Cookie

Dienstag, 29. September 2020

Nietzsche (15): Der Vogel Specht

Der hundertjährige, Haus und Hof verdunkelnde Kastanienbaum in unserem Garten zieht seit kurzer Zeit einen besonderen Gast an: einen Groninger Grünspecht. Wir hatten mehrmals ein merkwürdiges TikTak gehört, das wir zunächst mit Bauarbeiten in der Umgebung verbanden, bis wir erkannten: „Das ist ein Specht!“. Und wir freuten uns über den neuen Vogel, der vielleicht sogar in einer Asthöhle der Kastanie ein Zuhause gefunden hat.


Grünspecht (Foto: Fokko Luppes)

Der Specht ist ein scheuer Vogel, und wir bekamen ihn einfach nicht zu Gesicht. Aber gestern ließ er sich auf einmal in unserem japanischen Kirschbaum sehen, schaute mich streng an und verschwand, bevor ich ihn fotografieren konnte. Das Foto zu diesem Beitrag habe ich zufällig am selben Tag über Facebook bekommen. Es bildet also nicht unseren Specht ab, aber an dessen Grünspecht-Identität besteht kein Zweifel.

 

Nun beschäftige ich mich dieser Tage mit Nietzsches Specht-Gedicht. Das kann ja wohl kein Zufall sein:

 

Dichters Berufung

Als ich jüngst, mich zu erquicken,
Unter dunklen Bäumen sass,
Hört’ ich ticken, leise ticken,
Zierlich, wie nach Takt und Maass.
Böse wurd’ ich, zog Gesichter, –
Endlich aber gab ich nach,
Bis ich gar, gleich einem Dichter,
Selber mit im Tiktak sprach.

Wie mir so im Verse-Machen
Silb’ um Silb’ ihr Hopsa sprang,
Musst’ ich plötzlich lachen, lachen
Eine Viertelstunde lang.
Du ein Dichter? Du ein Dichter?
Steht’s mit deinem Kopf so schlecht?
– “Ja, mein Herr, Sie sind ein Dichter”
Achselzuckt der Vogel Specht.

Wessen harr’ ich hier im Busche?
Wem doch laur’ ich Räuber auf?
Ist’s ein Spruch? Ein Bild? Im Husche
Sitzt mein Reim ihm hintendrauf.
Was nur schlüpft und hüpft, gleich sticht der
Dichter sich’s zum Vers zurecht.
– “Ja, mein Herr, Sie sind ein Dichter”
Achselzuckt der Vogel Specht.

Reime, mein’ ich, sind wie Pfeile?
Wie das zappelt, zittert, springt,
Wenn der Pfeil in edle Theile
Des Lacerten-Leibchens dringt!
Ach, ihr sterbt dran, arme Wichter,
Oder taumelt wie bezecht!
– “Ja, mein Herr, Sie sind ein Dichter”
Achselzuckt der Vogel Specht.

Schiefe Sprüchlein voller Eile,
Trunkne Wörtlein, wie sich’s drängt!
Bis ihr Alle, Zeil’ an Zeile,
An der Tiktak-Kette hängt.
Und es giebt grausam Gelichter,
Das dies – freut? Sind Dichter – schlecht?
– “Ja, mein Herr, Sie sind ein Dichter”
Achselzuckt der Vogel Specht.

Höhnst du, Vogel? Willst du scherzen?
Steht’s mit meinem Kopf schon schlimm,
Schlimmer stünd’s mit meinem Herzen?
Fürchte, fürchte meinen Grimm! –
Doch der Dichter – Reime flicht er
Selbst im Grimm noch schlecht und recht.
– “Ja, mein Herr, Sie sind ein Dichter”
Achselzuckt der Vogel Specht.

 

 

Schon 1882 standen die ersten beiden Strophen dieses Gedichts unter dem Titel „Vogel-Urtheil“ (siehe meinen Beitrag Nietzsche 6) am Ende der „Idyllen aus Messina“. In die Neuauflage der „Fröhlichen Wissenschaft“ von 1887 hat Nietzsche als Ausklang den Zyklus „Lieder des Prinzen Vogelfrei“ aufgenommen, 14 Gedichte, die zum Teil Bearbeitungen früherer Fassungen sind. Das Specht-Gedicht hat er sogar auf insgesamt sechs Strophen erweitert und an den Anfang des Zyklus gestellt. Das Ganze ist ein Spiel mit parodistischen Formen und ironischen Anverwandlungen, in diesem Fall mit Edgar Allan Poe’s Gedicht „The Raven“: Dort wie hier sitzt ein einsamer Ich-Erzähler im dunklen Raum und erhält von einem Vogel ein bestätigendes Echo auf seine selbstquälerischen Umtriebe und seine Angst. Dem stets wiederholten „Quoth the Raven: ‚Nevermore‘“ entspricht bei Nietzsche das „Ja, mein Herr, Sie sind ein Dichter/Achselzuckt der Vogel Specht“ am Ende jeder Strophe.

 

Von Raben ist bekannt, dass sie sprechen können. Nietzsche lässt seinen Specht mit einem Achselzucken antworten (wobei wir die Frage, wie dieser Gestus in der Vogelanatomie aussieht, jetzt außer Acht lassen). Ungewöhnlich ist daran, dass Nietzsche hier den gestischen Evidentheitsmarkierer des „Achselzuckens“ einfach in konjugierter Form als Verb des gestischen Sprechens benutzt und mit einem gesprochenen Satz verbindet: "Ja, mein Herr, Sie sind ein Dichter."

 

Es möge deutlich sein, dass Nietzsche mit diesem poetologischen Gedicht seinem Philosophieren die Dichtkunst gleichwertig zur Seite stellt beziehungsweise sie auf ambivalente und ambitionierte Weise damit verknüpft.


Unter modernen Nietzsche-Philologen setzt sich mehr und mehr die Einsicht durch, dass die von Nietzsche bewusst in einen kompositorischen Zusammenhang gestellten formal-lyrischen und formal-philosophisch/prosaischen Formen in einem hermeneutischen Kontext gesehen werden müssen. Jahrzehntelang hat man "Die fröhliche Wissenschaft" unter Ignorierung des lyrischen Vor-Spiels "Scherz, List und Rache" (siehe meinen Beitrag Nietzsche 12)  und des Anhangs "Lieder des Prinzen  Vogelfrei" interpretiert. Wenn das jetzt endlich geschieht, wird auch klar, dass darüber hinaus Nietzsches Gesamtwerk von seiner Kommunikationstheorie her neu betrachtet werden muss. Dazu gehören die Kategorien Textstrategie, Literarizität, Dialogizität, Performativität, Polyperspektivität und bewusste Widersprüchlichkeit. Wieder einmal zuviel für mein Blog. Aber kommt Zeit, kommt Nietzsche!


Der von Katharina Grätz und Sebastian Kaufmann herausgegebene Sammelband "Nietzsche als Dichter" (2017; als e-book in der RuG-UB) enthält hierzu eine Reihe weiterführender Artikel.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen