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Dienstag, 1. Juni 2021

Nietzsche (20): Textperspektiven bei Nietzsche - ein kleines Experiment

Ich schlage einen Perspektivenwechsel vor: Lasst uns Nietzsches Werke nicht aus philosophischer, historischer oder gegenwartskritischer Sicht lesen. Machen wir ein kleines Experiment: Lesen wir Nietzsche einmal als Germanisten und Literaturwissenschaftler…



Was stellen wir mit unserer langjährigen Schulung in der Analyse von Form und Inhalt von Texten dann schon sehr bald fest? Ja, genau: Nietzsche ist eine Art unzuverlässiger Erzähler. Er schreibt mal aus dieser, mal aus jener Perspektive, und wir wissen nicht, was er denn nun für richtig oder falsch hält. Bei Romanen geraten wir in solch einem Fall in professionelle Erregung mit dem Ziel, Form und Inhalt - je komplexer, desto besser - miteinander in Einklang zu bringen, auf weniger Gelungenes hinzuweisen und Vorgänger und Verwandtes in der Literatur zu identifizieren. 

Bei Nietzsche aber haben wir immer den Philosophen gesucht, seine eindeutig ideologische Systematik und die mutmaßlichen Folgen für das deutsche und internationale Unheilskontinuum! 

Die geniale Konstruktion, die Multiperspektivität und die sprachliche Brillianz, die wir bei der „schönen“ Literatur so preisen, muss beim „hässlichen“ Nietzsche außen vor bleiben. Was aber, wenn dort sich der „wahre“ Nietzsche befindet?

Also noch einmal: Betrachten wir Nietzsche versuchsweise mal als Erzähler! Wie macht er seine Texte? Was will er damit? Welche formalen Mittel benutzt er, und wie entwickeln sie sich? Wo hat er sie her? Was zeigt und was verbirgt er von seinen Vorbildern? Was ist neu bei ihm? Wieso kann man ihm nicht so begegnen wie den Philosophen vor ihm?

Ich probiere das heute an einem ganz kleinen Textbeispiel zu zeigen: dem Vorwort zu „Der Fall Wagner“. Neben „Götzendämmerung“ war „Der Fall Wagner“ eines der letzten beiden Werke, die Nietzsche 1888 in Turin noch bei klarem Verstand geschrieben und herausgegeben hat. Ihm war in dem Jahr klar, dass er sein angestrebtes Hauptwerk nicht mehr würde schreiben können. Seine Schwester hat es dann nach ihrem Gutdünken später unter dem Titel „Der Wille zur Macht“ aus seinem Nachlass zusammengestellt. Dabei handelte es sich um ihre eigene verzerrende und verfälschende Zusammenstellung seiner Texte, die das Bild Nietzsches in der Öffentlichkeit auf Jahrzehnte bestimmen sollte. 

Aber die beiden kleinen authentischen Schriften aus dem Jahr 1888 enthalten die Essenz von Nietzsches Denken und geben einen Eindruck von seiner Methode im Denken, Schreiben und Empfinden.

Nietzsche hatte sich zunächst jahrelang zutiefst mit der Ideenwelt und Musik Richard Wagners verbunden und auch persönlich mit Wagner und seinem Kreis verkehrt, um dann schließlich radikal mit ihm und seiner Welt zu brechen. In „Der Fall Wagner“ (KSA 6, 9-53) gibt er fünf Jahre nach Wagners Tod einen Rückblick auf dieses Verhältnis und stellt es in den größeren kulturellen Zusammenhang seiner Zeit, den er als „Dekadenz“ interpretierte.

