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Freitag, 13. Januar 2017

Clemens J. Setz: »Die Stunde zwischen Frau und Gitarre - Das komplette Lesetagebuch

Morgen erscheint die Taschenbuchausgabe von Clemens Setz’ Roman “Die Stunde zwischen Frau und Gitarre” (suhrkamp taschenbuch, 2017, 1021 Seiten, € 16,00).

Aus diesem Anlass setze ich noch einmal die Beiträge meines Lesetagebuchs (1-11) von 2015 geschlossen in mein Blog. Für mich ist der Roman noch immer einer der wichtigsten des neuen Jahrhunderts.

Clemens Setz, Die Stunde zwischen Frau und Gitarre – Ein Lesetagebuch (1)

Ich wähle mir jedes Jahr einen Roman aus der Longlist für den Deutschen Buchpreis, dem ich ein Lesetagebuch widme. Diesmal ist das: Clemens Setz „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“, 1021 Seiten, Berlin: Suhrkamp Verlag 2015, € 29,95.


Dass dieser Roman nun auch das diesjährige Flaggschiff des bekanntesten deutschen Literaturverlages ist, der ihn sogar mit einem Buchtrailer auf Youtube bewirbt, kann mich dabei nicht stören. Auch nicht, dass er noch gar nicht erschienen ist. Suhrkamp hat einen dreißigseitigen Blick ins Buch zur Verfügung gestellt, in dem wir Setz’ Hauptfigur Natalie kennenlernen: Das genügt für meine Entscheidung; es sind dreißig Seiten große Literatur. Auch der Trailer lässt das sehen:




Fürs erste – und um die Wartezeit bis zum Erscheinen des Romans zu überbrücken – habe ich mir ein Zitat ausgesucht, das eine kleine Übung beschreibt, die mir ganz besonders gefällt:



„Über ihrer Badewanne hing ein riesiges Poster mit Kaiserpinguinen. Die auberginenrunden Vögel hatten sich unter der tiefstehenden Polarsonne wie Schachfiguren verteilt, still und abwartend, und warfen lange, herausfordernde Schatten übers Eis. Natalie salutierte – manchmal in echt, manchmal nur innerlich – jeden Morgen vor den Pinguinen. Dabei hielt sie für einen Augenblick die Luft an und wölbte den Bauch nach vorn. Es versetzte ihr einen kleinen, hellblauen Stromstoß von Glück“ (Die Stunde zwischen Frau und Gitarre, S. 22).



Die Stunden zwischen Buch und Handlung – In Erwartung des neuen Romans von Clemens Setz. Ein Lesetagebuch (2)

Die gute Gepflogenheit, einen Roman erst zu rezensieren, wenn der willige Leser ihn auch in der Buchhandlung erwerben kann, wird im deutschen Feuilleton gerne durchbrochen, wenn die Erwartung mindestens so groß ist wie das noch nicht verfügbare Buch.

Ijoma Mangold tarnt seine Besprechung von Clemens Setz’ “Die Stunde zwischen Frau und Gitarre” in der ZEIT dieser Woche (Nr. 35, S. 43f.) zwar als Gespräch mit dem Autor während einer lustigen Tandem-Fahrt durch Graz, klappert dabei aber schon heftig mit den Schubladen, die er für seine Analyse parat hat: “Der Roman, auf dessen gut 1000 Seiten Stephen King eine untergründige Rolle spielt, hat die Panoramastruktur eines Thrillers. Alle Figuren erzeugen fortlaufend ihre eigene Wirklichkeit, sodass eine 360-Grad-Dauerbedrohung entsteht wie bei einem Computerspiel, das die sich bekämpfenden Mitspieler stets in ihrem eigenen Sinne umprogrammieren.” Ein “radikal postpsychologischer Roman” sei es, in dem “der Freak als Phänotyp der Gegenwart“ zurückkehrt und das Erbe der Nerds antritt. Die Hauptfigur Natalie sei „die Verkörperung dieses neuen Freaktums“, dessen Austausch mit der Welt sich hauptsächlich über technische Medien vollzieht.

