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Montag, 15. August 2016

Poetologie des Blogs (1-14)

Und hier sind noch einmal, schön aneinandergereiht, die vierzehn Beiträge, die ich 2012 zu einer "Poetologie" des Blogs gepostet habe. Ich selbst habe sie gerne wieder gelesen - und bekomme sofort Lust, die Reihe fortzusetzen...




Poetologie des Blogs (1): In der Kürze liegt die Würze

In einem Merkur-Artikel vom April 2010 beschäftigt sich Michael Esders mit dem Aphorismus im politischen Marketing. Die modernen Medien zwingen zur Kürze. Das kann man negativ beurteilen: Kürze ist Vereinfachung, die Darstellung komplexer Zusammenhänge ist nicht mehr möglich, oft wird über aus dem Zusammenhang gerissene Zitate geklagt.
Das lässt sich aber auch positiv darstellen: in der klassischen Rhetorik wird die „brevitas“ gepriesen: wem es gelingt, konzis, knapp, verdichtet zu schreiben, erreicht sein Publikum besser und erzeugt größere Aufmerksamkeit. Die Gattung des Aphorismus als kurze, präzise und effektorientierte Form zeugt davon.

 Speziell zum Blog schreibt Esders nur einen Satz: „Das Zitat ist eine der wichtigsten Funktionalitäten von Webforen, und in Blogs machen oft nur knapp kommentierte ‚Quotes‘ nicht selten die Substanz der Texte aus“ (Merkur Nr. 731, 361). Ergänzend dazu verweist er darauf, dass die Hyperlinkstruktur des Internet es ermöglicht, auch bei minimalem Wortgebrauch auf vorhandene Kontexte zu verweisen oder neue Kontexte zu erzeugen. Als komplementäres Phänomen zur „sentenziösen Kommunikation“  sieht Esders die von ihm bereits in anderem Zusammenhang (siehe den vorigen Beitrag) konstatierten Formen des Storytelling.

Das regt mich an, mit einer kleinen Reihe von Beiträgen zur Poetologie des Blogs zu beginnen. Ich benutze mein eigenes Blog als Analysematerial und schreibe auch meine eigenen Beobachtungen auf. Eine erste Feststellung zur Länge der Beiträge: sie reicht von einem – zitierten – Satz mit einem halben Dutzend Wörtern bis zu Texten von etwa 500 Wörtern. Als eine Art Standardlänge haben sich meine Beiträge auf einen Umfang zwischen 150 und 300 Wörtern eingependelt.
Das erscheint etwas banal für den Anfang, aber da ich die Standardlänge in diesem Beitrag bereits zu überschreiten drohe, stoppe ich jetzt.



Poetologie des Blogs (2): Hilfe von Botho Strauß


Botho Strauß‘ Buch Vom Aufenthalt (2009) besteht aus kurzen reflektierenden Prosastücken von zwei Zeilen bis zwei Seiten Länge, manchmal kryptisch, manchmal klar, manchmal erzählend wie eine Szene aus einem Roman, manchmal autobiografische Splitter. Immer wieder wird deutlich, dass es ein Buch über das Altern ist, über das Vergehen von Zeit und den Umgang mit dem Faktum, dass der individuelle Vorrat von Zeit mit jedem Tag zu Neige geht oder anders herum gesagt, dass der individuelle Schatz an gelebter Zeit von Tag zu Tag wächst.

Die Form dieses Buches ähnelt der Form des Blogs: die kurzen Einträge, in denen der Schreibende eine persönliche Reflexion zu einer vergangenen oder gegenwärtigen Wahrnehmung, Überlegung, Erkenntnis in Bezug auf die Gesellschaft in der wir leben und das eigene Leben in ihr formuliert. Im Unterschied zum Blog geschieht dies oft programmatisch in gewählter, kryptischer, dunkler Sprache: ein gewollter Tribut an die Literarizität dieser Texte, ein romantischer Versuch, das Banale zu erhöhen.

