s noch nie!“
Das schrieb sie auch den Brüdern Grimm:
„Ohne mich hat das keinen Sinn!“
Und als sie den Buchpreis nicht bekam,
Da fing sie laut und wild zu zetern an:
„Ihr Wichser! Wisst ihr denn nicht, Euer Ehren:
Ich muss zuhause sieben Zwerge ernähren!
Allein meine tägliche Garderobe,
Obwohl vom Modehaus stets nur zur Probe,
Kostet mich dennoch ein Vermögen,
Nur um Tausende für mich zu erregen.
Und um so schön zu sein wie ich es bin,
Bedarf es mehr als der Brüder Grimm:
Ich steige über mich selbst hinaus
Und wenn ich‘s nicht tu, ist alles aus!“
Den Preis indes erhielt Martina Hefter.
In dieser märchenlosen Zeit geschieht das öfter.
Bildkonzeption P. Groenewold/Ausführung ChatGPT |
Der große Unterschied zwischen Deutschland und dem „Westen“, also Frankreich, England und den USA, was war er? Im politischen Sinn natürlich die komplizierte Herausbildung der demokratischen Herrschaft. Das geschah in Deutschland „verspätet“. Im ökonomischen und damit im soziologischen Sinn aber war die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Ländern des Westens und in Deutschland gar nicht so verschieden: England lag vorne, was die Industrialisierung betraf, Deutschland holte nach 1871 rasant auf, die USA waren die noch kommende Weltmacht, bezogen aber ihre wachsende weiße Bevölkerung aus all diesen europäischen Staaten.
Im Falle der Beurteilung Wilhelm Buschs geht es jedoch um ein kulturell-ästhetisch-soziologisch verquicktes Thema, nicht um ein politisches. Klotz’ Argumentation führt in die falsche Richtung bzw. sie ist simplifizierend.
Buschs Bildergeschichten sprachen ein sich diversifizierendes und schnell wachsendes Konglomerat bürgerlicher, kleinbürgerlicher und subbürgerlicher Menschen an. Sie illustrierten deren Alltags- und Arbeitswelt, die sich in all diesen Staaten immer mehr vom kulturbestimmenden Bildungs- und Wohlstandsbürgertum (und schon gar von der Aristokratie) unterschied.
Insofern ist Buschs Werk nicht Ausdruck eines großen politischen Unterschieds zwischen Deutschland und dem Westen, sondern im Gegenteil einer deutlichen kulturell-ökonomisch-soziologischen Ähnlichkeit.
England erfuhr in jenen Jahrzehnten mit den Music-Halls einen kulturellen Umschwung „unterhalb“ der aristokratisch-bürgerlichen Hochkultur, Frankreich erlebte eine Diversifizierung seiner elitären Unterhaltungskultur durch die Vaudeville-Theater, und die jungen Vereinigten Staaten fingen sowieso erst an, ein breites Kulturleben zu entwickeln, das genau auf diesen neuen, chaotischen, modernistischen, massenbegeisternden aus Europa herüberwehenden Vaudeville-Elementen aufbaute.
Und Deutschland? Dort war im kulturellen Sinne das landesspezifische Bildungs- und Großbürgertum bestimmend. Eine große Rolle spielte auch der Umstand, dass Deutschland bis 1871 aus einer Vielzahl politisch und kulturell konkurrierender Fürstentümer bestand und über zahllose kulturelle Institutionen verfügte, Theater, Opernhäuser, Orchester, bis heute weckt dieser Reichtum Bewunderung.
Auf dieser Ebene hatte die ordinär-agressiv-lustige Vaudeville-Bewegung des Westens keine großen Chancen in Deutschland. Mehr als ein Jahrhundert lang artikulierte sich eine selbstüberhebende deutsche Arroganz über diese „Kulturlosigkeit“. Sie wusste sich auch in den Nationalsozialismus zu integrieren und ihn zu überleben.
Die Ästhetik des Vaudeville dagegen war aber durchaus auch in den entsprechenden Schichten in Deutschland angekommen, nicht in den Theatern, aber auf Papier, im sich rasch ausweitenden Kolportagebuchhandel. Ihr beliebtester Repräsentant war Wihelm Busch mit seinen Bildergeschichten! Mit Max und Moritz, Fipps, der Affe, Hans Huckebein, der Unglücksrabe und später mit dem gewaltigen Erfolg des Sammelbandes „HumoristischerHausschatz“.
Die deutsche Hochgermanistik hat sich immer auf vornehme Distanz zum „Volksschriftsteller“ Wilhelm Busch gehalten. Gute Analysen seiner Werke gibt es kaum, Biografien stammen eher nur von Journalisten. Die DDR-Germanistik hat ihm, obwohl Busch nun wirklich kein früher Sozialist war, in ihrer verdienstreichen „Geschichte der deutschen Literatur“ (8. Band, Zweiter Halbband, Berlin 1975), eine Reihe klug formulierter Seiten gewidmet, die ein Gespür für die Gesellschaftsgebundenheit Buschs zeigen.