Mangold erzählt dann zwar noch so dies und das über Natalie, aber das Ganze dient doch mehr dazu, uns den Mund wässrig zu machen: Der Roman ist „genial“, „wird (sic! P.G.) uns alle faszinieren“ und „hat das Zeug dazu, ein Kultroman zu werden“. Na, dann mal los.

Für die Fortsetzung meines angekündigten Leserblogs bin ich allerdings gar nicht auf Ijoma Mangold oder meinen Gang zur Buchhandlung in zehn Tagen (der Roman erscheint am 6. September) angewiesen. Zwar verfüge ich nicht wie der Redakteur über ein Rezensionsexemplar, aber ich habe ja immer noch den “Blick ins Buch”, den der Verlag im Internet freigegeben hat...

Große Romane offenbaren ihr poetologisches Programm ja gerne in einer Art Ouvertüre. Mal schauen, wie das bei Clemens Setz aussieht:

Das erste Kapitel heißt “Abschluss” und erzählt vom letzten Tag der Berufsausbildung von Natalie, die mit 21 Jahren ihr Diplom für Behindertenpädagogik gemacht hat. Zum Abschluss gibt es ein Fest und zum Fest gehört ein Ausflug mit dem Heißluftballon, aber Natalie hat verschlafen: Sie ist drei Stunden zu spät, sieht die Ballone in der Ferne bereits am Himmel schweben und probiert, ihnen mit dem Taxi hinterherzufahren, hoffnungslos!

In diesen ersten zehn Seiten erfährt der Leser viel über die sinnliche Weltwahrnehmung der jungen Frau, die immer wieder von Dimensionsverkehrungen und –verschränkungen bestimmt ist: zwischen oben und unten - das Taxi soll den Ballon erreichen, der Ballon ist “ein fingerhutgroßer umgekehrter Wassertropfen” (5); zwischen Natalies Körper und ihrer Umgebung – sie hat früher Anfälle gehabt: “Aura, aurig. Es war so, als wäre man in unangenehm heißer, dichter und intimer Verbindung mit der Umgebung” (11); zwischen nah und fern - die Ballone erscheinen ihr als “Glaskörpertrübungen”, die sie aber mit einem Trick scharf stellen kann (12); zwischen Realität und Computerspiel - Natalie lässt ein imaginiertes Skateboard auf Leitplanken und Überlandleitungen fahren (13) und stellt sich eine aus dem Auto ragende Klinge vor, die Masten, Zäune und Bäume abschneidet (13); zwischen groß und klein – der letzte Satz des Kapitels lautet: “Und Sterne: Welten, die so klein waren, dass Hunderte von ihnen zwischen ein paar abendliche Baumäste passten” (16).
Neben all diese Assoziationen an ihrem Abschlusstag schieben sich Erinnerungen aus dem Berufspraktikum, in denen die Übergänge zwischen geistig-körperlicher Normalität und krankhafter Abweichung manifest werden.
Zwischendurch wird uns Natalies Vorliebe für die Romane von Stephen King und Peter Straub mitgeteilt – die Großmeister des fantastischen Thrillers.

Der Autor tut das Seine hinzu und lässt seinen Anfang “Abschluss” heißen.

Fazit: Natalie ist eine moderne junge Frau mit einem Hang zum Fantastischen. Sie funktioniert auf professionelle Weise in ihrer harten Arbeitswelt und ist in ihrer privaten Wahrnehmung und Sinngebung offen für fließende Übergänge, Verkehrungen, Imaginationen, Experimente…

Die ersten zehn von tausend Seiten. Die Ouvertüre zeigt: Da kommt noch etwas auf uns zu.


Clemens Setz, Die Stunde zwischen Frau und Gitarre. Ein Lesetagebuch (3) - Natalie

Auf den ersten zehn Seiten des Romans "Die Stunde zwischen Frau und Gitarre" ist bereits deutlich geworden, dass die Hauptfigur, die 21jährige Behindertenpflegerin Natalie, in ihrer Weltwahrnehmung und Lebensführung allerlei kleinere und größere Tics aufweist. Was dort ouvertürenhaft aufscheint, wird in den nächsten hundert Seiten vielfältig ausgeweitet, wobei das Spektrum von kleinen Angewohnheiten wie sie jeder von sich kennt bis hin zu eklig-exzessiven Dingen reicht.