Als ich vor einigen Jahren mit dem Bloggen anfing, habe ich es als einen Akt des Jungbleibens verstanden, als täglich vollzogene kleine Akte der wachen Wahrnehmung der Gesellschaft um uns herum, immer präsentiert aus einer persönlichen Perspektive heraus. Und so ganz falsch ist das ja auch nicht. Nur dass ich zunächst darauf bestanden habe, dass ich das sozusagen als Jugendlicher, als Junggebliebener tun wollte. Ich musste erst darauf hingewiesen werden, dass ich de facto aus einer Altmännerperspektive schreibe und das weder verbergen kann noch muss.


Es ist ein Fischen nach Zeit, ein Aussieben der Echtzeit, um an die kostbaren Zeitkörner heranzukommen, sie hin- und her zu wenden und in ihrem Glanz die Zeit doppelt und dreifach zu erleben, das Vergehen der Zeit auszubremsen, einen Aufenthalt im Prozess der Alterns zu erwirken: das ist auch der Sinn hinter dem Titel des Buches von Strauß.

Wahrscheinlich war Proust unter den Menschen einer der dankbarsten. Er hat das Gewesene nicht einfach unter Schluchzern begraben sein lassen. Er hat sich gesagt, ein solch wunderbares Geschenk, gelebt zu haben, lässt sich nicht stumm kassieren. Man muss es in allen Einzelheiten festhalten, Revue passieren lassen, es wiederum sichten, rekapitulieren, um sich erst richtig zu wundern. Er hat etwas getan, was jeder von uns tun müsste, um nicht am Einmaligen (des Lebens) zu krepieren.

Botho Strauß, Vom Aufenthalt, München 2009, 73

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit: das Blog ist mein Fundbüro.




Poetologie des Blogs (3): Alles auf einmal!

Beim Weiterlesen in Vom Aufenthalt fand ich diese Passage, die sich wie ein Beitrag zur Form des Blogs lesen lässt (jedenfalls so wie ich mir das vorstelle):

Ich nehme an, dass die meisten Menschen ihr Leben nicht unter ein Thema stellen. Was ihnen zur Hauptsache wird, wechselt mit den Jahren, manchmal mit den Wochen. Sie sind, aufs Ganze gesehen, multithematisch. Das ist die tiefere Verbindung, die dies lasterhafte Schreiben zu ihnen, zum Leben selbst unterhält, das ebenfalls nicht formlos ist, nur weil es weder geschlossene Geschichten, noch ein Hauptthema kennt, sondern seine Formen und Figuren in bizarrer Streuung entwirft, wie Eisenspäne sich ordnen im Magnetfeld, und die Späne sind die Bilder und Bewandtnisse, Erinnerungen, Träume, Reflexionen, Idiosynkrasien und Sentimentalitäten! O dies Alles auf einmal! Totum simul! O dies Drunterunddrüber! Es zu ordnen hieße eine lebendige Ordnung zerstören.

Botho Strauß, Vom Aufenthalt, München 2009, 91f.

Totum simul! Alles auf einmal! Ein schönes Motto für dieses Blog!


Poetologie des Blogs (4): Mix und Remix

Ein besonderes Merkmal kommunikativer Websites und insbesondere von Blogs ist der Mix und Remix neuer und/oder bereits digital existierender Produkte aller Text-, Bild- und Audiogattungen. Ein ständiges Zitieren und Weiterreichen von Fragmenten in neuen Kontexten ist charakteristisch fürs Bloggen. Ich bin bereits im Beitrag Poetologie des Blogs 1 darauf eingegangen.

Und ausgehend von der Lektüre von Botho Strauß‘ Vom Aufenthalt meine ich, Verwandtes bei ihm gefunden zu haben, obwohl er sich wahrscheinlicher lieber mit dem frühromantischen Fragmentarismus verbunden sieht.