Das Vorwort ist kurz genug, um es hier vollständig abzudrucken und mit Blick auf die „Erzählperspektive“, um die es mir hier geht, nachzuerzählen. Hier ist der Text:

Ich mache mir eine kleine Erleichterung. Es ist nicht nur die reine Bosheit, wenn ich in dieser Schrift Bizet auf Kosten Wagners lobe. Ich bringe unter vielen Späßen eine Sache vor, mit der nicht zu spaßen ist. Wagner den Rücken zu kehren, war für mich ein Schicksal; irgend etwas nachher wieder gernzuhaben, ein Sieg. Niemand war vielleicht gefährlicher mit der Wagnerei verwachsen, niemand hat sich härter gegen sie gewehrt, niemand sich mehr gefreut, von ihr los zu sein. Eine lange Geschichte! – Will man ein Wort dafür? – Wenn ich Moralist wäre, wer weiß, wie ich's nennen würde! Vielleicht Selbstüberwindung. – Aber der Philosoph liebt die Moralisten nicht... er liebt auch die schönen Worte nicht...

Was verlangt ein Philosoph am ersten und letzten von sich? Seine Zeit in sich zu überwinden, »zeitlos« zu werden. Womit also hat er seinen härtesten Strauß zu bestehn? Mit dem, worin gerade er das Kind seiner Zeit ist. Wohlan! Ich bin so gut wie Wagner das Kind dieser Zeit, will sagen ein décadent: nur daß ich das begriff, nur daß ich mich dagegen wehrte. Der Philosoph in mir wehrte sich dagegen.

Was mich am tiefsten beschäftigt hat, das ist in der Tat das Problem der décadence – ich habe Gründe dazu gehabt. »Gut und Böse« ist nur eine Spielart jenes Problems. Hat man sich für die Abzeichen des Niedergangs ein Auge gemacht, so versteht man auch die Moral – man versteht, was sich unter ihren heiligsten Namen und Wertformeln versteckt: das verarmte Leben, der Wille zum Ende, die große Müdigkeit. Moral verneint das Leben... Zu einer solchen Aufgabe war mir eine Selbstdisziplin vonnöten – Partei zu nehmen gegen alles Kranke an mir, eingerechnet Wagner, eingerechnet Schopenhauer, eingerechnet die ganze moderne »Menschlichkeit«. – Eine tiefe Entfremdung, Erkältung, Ernüchterung gegen alles Zeitliche, Zeitgemäße: und als höchsten Wunsch das Auge Zarathustras, ein Auge, das die ganze Tatsache Mensch aus ungeheurer Ferne übersieht – unter sich sieht... Einem solchen Ziele – welches Opfer wäre ihm nicht gemäß? welche »Selbst-Überwindung«! welche »Selbst-Verleugnung«!

Mein größtes Erlebnis war eine Genesung. Wagner gehört bloß zu meinen Krankheiten.

Nicht daß ich gegen diese Krankheit undankbar sein möchte. Wenn ich mit dieser Schrift den Satz aufrechterhalte, daß Wagner schädlich ist, so will ich nicht weniger  aufrechthalten, wem er trotzdem unentbehrlich ist – dem Philosophen. Sonst kann man vielleicht ohne Wagner auskommen: dem Philosophen aber steht es nicht frei, Wagners zu entraten. Er hat das schlechte Gewissen seiner Zeit zu sein – dazu muß er deren bestes Wissen haben. Aber wo fände er für das Labyrinth der modernen Seele einen eingeweihteren Führer, einen beredteren Seelenkündiger als Wagner? Durch Wagner redet die Modernität ihre intimste Sprache: sie verbirgt weder ihr Gutes, noch ihr Böses, sie hat alle Scham vor sich verlernt. Und umgekehrt: man hat beinahe eine Abrechnung über den Wert des Modernen gemacht, wenn man über Gut und Böse bei Wagner mit sich im klaren ist. – Ich verstehe es vollkommen, wenn heut ein Musiker sagt: »ich hasse Wagner, aber ich halte keine andere Musik mehr aus«. Ich würde aber auch einen Philosophen verstehn, der erklärte: »Wagner resümiert die Modernität. Es hilft nichts, man muß erst Wagnerianer sein...« 

 