So widmet Natalie sich nachts dem “Streunen”: Sie befriedigt an dunklen Orten wahllos ausgesuchte Männer mit dem Mund und nimmt die Geräusche und Äußerungen, die dabei entstehen, mit ihrem iPhone auf. Mit Hilfe einer App, die ermöglicht, digitale Tonaufnahmen wie alte Audiokassetten zu behandeln, bearbeitet sie die Aufnahmen einer Nacht durch Vor- und Zurückspulen, Beschleunigungen, Schnitte, Übergänge und erzeugt einen Mix des Ganzen: “Die Anwendung vermittelte ihr ein intensives Gefühl von Geborgenheit, obwohl sie als Kind gar keine eigenen Hörspielkassetten besessen hatte” (S. 35). Den “Mix eines besonders schönen Abends” hat der Autor freundlicherweise für uns transkribiert (S. 36f.). Er ist leider zu lang, um ihn hier zitieren zu können, aber es möge deutlich sein, dass es sich um eine völlig neue Textsorte handelt.
Für uns viel normaler und geläufiger ist dagegen der Verlauf eines Chats im Programm Skype, bei dem die Reihenfolge der eingetippten Fragen und Antworten durcheinander kommt und in der Eile des Schreibens allerlei teils sinnentstellende Fehler im Text und Irritationen bei den Chatteilnehmern entstehen (S. 75-79).

Nach der Arbeit schaltet Natalie zuhause immer ihren Fernseher und ihren Laptop an und stellt beide auf dieselbe Live-Übertragung ein: “Durch die Verzögerung des Internetstreams kam es zu einer angenehmen Verdoppelung der Geräusche und Äußerungen, zu einem Echo. Das Zimmer wurde dadurch noch etwas räumlicher als sonst. Fast wirkte es so, als seien Eltern da, die aufeinander einreden“ (S. 56). Überhaupt guckt sie nur Live-Sendungen, sie braucht das Gefühl des „Jetzt“.

Und so gibt es vielerlei, was Natalies intimes Verhältnis zu den Medien des 21. Jahrhunderts zeigt. Sie reinigt zum Beispiel ihr iPhone, indem sie es – zum Entsetzen ihrer Kollegin – einfach ableckt (S. 100). Und „manchmal ließ es sich nicht vermeiden, dass sie alle möglichen Dinge antippte wie Mikrofone. Ein genereller Soundcheck der Welt” (S. 156).
Als Kind hatte Natalie epileptische Anfälle, das erste Mal in den Ferien am Strand. Clemens Setz erfindet eine Sprache dafür:

“ein Dröhnen und Rollen ringsum, der ganze Horizont wurde aurig und weich, es war alles um-sie-herum und zwirn und zaun und blau, die Stelle unter der Zunge wurde rot wie ein Nebelhorn, dann weit-zornige, dünenhohe Übermacht und dazwischen, winzig kahn und versinkend: sie selbst, ameisengroß, Apfelkern… Dann das träg-schalige Erwachen im warmen Sand, Menschenbilder und Tiere bewegten sich in der Brandung. Langsam und polaroid entwickelte sich ihr Bewusstsein, kam zurück, bildete Anhaltspunkte, Zahlen und Figuren” (S. 84).

So hat Setz für alle Situationen eine angemessene Sprache, die sich jeweils ganz natürlich in seinen riesigen Erzählraum einfügt. Die meisten bisherigen Rezensenten gehen kaum darauf ein, obwohl hier von großer Meisterschaft die Rede sein müsste: Wie hier in der über tausend Seiten durchgehenden personalen Perspektive alles Erzählte in stimmiger Weise mit Natalies teils wirrer, teils klarsichtiger, teils rührender Weltsicht formuliert wird, zwischendurch die vielen Dialoge, Gespräche aus der Arbeitswelt im Behindertenheim (z.B. Natalies erste Teamsitzung, S. 85-96), die Kapitelanfänge (z.B. die Katzen auf S. 156), das ist schon großartig.
Setz liebt seine Figur, auch wenn er sie nicht retten kann. Er schenkt ihr seinen Kosmos, vielleicht, um sich selbst zu retten. Die erste Rezension, die davon eine Ahnung hat, ist die von Angela Leinen in der “taz”.
Und ja: Sind sie Ihnen auch aufgefallen, die “Zahlen und Figuren” im letzten Zitat oben? Das ist ja doch eine massive Anspielung auf die deutsche Romantik. Aber ich habe noch achthundert Seiten vor mir.