Über ein Zitat in einem anderen Zusammenhang bin ich auf Peter Glasers Artikel Kulturelle Atomkraft gestoßen, in dem er sich mit dem Phänomen Mix und Remix beschäftigt. All dies zusammen verdichtet sich langsam zu einer essentiellen Poetologie des Blogs:

„Nicht zuletzt das Remix-Phänomen weist auf den instabilen Zustand hin, in dem sich die ganze Entwicklung derzeit befindet. Remixt werden Fragmente. Filmstücke, Soundschnipsel, Splitter anderer Kulturobjekte, die zu neuen Formen zusammengesetzt werden. Musik, Texte, Bilder, Filme, aber auch modulare Software oder enzyklopädisches Wissen befinden sich in der digitalen Welt in einem Zustand latenter Zerlegung. Die althergebrachten kulturellen Molekülverbindungen - die komplexen Formen, die sie über Jahrhunderte angenommen haben - werden nun aufgeknackt, oder sie zerfallen von ganz alleine wieder in ihre Grundbestandteile.“ (Glaser, Kulturelle Atomkraft)

Das ist der Punkt, an dem die Kulturpessimisten anfangen zu jammern: alles geht den Bach runter! Glaser bleibt hier nicht stehen, er sagt es schon: die Dinge werden „zu neuen Formen zusammengesetzt“. Es lohnt sich, seinen Artikel ganz zu lesen.
Peter Glaser unterhält übrigens selbst mit seiner Glaserei auch ein sehenswertes Blog bei der Stuttgarter Zeitung.


Poetologie des Blogs (5): Das große Kulturspiel

Am Ende seines ansonsten sehr lesenswerten Artikels Kulturelle Atomkraft erlaubt sich Peter Glaser einen eher unbeholfenen Bildbruch: „Leute, schmiedet neue Moleküle! Lasst die digitalen Bunsenbrenner glühen!“
Nachdem er die kulturelle Ursuppe mit molekularen Metaphern beschrieben hat, nun dies! Und gerade an dem Punkt, wo es spannend wird, beim Instrumentarium, das uns zu den neuen Kulturformen im WWW verhelfen soll: ein Bunsenbrenner! Mein Gott!!
Hier ein Gegenvorschlag: Woran erinnert das folgende Zitat?

„Das Glasperlenspiel ist also ein Spiel mit sämtlichen Inhalten und Werten unserer Kultur, es spielt mit ihnen, wie etwa in den Blütezeiten der Künste ein Maler mit den Farben seiner Palette gespielt haben mag. Was die Menschheit an Erkenntnissen, hohen Gedanken und Kunstwerken in ihren schöpferischen Zeitaltern hervorgebracht, was die nachfolgenden Perioden gelehrter Betrachtung auf Begriffe gebracht und zum intellektuellen Besitz gemacht haben, dieses ganze ungeheure Material von geistigen Werten wird vom Glasperlenspieler so gespielt wie eine Orgel vom Organisten, und diese Orgel ist von einer kaum auszudenkenden Vollkommenheit, ihre Manuale und Pedale tasten den ganzen geistigen Kosmos ab, ihre Register sind beinahe unzählig, theoretisch ließe mit diesem Instrument der ganze geistige Weltinhalt sich im Spiele reproduzieren.“

Das ist doch viel hübscher: ein Spiel von potentiell großer Komplexität, innerhalb des Zitats dann auch noch verglichen mit einer Orgel, womit das Gemeinte den Charakter von Musik und spielerischer Kombinatorik & Komposition erhält.
Und ganz recht: das stammt aus Hermann Hesses Roman Das Glasperlenspiel (1943). Nun hätte ich Verständnis dafür, dass jetzt jemand ruft: „Hermann Hesse! Mein Gott!!“
Aber es lohnt sich, einen Augenblick bei dem utopischen Spiel und seinen mysteriösen Regeln stehenzubleiben. Im deutschen Wikipedia-Artikel wird es so charakterisiert:

„Die genauen Regeln dieses Spiels werden nur angedeutet und sollen so kompliziert sein, dass sie nicht einfach zu veranschaulichen sind. Das Spiel hat bereits quasirituellen Charakter angenommen; Ziel scheint es zu sein, tiefe Verbindungen zwischen anscheinend nicht verwandten Themengebieten herzustellen und theoretische Gemeinsamkeiten von Künsten und Wissenschaften aufzuzeigen. Beispielsweise wird ein Bach-Konzert mit einer mathematischen Formel verknüpft.“

Ich will gar nicht in Hesse-Welten abtauchen. Mir geht nur um eine ästhetisch adäquate Struktur. Hesse ist ein Mann des vergangenen Jahrhunderts. Man müsste also seine Orgel an das kulturelle Register des 21. Jahrhunderts anpassen. Und seine Terminologie an Web und serendipity!


