Das lange Gedicht „Aus hohen Bergen“ steht als „Nachgesang“ am Ende des Buches „Jenseits von Gut und Böse“ (1886). Es ist, neben „Der Freigeist“/“Vereinsamt“ (siehe meinen Blogbeitrag Nietzsche 7), Nietzsches berühmtestes Gedicht:
Aus hohen Bergen. Nachgesang
O Lebens Mittag! Feierliche Zeit!
O Sommergarten!
Unruhig Glück im Stehn und Spähn und Warten: –
Der Freunde harr‘ ich, Tag und Nacht bereit,
Wo bleibt ihr, Freunde? Kommt! 's ist Zeit! 's ist Zeit!
War‘s nicht für euch, daß sich des Gletschers Grau
Heut schmückt mit Rosen?
Euch sucht der Bach, sehnsüchtig drängen, stoßen
Sich Wind und Wolke höher heut ins Blau,
Nach euch zu späh‘n aus fernster Vogel-Schau.
Im Höchsten ward für euch mein Tisch gedeckt –
Wer wohnt den Sternen
So nahe, wer des Abgrunds grausten Fernen?
Mein Reich – welch Reich hat weiter sich gereckt?
Und meinen Honig – wer hat ihn geschmeckt?...
– Da seid ihr, Freunde! – Weh, doch ich bin‘s nicht,
Zu dem ihr wolltet?
Ihr zögert, staunt – ach, daß ihr lieber grolltet!
Ich – bin‘s nicht mehr? Vertauscht Hand, Schritt, Gesicht?
Und was ich bin, euch Freunden – bin ich‘s nicht?
Ein andrer ward ich? Und mir selber fremd?
Mir selbst entsprungen?
Ein Ringer, der zu oft sich selbst bezwungen?
Zu oft sich gegen eigne Kraft gestemmt,
Durch eignen Sieg verwundet und gehemmt?
Ich suchte, wo der Wind am schärfsten weht?
Ich lernte wohnen,
Wo niemand wohnt, in öden Eisbär-Zonen,
Verlernte Mensch und Gott, Fluch und Gebet?
Ward zum Gespenst, das über Gletscher geht?
– Ihr alten Freunde! Seht! Nun blickt ihr bleich,
Voll Lieb und Grausen!
Nein, geht! Zürnt nicht! Hier – könntet ihr nicht hausen:
Hier zwischen fernstem Eis- und Felsenreich –
Hier muß man Jäger sein und gemsengleich.
Ein schlimmer Jäger ward ich! – Seht, wie steil
Gespannt mein Bogen!
Der Stärkste war‘s, der solchen Zug gezogen – –:
Doch wehe nun! Gefährlich ist der Pfeil,
Wie kein Pfeil, – fort von hier! Zu eurem Heil!...
Ihr wendet euch? – O Herz, du trugst genug,
Stark blieb dein Hoffen:
Halt neuen Freunden deine Türen offen!
Die alten laß! Laß die Erinnerung!
Warst einst du jung, jetzt – bist du besser jung!
Was je uns knüpfte, einer Hoffnung Band –
Wer liest die Zeichen,
Die Liebe einst hineinschrieb, noch, die bleichen?
Dem Pergament vergleich ich‘s, das die Hand
Zu fassen scheut – ihm gleich verbräunt, verbrannt.
Nicht Freunde mehr, das sind – wie nenn ich‘s doch? –
Nur Freund‘s-Gespenster!
Das klopft mir wohl noch nachts an Herz und Fenster,
Das sieht mich an und spricht: »wir waren‘s doch?«
– O welkes Wort, das einst wie Rosen roch!
O Jugend-Sehnen, das sich mißverstand!
Die ich ersehnte,
Die ich mir selbst verwandt-verwandelt wähnte,
Daß alt sie wurden, hat sie weggebannt:
Nur wer sich wandelt, bleibt mit mir verwandt.
O Lebens Mittag! Zweite Jugendzeit!
O Sommergarten!
Unruhig Glück im Stehn und Spähn und Warten!
Der Freunde harr‘ ich, Tag und Nacht bereit,
Der neuen Freunde! Kommt! 's ist Zeit! 's ist Zeit!
Dies Lied ist aus – der Sehnsucht süßer Schrei
Erstarb im Munde:
Ein Zaubrer tat‘s, der Freund zur rechten Stunde,
Der Mittags-Freund – nein! fragt nicht, wer es sei –
Um Mittag war‘s, da wurde Eins zu Zwei...
Nun feiern wir, vereinten Siegs gewiß,
Das Fest der Feste:
Freund Zarathustra kam, der Gast der Gäste!
Nun lacht die Welt, der grause Vorhang riß,
Die Hochzeit kam für Licht und Finsternis.
Das Gedicht ist seit dem Ende des 19. Jahrhunderts häufig interpretiert worden, allerdings meistens isoliert vom philosophischen Kontext zu „Jenseits von Gut und Böse“. Erst seit kurzem gibt es Versuche dazu. Dabei ist es durchaus deutlich, dass dieses Gedicht einen engen Bezug zu Nietzsches dritter Phase des Philosophierens in den großen Werken der achtziger Jahre herstellt, in der er alte Freunde verloren hat und sich vorstellt, neue zu finden. Dennoch bleibt es eine schwierige Lektüre.
Claus Zittel stellt in seinem Aufsatz* intertextuelle Bezüge zu Goethes „Zueignung“ am Anfang des „Faust“ her („Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten…“) sowie auch zur Kreuzigungsszene bei Matthäus und Lukas mit dem zerreißenden Vorhang im Tempel. Die Christus-Parallelen finden sich ja häufig bei Nietzsche. Mir scheint, dass dies noch konsequenter und ausführlicher analysiert werden müsste. Claus Zittel hat dazu nicht den richtigen Biss; Christian Benne, den ich von seiner Analyse von „Scherz, List, Rache“ (siehe Blogbeitrag Nietzsche 12) kenne, würde ich es zutrauen.
„Um Mittag war‘s, da wurde Eins zu Zwei“: in diesen Kulminationsmoment mündet das Gedicht. Lou Salomé spricht von der „Selbstspaltung, durch die der Erkennende auf sein eigenes Wesen und dessen Regungen und Triebe herabblicken kann wie auf ein zweites Wesen“ (Friedrich Nietzsche in seinen Werken, 148) und einige Seiten später:
„Ist dies doch der innere Proceß seiner Aneignung und Umschaffung des Neuen und Ungewohnten: dass er ihm Leben einhaucht, dass er ihm zu voller Lebensfülle verhilft. Man möchte sagen: Nietzsche wählt sich die düstersten Gedankenschatten aus, um sie mit seinem eigenen Blut zu nähren, um sie, sei es auch unter Wunden und Verlusten, zuletzt dennoch zu seinem eigenen lebendigen Selbst verwandelt zu sehen, zu seinem Doppel-Selbst“ (155).
"Der grause Vorhang riss": Vielleicht beginnt jetzt ein Schauspiel...: „Incipit tragoedia!“ - Die Tragödie beginnt! So endet Nietzsches vorheriges Werk „Die fröhliche Wissenschaft“ und so beginnt der „Zarathustra“.
Muss man das nun als ein Zeichen von Schizophrenie sehen oder als die Einführung des dialektischen Denkens in Nietzsches Erkenntnistheorie? Dazu möchte ich mich in einem eigenen Beitrag äußern.
*Claus Zittel, „In öden Eisbär-Zonen“. Die Schlussverse „Aus hohen Bergen. Nachgesang“ in: Marcus Andreas Born (Hg.), Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 2014, 207-236 (als e-book in der RuG-UB)
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