Clemens Setz, „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“. Ein Lesetagebuch (4) - Die Geburt der Universalpoesie aus dem Geiste des Internets

Jetzt ist die Katze aus dem Sack: Iris Radisch rief gestern Abend in ihrem Gespräch mit Clemens J. Setz das Zauberwort in den vollbesetzten Saal im Haus der Berliner Festspiele: „Universalpoesie“!

Die Stunde zwischen Groenewold und Setz

Überhaupt war Iris Radisch („Die Zeit“) hin und weg von den synästhetischen Wahrnehmungswelten der Hauptfigur Natalie aus Setz’ neuem Roman „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“. Sie sei neidisch!, ja neidisch!! auf die Fähigkeiten dieser Figur und meinte damit natürlich eigentlich den jungen Autor, der ob dieser Ausbrüche schüchtern, aber durchaus charmiert, ein wenig zusammenschrumpfte.

Universalpoesie: Das Programm der jungen Romantiker Friedrich Schlegel und Novalis, die in ihrer Literatur Traum und Wirklichkeit, Poesie und Leben zusammenbringen wollten. Totum simul: Alles auf einmal! Auf die Frage, ob er sich der Ähnlichkeit seines Konzepts mit der Frühromantik bewusst sei, nuschelte der sonst an diesem Abend so artikuliert und brillant formulierende Autor, dass es ja offenbar alles schon einmal gegeben habe... ach ja, die deutschen Romantiker... und schützte einen gewissen Abstand vor. Desgleichen auf die Gretchenfrage nach der Philosophie... nein, er habe keine philosophischen Relais in seinem Kopf.

Nun, vielleicht war das eine wunde Stelle oder der Wunsch, das Gespräch nicht auf einer rational-intellektuellen Ebene führen zu wollen. Iris ließ ihn gewähren. Völlig zu Recht, denn der neue Roman und die Wahrnehmungswelt des Clemens Setz sind auf eine revolutionäre Weise irr-rational und transhuman, sprachlich wie inhaltlich genialisch durchhaucht und durch und durch bestimmt von der augmented reality des Internets, der smartphones und ihrer applications.
Natürlich weiß Clemens Setz auch in einem rationalen Sinne, was er tut, und er kennt auch die deutschen Romantiker: Er hat Novalis’ Absetzung von den “Zahlen und Figuren” der Rationalisten ja klammheimlich in seinen Roman eingebaut (siehe das Ende meines gestrigen Blogbeitrags). Und zur Philosophie lässt er Natalie das Nötige sagen. Sie findet im Zimmer des von ihr betreuten Behinderten Bertrand Russells „Philosophie des Abendlandes“, nimmt das Buch mit, blättert darin und denkt verwundert:

„Warum schrieb jemand über solche Themen ein so dickes Buch? Dann googelte sie Bertrand Russell. Sie fand seinen Kopf interessant, seinen intensiven, kecken Blick. Philosoph und Mathematiker. Man könnte einen Stängel in diesen adeligen Kopf stecken und ihn als Lutscher verkaufen“ (S. 312).

Warum schreibt Clemens Setz über solche Themen ein so dickes Buch? Weil es so noch nie vor ihm jemand gemacht hat.
Es war ein schöner, humorvoller und tief beeindruckender Abend mit einem überwiegend jungen Publikum. Lang anhaltender Applaus!

Clemens Setz, Die Stunde zwischen Frau und Gitarre. Ein Lesetagebuch (5) - Der Takt der Buchseiten

Ich bin jetzt auf Seite 564 von 1019 angelangt, die Augen werden müde, mein Kopf ist heiß, der Wahn blitzt durchs Hirn, und ich erinnere mich an ein Kapitelende vom Anfang, in dem Clemens Setz eine besonders geniale Dimensionsverschränkung untergebracht hat.