Poetologie des Blogs (6): Serendipity

Durch puren Zufall stieß ich vor einiger Zeit beim Surfen auf die Bedeutung des Begriffs “serendipity”, eines Wortes, um das ich mich nie weiter gekümmert hatte. Serendipität bezeichnet den zufälligen Fund von etwas ursprünglich nicht Gesuchten, das sich dann als etwas Besonderes oder jedenfalls Brauchbares erweist: die Entdeckung von Amerika durch Kolumbus zum Beispiel.
In der Entwicklung von Web 2.0 nach Web 3.0 spielt Serendipity eine große Rolle. Der Begriff kann sowohl eine passive als eine aktive Bedeutung haben. Im letzteren Fall geht es um eine inhärente strukturelle „Findigkeit“. Im zukünftigen Semantischen Web, wie Web 3.0 auch genannt wird, sorgt diese Findigkeit für eine neue Art der Verknüpfung der gigantischen Datenmassen des Netzes.
Funde, die dem heutigen Surfer passiv zufallen und durch ihn erst noch aktiviert und verifiziert werden müssten, werden morgen in überraschender Vielfalt durch die künstliche Intelligenz des Semantischen Webs selbst erzeugt und angeboten. Vorformen davon haben wir in den Tipps bei Amazon: Sie haben dies und das gekauft, Ihnen könnte auch jenes gefallen.
Bedeutet das jetzt, dass die „Orgel“, deren Manuale und Pedale wir im „Glasperlenspiel“ auf neue künstlerisch-kreative Weise bespielen wollen, in Zukunft überflüssig wird, da das intelligente Netz uns diese Arbeit abnimmt? Dann kann auch Peter Glaser seinen Bunsenbrenner wieder einpacken (siehe Poetologie des Blogs 5). Ich glaube allerdings eher, dass Serendipität durch das Web als allgemeines kreatives Prinzip an Bedeutung gewinnen wird und das nicht nur bei Suchmaschinen. Ein Blog ohne serendipity wird schnell langweilig.
Wir kennen dieses Prinzip übrigens schon aus Vor-Webzeiten: als spontane schlagfertige und ironische Assoziativität im Verkehr zwischen intelligenten Menschen.


Poetologie des Blogs (7): Im Nu

Das „Nu“ bezeichnet einen sehr kurzen Zeitabschnitt und ist damit ein Synonym für das schöne Wort „Augenblick“. Als Substantiv kommt es nur in Verbindung mit der Präposition „im“ vor: „Ich bin im Nu wieder da“ und „Das ist doch im Nu getan“.
Das „Nu“ oder der „Augenblick“ ist kein Zeitpunkt, sondern eine dynamische Zeitspanne, in der etwas gemacht werden oder passieren kann. Man kann darüber spekulieren, wie lange diese Zeitspanne dauert und was darin alles Platz hat. Neurologisch-psychologisch scheint es sich um etwa drei Sekunden zu handeln: Diese absolute Gegenwart erleben wir von Intervall zu Intervall. Der Augenblick ist das schönste Bild dafür. Dabei ist er gar kein Bild, sondern ein organisches Faktum, das die menschliche Art und Weise des Sehens der Gegenwart bestimmt: nach einem Augenblick schließt sich das Lid kurz und unterbricht den Blick.
Ich habe mich immer mal wieder gefragt, woher sich das Wort “Gegenwart” in seiner Bedeutung als Synonym für „Jetztzeit“ eigentlich ableitet. Dabei hätte es mir sofort klar sein können, wenn ich mir den Gebrauch in Sätzen wie: „In Gegenwart dieser Person fühle ich mich nicht wohl“ vor Augen geführt hätte. „Gegenwart“ heißt auch „Anwesenheit“ bzw. das ist die ursprüngliche Bedeutung, und als Zeitbezeichnung kommt es erst viel später in Gebrauch.