Der Text beginnt unvermittelt mit dem „Ich“ des schreibenden Autors, der eine scheinbar unerhebliche und in ihrer Kontextlosigkeit zunächst unverständliche Aussage trifft: „Ich mache mir eine kleine Erleichterung.“ In den nächsten beiden Sätzen bringt er „Bosheit“ und „Späße” ins Spiel, kündigt aber an, dennoch über eine ernsthafte Sache schreiben zu wollen, mit der „nicht zu spaßen“ sei. Erst dann nennt er sein Thema: Wagner und sein Verhältnis zu ihm, „eine lange Geschichte“, (die in seiner Zeit dem gebildeten Publikum wohlbekannt war).

Auf der Suche nach einer treffenden Charakterisierung dieser Geschichte in einem Wort spaltet das Ich sich in einen imaginierten Moralisten und den Philosophen auf: der Moralist käme auf das Wort „Selbstüberwindung“, der Philosoph in ihm mag das Wort jedoch nicht.

 

Nach dem ersten Absatz haben wir also drei sich teilweise überschneidende und widersprechende Textperspektiven des „Ich“ vor uns sowie das Thema, um das es gehen soll.

 

Im zweiten Absatz wird das Verhältnis zwischen dem Ich und dem Philosophen, der Teil dieses Ichs ist, problematisiert: Der Philosoph will „zeitlos“ werden (ewig Gültiges sagen?). Dabei steht ihm das Ich im Wege, das – ebenso wie der thematisierte Wagner – ein „Kind dieser Zeit“ ist, ein – mit den Worten des Ich – décadent. Allerdings verfügt das Ich über Selbstreflexion und hat dieses erkannt und will es bekämpfen. Der Philosoph ist sein Mittel dazu.

 

Der dritte Absatz erklärt, was alles an der „décadence“ falsch ist und dass es dabei nicht nur um Wagner, sondern um „die ganze moderne Menschlichkeit“ gehe. Das Ich müsse die Selbstdisziplin finden, gegen dieses gehäufte „Kranke“ in seiner Zeit und also auch in sich selbst vorzugehen. Das höchste Mittel hierzu ist ihm „das Auge Zarathustras“, das „die ganze Tatsache Mensch“ aus höchster Höhe unter sich sieht. Diese Perspektive möchte das Ich erreichen, und da kommt noch einmal „die Selbst-Überwindung“ und „Selbst-Verleugnung“ des ungeliebten, weil auch zu überwindenden Moralisten ins Spiel. Die Genesung von all dem Kranken der Gegenwart, von dem die „Wagnerei“ ja nur ein Teil ist, scheint dem Ich gelungen zu sein. Der Philosoph in ihm kann allerdings noch nicht auf Wagner verzichten, denn Wagner ist der Kern der Modernität. Ohne Wagner ist sie nicht zugänglich. Er muss erst überwunden werden, um sie überwinden zu können.

 

Die Haupttextperspektive ist das „Ich“ Friedrich Nietzsche. Im Vorwort spaltet sich dieses Ich in mehrere sich widersprechende Teilmengen auf, deren Widersprüchlichkeit und Notwendigkeit vom Ich ausdrücklich bestätigt wird: das Ich, den Moralisten, den Philosophen, den zeitgebundenen Erzähler, den gleichfalls zeitgebundenen Philosophen, den über der Zeit stehenden Philosophen, Zarathustra, dem Auge von ganz oben, den kranken und den genesenen Erzähler.

 

Es ist deutlich, dass es aus jeder dieser Perspektiven eine andere Erzählung geben muss und dass all diese Erzählungen ihr Recht haben, das ihnen vom „Ich“ auch ausdrücklich zugestanden wird. Dies ist die Methode Nietzsche. Da dies das Vorwort für den darauf folgenden, formal und inhaltlich multiplen Text „Der Fall Wagner“ ist, darf man erwarten, dass die angekündigte Vielfalt dort wiederkehrt.

 

Das zu zeigen mache ich hier und heute noch nicht zu meiner Aufgabe.

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