Ich bin jetzt mal eben Natalie:

„Natalie legte den Arm über ihren müde und heiß gewordenen Kopf. Durch den sanften Druck auf die Augenhöhlen blitzten an den Rändern Lichter auf, delfinförmig. Später Abend stellte sich allmählich ein. Sie ging ihre weiteren Optionen durch, essen, staubsaugen, streunen. Draußen fuhren Autos vorbei, nicht viele, aber immer wieder eines, und es geschah genau im selben Takt, in dem Buchseiten umgeblättert werden” 
(Clemens Setz, Die Stunde zwischen Frau und Gitarre, S. 59)


Clemens Setz, Die Stunde zwischen Frau und Gitarre. Ein Lesetagebuch (6) - Das Katzenuniversum

Bei der Suche nach Belegen für Iris Radischs Ausruf “Universalpoesie” finden sich in “Die Stunde zwischen Frau und Gitarre” zutiefst romantische Passagen, die in einem Spannungsbogen durch den ganzen Roman reichen und miteinander verbunden sind. Auch hier wieder die Dimensionsverschränkung:

“Vom Fenster aus sah sie den Kater, ja, das war er, da auf dem hellen Steinboden des Nachbargartens. Und neben ihm noch eine Katze. Und da drüben auch eine. Wie Sterne am Abend nahm die Zahl der dösenden Katzen in einem sommerlichen Ausschnitt der Welt zu, je länger man hinblickte. Eine stille Parallelbevölkerung der Gärten, mit ihren bevorzugten Farbhintergründen verschmelzend, jedes Tier in scheinbarer Unkenntnis der anderen, aber in Wirklichkeit sich all der anwesenden Artgenossen stets bewusst. Wenn sie still saßen, war dies das Endbild eines längeren Konflikt, vielleicht war die Nacht von Kämpfen erfüllt gewesen. Natalie machte sich fertig für die Arbeit” (S. 156).

Und 500 Seiten später noch einmal anders herum:

 “Der Zufall wollte es, dass in diesem Augenblick das Licht eines frühen Abendsterns vom Fenster aus zu sehen war. Je länger man hinschaute, desto mehr wurden es. Sterne. Wie Katzen in Sommergärten. Natalie hatte das Gefühl, gleich in Ohnmacht fallen zu müssen. Es ist nur meine Fantasie, dachte sie. Es ist ja nicht echt. Nur die Dunstglocke über der Stadt bewirkt, dass sie flimmern. Wie dieser Stern, da, über dem Dach des Nachbarhauses. Wie die Diode auf dem Modem im Nachtdienstkämmerchen. Trotzdem: Er flimmerte. Und jemand hier unten auf der Erde dachte, und das Flimmern dieser beiden Wellen überschnitt sich zweifellos, das eine zeigte das andere an, ohne es zu wissen. Natalie zog die Vorhänge zu” (S. 648).


Clemens Setz, Die Stunde zwischen Frau und Gitarre. Ein Lesetagebuch (7) – „You are the wind beneath my wings“

Mein Lesetagebuch hat große Konkurrenz bekommen: Der Suhrkamp Verlag hat unter der Leitung des Literaturwissenschaftlers Guido Graf vierzig Autoren angeworben, die seit gestern hundert Tage lang ihre Eindrücke von der Lektüre des riesigen Romans von Clemens Setz vermelden werden.

Das Blog ist unter der Adresse www.frau-und-gitarre.de erreichbar. Es steht – nach Anmeldung und Kontrolle des Beitrags – auch allen anderen Lesern des Buches für Kommentare zur Verfügung. Doch damit nicht genug: Bei www.sobooks.de gibt es die digitale Fassung des Romans, in der sich Wörter suchen, Zitate markieren und kommentieren lassen.

Ich werde natürlich mit meinem eigenen Leseblog fortfahren. Als sehr nützlich empfinde ich aber die Suchfunktion bei Sobooks, die mir viel Arbeit erspart.