Die Engländer benutzen für das Nu übrigens das rätselhafte und überaus sympathische Wort „jiffy“: „I’ll be back in a jiffy“. Wenn ich das mal teste, scheint mir ein Augenblick eher etwa fünf Sekunden zu dauern. Aber das ist letztlich egal. Unsere Zeiterfahrung, in der wir Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erfahren, ist hiervon bestimmt: etwas, das vor fünf Minuten passiert ist, ist eindeutig bereits Vergangenheit.
Deshalb ist auch das Blog ein ganz besonders gegenwärtiges Medium. Ein Blogbeitrag entsteht in seiner Essenz in einem Augenblick. Er ist eine Idee, die sich meistens an ein aufgefundenes Zitat, ein Bild, einen Eindruck anknüpft, und der Blogautor formuliert im Nu seine Verbindung zwischen dem Zitat und seiner Idee und stellt sie ins Netz. Mag sein, das das Formulieren und Zusammensuchen etwas länger dauert, aber im Kopf ist der Beitrag fertig: im Nu! In a jiffy!
Im Nu – und es hilft, wenn man sich das Nu einmal nicht zeitlich, sondern räumlich vorstellt – im Nu bin ich da, bin ich anwesend, und ich befinde mich in keiner Stasis, nicht an einem Punkt, sondern in einer Bewegung, einer Veränderung, in der kleinsten sinnvollen Einheit, etwas zu machen.
Mein Blog ist eine Sammlung solcher Momente.

 

Poetologie des Blogs (8): Ein Geisterschiff?

Ein Blogger schreibt ein Logbuch. Für welches Schiff eigentlich? Und wohin geht die Fahrt?

 

Poetologie des Blogs (9): Eelco Runia, Breukvlak

Vor ein paar Jahren hörte ich, dass ein Kollege, der Geschichtsphilosophie unterrichtet, an einem Roman schreibt. So etwas macht mich neugierig. Als ich in der Buchhandlung in das 2008 unter dem Titel Breukvlak erschienene Buch hinein blätterte und den Klappentext las, war ich sofort gefangen: der Roman ist in Form eines Weblogs geschrieben und handelt von einem sechsmonatigen Aufenthalt des Kollegen an der Stanford-University in Kalifornien.
Das Buch reflektiert, was ein Blog tut und mit uns tut und es handelt von den verschiedenen Annäherungen an die Realität mit Fotos, Kunstwerken und Romanen; es ist ein theoriegesättigtes, also eigentlich ein sehr deutsches Buch und nicht so sehr ein niederländisches. Der Autor hat darin im Übrigen auch viel mit Hans Ulrich Gumbrecht zu tun, dem bekannten deutschen Literaturwissenschaftler in Stanford, der sich mit einer Theorie der Gegenwart beschäftigt.
Aber damit kein falscher Eindruck entsteht: In erster Linie handelt es sich um ein hochamüsantes Amerika-Buch und eine Art Campus-Roman aus europäischer Sicht.
Der Klappentext beginnt so: „Ein Weblog, so überlegte ich während des Essens, ist eine Peepshow. Ich führe ein Kunststückchen vor und ihr guckt zu. Ich weiß nicht, wer guckt oder geguckt hat und welche Kunststückchen euch am meisten erregen.“
Als ich das Buch gelesen hatte, habe ich Kontakt mit dem Autor, Eelco Runia, aufgenommen und eine Probeübersetzung gemacht. Das hat zwar leider nicht zu einer deutschen Ausgabe geführt, aber ich kann jetzt daraus ein paar Teile zur Poetologie des Blogs zitieren:

