Auf meiner Reise nach Den Haag im Dezember hatte ich mir Ard Posthumas Auswahl und Übersetzung der kurzen Geschichten aus Franz Kafkas Nachlass mitgenommen: „In het labyrint“ (Koppernik 2022; siehe meine Rezension in TZUM). Viele dieser in den unübersichtlichen Bänden „Nachgelassene Schriften und Fragmente I und II“ (New York 1992/1993) verborgenen Texte hatte ich auch auf Deutsch noch nie gelesen.
Einem der Texte hat Ard den Titel „Het Zinkgat“ gegeben. Das Wort war mir noch nie begegnet. Das machte mich neugierig auf den deutschen Text: Dort steht „Versenkung“, was auch wieder merkwürdig ist; ich hatte es noch nie in einer geologischen Bedeutung gesehen, nur im Sinne von „zum Versinken bringen“ und „Meditation“. Aber es handelt sich hier in der Tat um ein Loch mit Treibsand.
Im Niederländischen gab es für den Übersetzer wohl keine Wahl: es musste „Zinkgat“ werden, im Englischen hat man „hollow“ gewählt. Kafka hat im Deutschen wohl mit den drei möglichen Bedeutungen gespielt, um seiner Parabel zur Sexualangst vor dem weiblichen Geschlechtsorgan Tiefe zu geben.
Im Kunstmuseum in Den Haag sahen wir die Ausstellung von Nicole Eisenman (geb. 1965). In ihrem/seinem riesigen Bild „Mining II“ fiel mir ein Detail auf, das mich an Kafkas Geschichte erinnerte:
Detail aus dem Bild „Mining II“ von Nicole Eisenman |
Und nun die Geschichte von Kafka:
Atemlos kam ich an. Eine Stange war ein wenig schief in den Boden gerammt und trug eine Tafel mit der Aufschrift „Versenkung“. Ich dürfte am Ziel sein, sagte ich mir und blickte mich um. Nur ein paar Schritte weit war eine unscheinbare dicht mit Grün überwachsene Gartenlaube, aus der ich leichtes Tellerklappern hörte. Ich ging hin, steckte den Kopf durch die niedrige Öffnung, sah kaum etwas in dem dunklen Innern, grüßte aber doch und fragte:“Wissen Sie nicht wer die Versenkung besorgt?“ „Ich selbst, Ihnen zu dienen“, sagte eine freundliche Stimme, „ich komme sofort.“ Nun erkannte ich langsam die kleine Gesellschaft, es war ein junges Ehepaar, drei kleine Kinder, die mit der Stirn kaum die Tischplatte erreichten und ein Säugling, noch in den Armen der Mutter. Der Mann der in der Tiefe der Laube saß wollte gleich aufstehn und sich hinausdrängen, die Frau aber bat ihn herzlich, zuerst das Essen zu beenden, er jedoch zeigte auf mich, sie wiederum sagte, ich werde so freundlich sein und ein wenig warten und Ihnen die Ehre erweisen, an ihrem kargen Mittagessen teilzunehmen, ich schließlich, äußerst ärgerlich über mich selbst, der ich hier die Sonntagsfreude so häßlich störte, mußte sagen: „Leider leider, liebe Frau, kann ich der Einladung nicht entsprechen, denn ich muß mich augenblicklich, ja wirklich augenblicklich versenken lassen.“Ach“, sagte die Frau, „ gerade am Sonntag und noch beim Mittagessen. Ach die Launen der Leute. Die ewige Sklaverei.“ „Zanken Sie doch nicht so“, sagte ich, „ich verlange es ja von ihrem Mann nicht aus Mutwillen und wüßte ich wie man es macht, hätte ich es schon längst allein getan.“ „Hören Sie nicht auf die Frau“, sagte der Mann, der schon neben mir war und mich fortzog. „Verlangen Sie doch nicht Verstand von Frauen.“
(Franz Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente II, New York 1992, 376-377)
Nicole Eisenman, Mining II |
Schöner Stoff zu eindringlichen Gesprächen!