Ein Beispiel: Im Roman spielen viele Formen von Stalking, von Verfolgen und Verfolgt Werden eine Rolle. So wird Natalie von einem Ohrwurm geplagt, den sie über achthundert Seiten hinweg nicht mehr los wird. Es ist eine bestimmte Zeile aus einem Lied von Bette Midler. Dabei fällt ihr ein Wort nicht ein: “You are the irgendwas beneath my wings” (und sie ersetzt dieses Wort immer wieder durch irgendein anderes).

“Merkwürdig und gespenstisch klang diese unfreiwillige Stimme, die sich meldete und plötzlich, während man den Salat durchmischte, zu singen begann: You are the irgendwas beneath my wings. Fremdgesteuert durch Musik wie durch einen dieser Super-Parasiten, der in den Kopf einer Ameise eindringt und sie aushöhlt, bis er in ihr herumfährt wie in einem  gepanzerten Tankfahrzeug” (S. 214f.).

Zweiundzwanzigmal taucht dieser Ohrwurm im Roman auf; erst die letzten drei Male in den Neunhunderter-Seiten in der korrekten Fassung: “You are the wind beneath my wings“.

Das konnte ich mit der Suchzeile bei Sobooks jetzt ganz einfach für das ganze Buch auflisten lassen. Leider ist die Seitenzählung in der digitalen Fassung eine andere als in der Druckversion. Aber trotzdem: Thank you so, Sobooks. You are the wind beneath my wings!

Was es mit dem Wind unter Natalies Flügeln auf sich hat, kann ich leider noch nicht sagen. Ich muss ja noch vierhundert Seiten lesen. 


Clemens Setz, Die Stunde zwischen Frau und Gitarre. Ein Lesetagebuch (8)

„Natalie fiel ein Stein aufs Herz“ (S. 849}.


Clemens Setz, Die Stunde zwischen Frau und Gitarre. Ein Lesetagebuch (9)

Aus die Maus!

Ich hab‘ es durch! 1019 Seiten in vierzehn Tagen. 

Die Maus ist tot. Natalies Kater hat sie erwischt. Und noch jemand ist tot. Natalie hat überlebt.

Und ich habe jetzt alle Zeit der Welt, um über sie nachzudenken. Heute fiel mir auf, dass sie große Ähnlichkeit mit den Indigokindern aus Setz´ vorigem Roman hat. Auch sie gehört ja der Generation der nach 1990 Geborenen an, die mit Internet und Smartphone aufgewachsen ist. Das iPhone ist Teil ihrer Person geworden. Im Epilog, der zwei Jahre nach der Haupthandlung spielt , ist Natalie Teil einer utopischen Gemeinschaft, einer „Community“ von „Peers“, die sich über eine App, das „id“, etabliert.


Der Roman ist die Geschichte einer ungewöhnlichen Rache und einer ungewöhnlichen jungen Frau, die zwischen die Exponenten dieser Rache gerät. Eines der beiden Mottos am Anfang handelt von Rache, das andere von Ezra Pounds „luminous details“: zwei vorangestellte Rätsel, eins zum Inhalt, eins zur Form, die der Leser lösen darf.


Dazu morgen mehr.

Clemens Setz, Die Stunde zwischen Frau und Gitarre. Ein Lesetagebuch (10) – Jenseits des Familienromans: Luminous Details

Als zweites Motto für seinen Roman hat Clemens Setz einen Halbsatz von Ezra Pound gewählt: „…varying the fashions, but the luminous details remain unaltered“. Das Zitat stammt aus Pounds theoretischer Artikelserie „I gather the limbs of Osiris“ von 1911/12.

„The method of the Luminous Detail“ ist ein zentraler Begriff in der Poetologie von Pound, die er als „new method of scholarship“ versteht. Er charakterisiert sie als “a method most vigorously hostile to the prevailing mode of to-day that is, the method of multitudinous detail, and to the method of yesterday, the method of sentiment and generalisation” (“Osiris 2,” 130).


Die „Leuchtenden Details“ sind laut Pound ein Ausdruck „transhistorischer und transzendentaler kreativer Energie“, mit der sich Wörter aufladen lassen wie mit einem elektrischen Strom. Diese Fähigkeit ist in jeder Generation nur wenigen genialen Poeten gegeben. Pound setzt die leuchtenden Details ab gegen die vorherrschende Methode seiner Zeit, die „multitudinous details“.