In der 68er-Generation nahm auch die BRD-Germanistik die Spur auf: Gert Ueding mit seinen zwei Bänden „Wilhelm Busch. Das 19. Jahrhundert en miniature“, Frankfurt am Main 1977 und „Buschs geheimes Lustrevier. Affektbilder und Seelengeschichten des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert, Berlin/Wien 1982. Seine Betrachtungen sind allerdings so breit und allgemein, dass vom Spezifischen an Wilhelm Busch nicht viel übrig bleibt.
In dem von Michael Vogt herausgegebenen Band „Die boshafte Heiterkeit des Wilhelm Busch“ (Bielefeld 1988; der Titel zeugt schlichtweg von Hilflosigkeit) sind sieben Beiträge versammelt, die auf die „Brüche, Verwerfungen und Abgründigkeiten eines nachhaltig deformierten kollektiven Affekthaushalts“ (Klappentext) verweisen sollen. Worauf dies hinauslaufen sollte, hat Volker Klotz zu einem damals gängigen Interpretationsschema konstruiert:
„Was Busch so inständig ins Bild setzt, ist Ausdruck eines fortdauernden, bis zum heutigen Tag noch unverheilten kollektiven Traumas. Es ist das Trauma der gescheiterten bürgerlichen Revolution von 1848. (…) unverkennbar sind es die leitenden Grundsätze der bürgerlichen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - , die Busch in seinen Bildergeschichten fratzenhaft heraufbeschwört. (…)
Das Bürgertum in Deutschland hat (…) durch fortschreitende Kapitalisierung und Industrialisierung bewirkt, daß eine andersartige, ungewollte Gleichheit hereinbrach.. Die relative Gleichheit der Meisten im Zustand entfremdeter Arbeit und entfremdeter Natur. Buschs Helden spielen vor, wie das ist: wenn unterschiedslos der eine wie der andere mechanisch um sich schlägt in der immergleichen Objektrolle gegenüber anonymen Gewalten, die sie nicht kontrollieren können. Beim Aufstand der toten Gegenstände gegen die Menschen, die doch einmal diese Gegenstände zum eigenen Besten hervorgebracht haben. Aber auch beim Aufstand ihrer eigenen Triebe – des Hungers und des Dursts, der Sexualität und der schieren Narretei (…).“
Volker Klotz macht hier Gebrauch von einem in der 68er Generation beliebten simplifizierenden Argumentationsmuster: Die Generation der Kinder der Täter litt nämlich selber an einem Trauma, dem Trauma der Unerklärbarkeit des Holocaust, dem Trauma der deutschen Schuld. Das Fehlen einer bürgerlichen Revolution wurde gerne als Erklärung für das Aufkommen des Nationalsozialismus angeführt.
Klotz berichtet, dass er hiermit bei seinen Vorträgen im Ausland mehr Zustimmung erfahren hat, als in der Bundesrepublik.
Immer noch sind die Bildergeschichten Wilhelm Buschs außerordentlich populär. In zahllosen Familien steht ein Wilhelm-Busch-Album, oft schon über mehrere Generationen weitergegeben. Das Hausalbum meiner Familie hat meine Mutter zu Weihnachten 1936 meinem Vater geschenkt.
Die Wilhelm-Busch-Gesellschaft wahrt das Andenken, hütet seinen „Humor“ und widmet lieber nicht zu viel Aufmerksamkeit seinen doch sehr merkwürdigen chaotischen und gewaltbetonten Seiten. Auch das Wilhelm-Busch-Museum in Hannover pflegt für sein Publikum dieses Bild eines großen deutschen Komikers und fügt es zeitgemäß in gegenwärtige Karikatur und Komik ein.
Wer 1924 anfängt, fängt mit dem Zauberberg an, klar, aber dann, aber dann! Mir machen solche Listen immer Spaß, und die Spiegelredaktion sorgt schon dafür, dass der Leser ab und zu hä? sagt oder „Das doch bitte nicht!“ oder „Wo ist ….?“.
Mir fehlen auch ein paar, aber wenn der Zauberberg drin ist und Die Stunde zwischen Frau und Gitarre, dann ist alles gut.
P.S. Ich fürchte um die Liste zu sehen, muss man den Spiegel kaufen. Aber macht nichts: die zwei wichtigsten Titel wisst ihr ja schon.
Kommen wir nun zur Begegnung vom 6. Oktober 1875. Den nachfolgenden Bericht hat Marie Anderson nach dem Tode von Wilhelm Busch verfasst, also mehr als dreißig Jahre nach ihrer Begegnung mit ihm. Sie muss ihn in Zusammenhang mit der Herausgabe seiner Briefe an sie geschrieben haben (Wilhelm Busch an Maria Anderson. 70 Briefe, Rostock 1908), aber er ist darin nicht in dieser ausführlichen Form aufgenommen. Ich habe den Bericht aus der Biografie von Herbert Günther: „Der Versteckspieler. Die Lebensgeschichte des Wilhelm Busch“, Fellbach 1991, S. 127-129 (ohne Quellenangabe):
Marie zögerte, Busch ein Porträt-Foto von sich zu schicken: ihr war bewusst, dass sie keine Schönheit war. Stattdessen schickte sie ihm ein Foto ihres kleinen Sohnes mit seinem Hund und ein Bild ihrer attraktiven Freundin Eugénie.