„Was ist ein Weblog eigentlich genau? Oder besser: was will ich damit? Bis jetzt habe ich so getan, als ob mein Weblog eine Art Tagebuch ist, ein Tagebuch, aus dem ich jeden Tag eine Seite herausreiße, die ich fein säuberlich abgetippt an das große Weltaushängebord hefte. Ein Tagebuch, das an den größten gemeinsamen Teiler der Menschen gerichtet ist, die daran interessiert sein könnten.
Aber das ist es nicht, was ich will. Ich will nicht nur etwas mit der Tatsache machen, dass ich over here bin, herausgerissen und an der Bruchfläche zwischen einem alten und einem neuen Leben, sondern auch mit der Tatsache, dass ein Weblog etwas essentiell anderes ist als eine moderne Variante des Tagebuches. Vielleicht besteht das Wesen des Weblogs nicht einmal so sehr darin, dass es öffentlich ist und Berichte enthält, die verifizierbar an einem bestimmten Tag, ja zu einem bestimmten Zeitpunkt publiziert wurden. Viel wichtiger, glaube ich, ist das Element der Selbstdramatisierung. Ein Weblog (jedenfalls ein persönliches Weblog so wie ich es schreibe) ist verwandt mit einer real-life soap: beide geben vor, ein neutrales Medium zu sein, sind es aber absolut nicht. Sowohl in einem Weblog als auch in einer real-life soap infiziert die Form den Inhalt, der ‚Schauspieler‘ das ‚Drama‘, der ‚Beschreiber‘ das ‚Beschriebene‘. Die pure Tatsache, dass ein Blogger sich vorgenommen hat, ein Blog zu führen, hat Einfluss auf das, was er in dem Weblog beschreibt. Das Weblog beginnt sein Leben zu steuern, stärker noch: es fiktionalisiert sein Leben. In diesem Sinn ist ein Weblog ein Roman, in dem der Blogger im Prozess des Schreibens die Figur erschafft, die den Roman schreibt. So empfinde ich das auch: dieses Weblog wird geschrieben von der Figur, die sich daraus entwickelt, nicht von mir. Und ich bin nicht die Figur, die sich daraus entwickelt – die geht völlig auf Kosten des Schreibers dieses Weblogs.“

 

Poetologie des Blogs (10): Armseliger Narzissmus?

Nach langer Zeit, in der ich mich berufsbedingt mit anderen Themen beschäftigen musste, habe ich endlich einmal wieder Anregendes zu einigen meiner Lieblingsthemen gefunden: Ansätze zu einer Theorie der Gegenwart, unserer Eigen- und Echtzeit und am Rande auch zu einer Theorie des Blogs.
Von Hans Ulrich Gumbrecht, der sich gestern zum Fall Günter Grass geäußert hat, ist im letzten Jahr das Suhrkamp-Bändchen Unsere breite Gegenwart (Frankfurt a.M. 2011) erschienen. Es enthält sechs Anläufe zur Charakterisierung des gegenwärtigen Zeitalters, das noch keinen Namen hat, und einen Versuch, diese Anläufe zum Absprung in eine noch zu schreibende Theorie der Gegenwart zusammenzufassen. Bildlich gesprochen schwebt Gumbrecht also mitten in diesem Sprung und kündigt dabei seine Ankunft bei irgendetwas an. Wie weit der Sprung reichen wird und wo genau er landet, ist noch nicht sichtbar.
Ich greife einfach mitten hinein und präsentiere ein Detail aus dem sechsten Anlauf, das mich zunächst verständlicherweise ein wenig irritiert hat:

„Selbst auf der Website meines besten Freundes kann ich nur allein sein, und was ich dort vielleicht als Hauch von Nähe empfinde, geht nie über die Nähe eines Touristen oder eines Voyeurs hinaus. Gibt es etwas Armseligeres als die unzähligen Blogs, die mit einem unfassbaren Narzissmus geschrieben werden – und auf ewig ungelesen bleiben, und zwar aus guten Gründen?“
Aus: ‚Unbegrenzte Verfügbarkeit. Über Hyperkommunikation (und Alter)‘; Gumbrecht, Seite 128

Bevor ich in einem der folgenden Beiträge auf den Kontext dieser Bemerkung eingehe, möchte ich das erst mal ein bisschen einwirken lassen. Bin ich ein armseliger Narziss, ungelesen und auch nicht lesenswert?