Clemens Setz hat – nicht unbescheiden - in „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ diese beiden „Methoden“ zitiert, um seine eigene Poetologie zu kennzeichnen und gegen die herrschende Methode unserer Zeit abzusetzen. Als typischen Repräsentanten der „vielen kleinen Details“ sieht er John Updike.

Es muss ein bisschen schwierig für Setz gewesen sein, diese intellektuelle und abstrakte Betrachtung glaubwürdig in seinen Roman einzubringen: Natalie ist keine Intellektuelle. Mit Literaturwissenschaft hat sie nichts zu tun. Sie liest am liebsten Stephen King. Aber ihr Freund Markus studiert Literatur und kennt den Begriff „Luminous Details“ aus dem Seminar, missversteht ihn aber in der Anwendung auf seinen Lieblingsautor John Updike. Er versucht, Natalie dazu zu bringen, Updike zu lesen. Nach ein paar Kurzgeschichten gibt sie ihm die Bände zurück:

„- Hat´s dir nicht gefallen?

Er schien mehr als besorgt, beinahe angewidert.

- Ach, es ist immer so, dass… irgendjemand lässt sich scheiden, und dann haben sie Kinder zusammen, und dann gehen sie zusammen Schilaufen, und dann passiert da allerhand, und der Wald ist da, und es ist so still im Wald wie das Altern, das ein Mann fühlt, und… und es ist immer ein Mann, der bemerkt, wie viel lebendiger Frauen sind, und dann ist da ein Hase und… und der Hase steht für das Leben, das weitergeht durch die Generationen-

- He, warte mal –

- wie ein großer Fluss! Und dann ist da ein altes Farmhaus, in dem andauernd Erinnerungen vor sich gehen, auf dem Dachboden, und, ach, die Vergangenheit ist sowieso überall, und außerdem kommt es dann zu einer Aussöhnung zwischen Vater und Sohn, und die kleinen Details sind überall (Hervorhebung von mir, P.G.) und natürlich auch der Sternenhimmel, dauernd der Sternenhimmel (S. 446f.).“


Natalies Tirade zu Updike geht noch eine Weile weiter und sie beendet sie mit dem Satz: „Ehrlich, Markus, das ist, also, weißt du, es ist einfach nicht mein Fall.“ Das Kapitel endet, Seiten später, mit den Worten „Armer toter Updike“.

Nein, John Updikes psychologischen Familienromane sind nicht Natalies - und auch nicht des Autors - Fall. „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ ist Clemens Setz´ Absetzung gegen den psychologischen Realismus der großen Amerikaner, mit der er bereits in „Indigo“ (2012) begonnen hat.

Was ist bei ihm anders? Was sind seine „Luminous Details“? Er zitiert allein schon den theoretischen Begriff im Laufe des Romans sechsmal; und mehrfach auch die „sinnlosen kleinen Details“. Wie wendet er die Methode an? Dazu demnächst mehr.

Clemens Setz, Die Stunde zwischen Frau und Gitarre. Ein Lesetagebuch (11) – Besprechung auf SRF/3Sat

Bei meinem TV-Provider in Groningen habe ich leider keinen Zugang zum Schweizer Fernsehen und dem deutschen Kultursender 3Sat. So fiel mir erst heute auf, dass dort im Literaturclub am 15. September (SRF) und am 20. September (Wiederholung auf 3Sat) der neue Roman von Clemens Setz besprochen wurde.
Die Sendung ist in der Mediathek von 3Sat noch zugänglich. Die vier Kritiker zollen dem Autor einhellig überschwängliches Lob für "Die Stunde zwischen Frau und Gitarre". Rüdiger Safranski preist insbesondere den meisterhaften Stil des Autors als „die allerletzte Bastion gegen den alltäglichen Wahnsinn“.
Die Besprechung des Buches beginnt in Minute 55:00 und dauert eine Viertelstunde.
Auch Jonathan Franzens neuer Roman „Purity“ („Unschuld“) wurde besprochen (Beginn Minute 38:20).


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