Aber letztlich kam sie nicht darum herum und schickte ihm ihr Porträt mit einem selbstkritischen Kommentar.
Busch antwortete am 12.3.1875 und eröffnete seinen Brief nicht gerade feinfühlig:
„Meinen Dank für Ihre Photographie, obschon ich sagen muss: Sie haben recht! In der linken Backe befindet sich etwas wie eine Pflaume oder ein Kluntje!“
Dabei belässt er es und widmet den Rest des Briefes poetischen Themen. Und in diesem Sinne wird der Briefwechsel mit durchaus wachsender Herzlichkeit, intellektueller Nähe und dem Austausch von Artikeln und Büchern fortgesetzt.
Sie schickt ihm Tee und schreibt, dass ihre Liebe zu ihm rein platonisch sei. Das hört er gerne und schreibt zurück: „Da Sie mich platonisch lieben, so will ich auch kein Brummbär sein. Liebe per distance gefällt dem Herrn wohl! Sie kommt mir vor wie zwei geflügelte Engelsköpfe auf Goldgrund“ (Brief vom 26.4.1875).
Bildkonzeption Wilhelm Busch/Ausführung ChatGPT |
Foto: P. Groenewold |
Die Krähe
Ich bin auf einer kleinen Reise. Der Zug hat Verspätung, und ich möchte einen Schluck Wasser trinken. Dazu kaufe ich mir im Bahnhof für drei Euro eine kleine Wasserflasche, setze mich auf die letzte freie Bank am Bahnsteig, und öffne sie.
Der Schraubverschluss hängt am Flaschenhals fest und behindert mich beim Trinken. Mein erster Versuch endet mit einem durchnässten Pullover. Mit einiger Mühe gelingt es mir, mit gespitzten Lippen wie ein Vogel doch ein paar Schlückchen aus der Flasche zu schlürfen.
Die rechte Hälfte der Sitzbank ist von einer achtlos hinterlassenen halbvollen Fast-Food-Tüte verschmutzt. Eine Krähe zupft daran herum. Währenddessen hält sie ein achtsames Auge auf mich.
„Das machst du schon ganz gut“, krächzt sie, „weiter so!“
Ich nehme noch ein Schlückchen und will die Flasche wieder zuschrauben. Der Schraubverschluss greift wegen der Anbindung nicht richtig in das Gewinde und sitzt schief. Die Flasche leckt. Nun sind auch die Sachen in meiner Reisetasche nass.
Die Krähe hat inzwischen die Fast-Food-Verpackung mit gezielten Schnabelhieben zerfetzt. Der Sitzplatz neben mir ist mit Essensbrocken übersät. Sie hüpft hin und her und meldet sich mit vollem Schnabel wieder zu Wort: „Du musst diese blödsinnigen Verpackungen einfach in Stücke hacken.“
Ich nehme die Flasche hastig wieder aus meiner Reisetasche und reiße den Verschluss ab. Jetzt hat er schräge und scharfe Kanten und lässt sich noch immer nicht gerade auf die Flasche drehen. Ich schmeiße ihn weg. Die Flasche ist beinahe leer. Ich nehme den letzten Schluck und werfe sie wütend auf die Gleise. Mir ist kalt.
„Na bitte“, sagt die Krähe, „du machst das schon fast so gut wie ich.“
Mein Zug läuft ein. Ich wünsche der Krähe krächzend einen guten Tag, hüpfe zwischen den Aus- und Einsteigenden den Bahnsteig entlang und kaufe mir schnell noch eine neue Flasche.
#EU-Richtlinie „Tethered Caps“
Hier habe ich noch ein Bild von ChatGPT zu der Situation. Ich habe mehrfach versucht, dem Programm klar zu machen, dass ich keinen Bart, kürzere Haare und einen etwas, aber wirklich nur etwas dickeren Bauch habe, vergebens.
Dafür füge ich noch ein Foto von der realexistenten Krähe bei, die neben mir saß.
P.S.: Ich möchte noch hinzufügen, dass diese Situation und dieser Blogpost nur deshalb entstanden sind, weil mein ICE aus Hamburg Verspätung hatte und mein Anschluss-IC von Bremen nach Leer nicht gewartet hat. So saß ich eine Stunde auf dem Bahnsteig in Bremen und versuchte, meine Dehydrierung zu bekämpfen. In meinem (zurecht) geliebten Groningen kam ich mit zwei Stunden Verspätung an. Das sind qualvolle Reisen!
P.S.2: Die Schweinerei mit dem Essen habe ich aber nicht gemacht. So etwas tue (und esse) ich nicht.