 

Poetologie des Blogs (11): Die Präsenz Hans Ulrich Gumbrechts in der Gegenwart

Nun, Hans Ulrich Gumbrechts Tirade gegen die Blogs steht in einem Zusammenhang, den er als das „Oszillieren“ der Angehörigen seiner Generation (Gumbrecht ist vom selben Jahrgang wie ich) zwischen verschiedenen Zuständen beschreibt. So sieht er auch in seinem persönlichen Arbeitsleben als 62-Jähriger verschiedene Umgangsformen mit den Geräten und Formen der Kommunikationsrevolution: einerseits hat er sich mitten in einer hypermodernen amerikanischen Elite-Universität (Stanford) ein Arbeitszimmer ohne Online-Zugang ausbedungen, mit einem veralteten Computer, der nur als Schreibmaschine taugt, das heißt er will die ständige persönliche Verfügbarkeit, die u.a. durch E-Mails entsteht, damit vor der Tür halten. Andererseits gibt er zu, das sein aktueller Text doch in einer Online-Situation auf einem Laptop entstanden ist:

„Während ich diesen Text schrieb, habe ich ab und zu nach eingehenden E-Mails gesehen und soeben auch erfahren, wer heute den Tagessieg der Tour de France errungen hat. Diese vorherrschenden Zustände der menschlichen Lebenswelt im frühen 21. Jahrhundert haben den Eindruck des unmerklich kurzen Augenblicks der Gegenwart (einen historischen Zeitbegriff des frühen 19. Jahrhunderts, der so dominant geworden war, dass wir ihn mit Zeit an und für sich verwechselten) mittlerweile in einen sich immer mehr ausweitenden Gegenwartsmoment der Gleichzeitigkeiten verwandelt. In der heutigen elektronischen Gegenwart ist weder Platz für etwas ‚Vergangenes‘, noch für etwas ‚Zukünftiges‘, das nicht durch simulierte Vorwegnahme ins Hier und Jetzt geholt werden könnte. Alles ist immer ‚verfügbar‘. Manche von uns Älteren meinen, dass das einfach zu viel, wenn auch gleichzeitig nicht mehr genug Gegenwart ist.“

Hans Ulrich Gumbrecht, ‚Unbegrenzte Verfügbarkeit. Über Hyperkommunikation (und Alter)‘
In: Unsere breite Gegenwart, Frankfurt am Main 2011, 131

Wie viele seiner Generation schwankt Gumbrecht zwischen der (oft auch unvermeidbaren) Akzeptanz der Phänomene und Instrumente der Kommunikationsrevolution und ihrer (oft emotionalen) Ablehnung. Und diesmal hat’s die Blogger erwischt. Ganz ähnlich könnte ich mich zum Beispiel über Twitter äußern, das mir von Jüngeren als wunderbares Instrument angepriesen wird, mich aber nur mit Grausen erfüllt. Und in Bezug auf facebook, das ich aufgrund dieses Blogs für mich aktiviert habe, schwanke ich von Tag zu Tag zwischen Faszination und Abneigung.
Die Welt der Blogs ist im übrigen so vielfältig, dass generelle Aussagen immer problematisch sind. Ein paar Leser habe ich ja immerhin, aber nach zwei Monaten beginnen die Wochenzahlen zu sinken. Ich habe aber auch schon gelernt, dass man sie durch geschickt gewählte Überschriften noch oben kriegt. Und was den Narzissmus betrifft: Der ist in dem Maße da, wie es das jeweilige Bedürfnis nach Selbstdarstellung erfordert. Ich glaube nicht, dass ich das übertreibe. Ohne ein gewisses Maß an Narzissmus wird jeder persönliche Text obsolet.
Gumbrecht spielt in seinem Buch ganz bewusst auf sein Alter an und lässt in diesem theoretischen Werk, das ihn auf dem Höhepunkt seines Denkens zeigt, zum Beispiel auch seine Enkelkinder vorkommen. Das ganze Büchlein ist durchwirkt von seinem eigenen Narzissmus. In der Einleitung zitiert er seinen großen verstorbenen Kollegen Hayden White, der einmal gesagt hat, im Leben eines kreativen Menschen genüge es, einmal eine gute Idee gehabt zu haben. Mehr brauche es nicht, schon weil die meisten anderen überhaupt keine hätten. Gumbrecht nimmt das dankbar an und sieht in seinem vor einigen Jahren entwickelten Gegenwartskonzept der „Präsenz“ seine eigene gute Idee. Damit könnte er Recht haben. Dazu demnächst mehr.

