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Mittwoch, 9. September 2020

Nietzsche (12): "Scherz, List und Rache". Der Anfang der poetischen Philosophie

1882 gab Nietzsche sein Buch „Die fröhliche Wissenschaft“ heraus, samt einer Einleitung unter dem Titel „ ‚Scherz, List und Rache‘. Ein Vorspiel in deutschen Reimen“.

Dieses Vorspiel enthält 63 kurze Gedichte: der Form nach einfache Lieder, Spruchdichtung und allerlei Mischformen mit Parodie, Wortwitz und Ironie. Der Titel ist aus Goethes Singspiel gleichen Namens abgeleitet, das Nietzsche aus der Vertonung durch seinen Freund Peter Gast (eigentlich: Heinrich Köselitz) kannte.

 

Lou Andreas-Salomé, die in dem Jahr ihre intensivste Freundschaftsphase mit Nietzsche hatte, geht in ihrem Buch „Friedrich Nietzsche in seinen Werken“ (1882/1894), das viele Spezialisten noch immer für eines der besten Nietzsche-Bücher halten, auf dieses „Vorspiel“ ein:

 

„Dieser Verbindung von tiefer Erschütterung und spielendem Uebermuth, von Tragik und Heiterkeit, welche für die ganze Gruppe der letzten Werke charakteristisch ist, entspricht es auch, dass die ‚Fröhliche Wissenschaft‘, im schärfsten Gegensatz zu dem dunklen Geheimnis der Schlussworte, ein ‚Vorspiel‘ in Versen besitzt, ‚Scherz, List und Rache‘. Hier begegnen uns zum ersten Mal Verse in Nietzsches Schriften, - sie mehren sich aber in dem Maße, als er seinem persönlichen Untergang zuzuschreiten glaubt. In Gesängen klingt sein Geist aus. Die Verse sind überraschend verschieden an Werth, zum Theil vollendet: Gedanken, die an ihrer eigenen Schönheit und Fülle sich zu Gedichten wandelten; - zum Theil von einer so wunderlichen Unvollkommenheit, wie sie nur die Laune des Muthwillens vom Zaune bricht. Ueber ihnen allen aber ruht etwas seltsam Ergreifendes: Sind es doch die Blumen, die sich ein Einsamer auf den Leidensweg streut, der seiner harrt, um den Schein zu erwecken, dass es ein Freudenweg sei. Frisch gebrochenen Rosen gleichen sie, auf die sein Fuss treten will, während er schon beschäftigt ist, in seinen leidvollsten Erkenntnissen seinem Haupt die Dornenkrone zu flechten“ 

(Lou Andreas-Salomé, Frankfurt am Main 1983, 180f.).




Die Rosen begegnen uns auch in einem der Gedichte:

 

Meine Rosen

 

Ja, mein Glück, es will beglücken,

alles Glück will ja beglücken.

Wollt ihr meine Rosen pflücken?

Müßt euch bücken und verstecken

zwischen Fels und Dornenhecken,

oft die Fingerchen euch lecken!

Denn mein Glück es liebt das Necken!

Denn mein Glück es liebt die Tücken!

Wollt ihr meine Rosen pflücken?

 

Lou Salomé spricht von einer (teilweisen) „wunderlichen Unvollkommenheit“ der Gedichte und von einer „Laune des Muthwillens“ bei Nietzsche.  Auch sie, die doch als erste auf diese neue Verbindung von Poesie und Philosophie hingewiesen hat, sieht nicht die Gesamtkomposition der 63 Texte, sie will die Rosen sehen, aber nicht die Dornenhecken, sie will das Glück und versteht nicht das Necken und die Tücken. So ging es auch mehr als hundert Jahre lang den deutschen Nietzsche-Forschern: das poetische Vorspiel zur „Fröhlichen Wissenschaft“ wurde weitgehend ignoriert und blieb unverstanden. Es passte in seiner Art nun einmal nicht in die philosophische Zunft, und die Philologen, die hiermit doch Erfahrung hatten, hielten sich ehrfürchtig oder überfordert zurück. Dabei geht es doch um nichts anderes als um die Ouvertüre einer Oper, in der die wichtigsten Motive des angekündigten Werkes vorbeikommen und kurz berührt werden …

 

Erst seit ein paar Jahren erhalten Nietzsches Gedichte mehr Aufmerksamkeit. Und was „Scherz, List und Rache“ betrifft, gibt es seit 2015 eine wahrhaft bewundernswerte und augenöffnende Gesamtanalyse des Kopenhagener Germanisten Christian Benne (die Philologen haben also durchaus noch eine Chance!):

 

„Nicht mit der Hand allein: ‚Scherz, List und Rache‘. Vorspiel in deutschen Reimen“, in: Christian Benne und Jutta Georg (Hg.), Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, 2015, 29-51 (als e-book in der RuG-UB).

 

Dazu fehlt hier im Blog der Raum. Ich beende diesen Beitrag mit einem der Gedichte:

 

Meinem Leser

 

Ein gut Gebiss und einen guten Magen –

Diess wünsch ich dir!

Und hast du erst mein Buch vertragen,

Verträgst du dich gewiss mit mir!







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