 

Poetologie des Blogs (12): Lobos Lob des Blogs


Sascha Lobo, der feste Spiegel-Kolumnist für alle Fragen des Internets, plädiert in seinem neuen Beitrag auf Spiegel-online für die Form des Blogs und teilt dabei allerlei giftige Bemerkungen zu Facebook aus. Der Trend seines Artikels spricht mich sehr an: Nicht umsonst habe ich eine ganze Reihe von Beiträgen der Poetologie des Blogs gewidmet und diese sozusagen als Achse in mein eigenes Blog eingezogen. Das Blog erscheint mir als die interessanteste, menschlichste und intellektuell fruchtbarste Form des Schreibens in der Gegenwart. Und dafür sammle ich Argumente.

Was sagt Sascha Lobo dazu? Er sieht die Bloggerwelt in den letzten Jahren durch Facebook gefährdet, dessen Kommunikationsrahmen simpler, schneller und oberflächlicher ist. Die Anzahl und Vernetzung der Blogs sei leider stark rückläufig. Sascha Lobo ruft zur Rückbesinnung (!) auf:


„Wer auf seine digitale Freiheit Wert legt, für den bleibt (…) nur das schönste, aber anstrengendste Instrument für die soziale Vernetzung und das Teilen von Inhalten übrig: die selbst kontrollierte Website, also das Blog.“

„Mit dem zunehmenden digitalen Bewusstsein in der Bevölkerung, quer durch alle digitalen Schichten von der Softwareingenieurin bis zum Bundestagsabgeordneten, ist die Zeit für eine Renaissance des selbstkontrollierten Blogs gekommen: Bürger zu Bloggern, das Blog ist die digitale Stimme des Einzelnen.“







Poetologie des Blogs (13): Der Blogger als Narziss 


„Der Mensch ist ein wahrer Narziss: er bespiegelt sich überall gern selbst; er legt sich als Folie der ganzen Welt unter.“

Johann Wolfgang von Goethe, Die Wahlverwandtschaften, Sämtliche Werke Band 21, J.G. Cotta`sche Buchhandlung Nachfolger: Stuttgart und Berlin o.J. (1902-1907), S. 36




Poetologie des Blogs (14): Die siebenfach tertiäre Naivität von Rainald Goetz 


"In vielen Blogs wird jetzt die grundlegende Erfahrung des Schreibens gemacht, dass das vom eigenen Erleben erzählende Schreiben so lange gut geht und gut klingt, solange die Ichfigur sich selbst und und ihren Berichten gegenüber eher blind bleiben kann. Resonanzen stören diese Selbstunsichtbarkeit, das selig Automatische, das das Schreiben anfangs haben kann. Beim Plappern und Schnattern muss das Schreiben aber bleiben wollen und trotzdem die Last seiner selbst, des Geschriebenseins fühlen und benützen, fürs Weiterdenken ausbeuten können. So eingesetzt, treibt Text das Erlebte über das Gewusste hinaus, dieser Surplus wird beim Schreiben als Glücksgefühl spürbar, später auch dem Leser. Springt Text nicht auf diese Art um in etwas Neues, vor dem Schreiben nicht Gewusstes, bleibt er stumpf. Text ist ein Wildling, will auch spinnen und spielen, eine siebenfach tertiäre Naivität sei der Raum seiner Forschung –"


Rainald Goetz, Klage, Frankfurt am Main 2008, 105f.


„Klage“ war ein Blog, das Rainald Goetz in den Jahren 2007/2008 auf der Website der deutschen Ausgabe von „Vanity Fair“ geschrieben hat. Das Blog wurde 2008 bei Suhrkamp in Buchform veröffentlicht.

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