In diesem Blog habe ich vom 11. Juni bis zum 25. Juli 2016 ein Lesetagebuch
zu Ann Cottens Versepos „Verbannt!“ (Suhrkamp, Berlin 2016) geführt. Hier sind
alle 18 Beiträge noch einmal zusammengefasst, allerdings ohne die Abbildungen:
Zum Weiterlesen hier klicken:
1
Ann Cottens Versepos „Verbannt!“ ist im März erschienen und im deutschen
Feuilleton bereits mehrfach als „Meisterwerk“ beschrieben worden, ohne dass so
recht deutlich wurde, warum. Aus den Ankündigungen und Rezensionen lässt sich
entnehmen, dass es um eine Art weibliche Robinsonade auf einer Insel namens
„Hegelland“ geht. Ich habe das Buch gelesen und möchte in den folgenden Tagen
(Wochen?) versuchen, meinen Eindruck von diesem spielerisch-sperrigen Verswerk
zu beschreiben.
Es handelt sich um ein Epos in 403 in der Regel neunzeiligen Strophen
(sogenannte Spenserstrophen mit festem Reimschema). Das hat es in der deutschen
Literatur seit Unzeiten nicht mehr gegeben, und natürlich fragt man sich, was
das soll.
Ann Cotten gibt in ihrer „Einleitung“ in 24 Strophen zahlreiche Hinweise
und indirekte Erläuterungen zu dem, was den Leser erwartet, sowohl was die Form
als auch was den Inhalt betrifft. Daraus lässt sich mehr entnehmen, als die
bisherigen Rezensionen haben verlauten lassen, die die Autorin und ihr Werk
allesamt als „schwierig“ einstufen.
Ich widme mich heute nur einem Teil dieser Einleitung (Strophe 1, 4, 5 und
23). Der Text ist übrigens in einer Leseprobe zugänglich, die der Suhrkamp Verlag auf
seiner Website zur Verfügung gestellt hat. Die ersten Seiten des ersten
Kapitels, die auch noch zur Leseprobe gehören, kann man sich in der
Büchersendung des SWR auch vorlesen lassen.
Referenzpunkte Goethe (Faust) und Inger Christensen (Det):
Gleich die ersten vier Verse erinnern an den Beginn der berühmtesten
deutschen Versdichtung, Goethes Faust. Bei Goethe heißt es in der „Zueignung“:
Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten
Die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt,
Versuch ich wohl, euch diesmal festzuhalten?
Fühl ich mein Herz noch jenem Wahn geneigt?
Ann Cotten schreibt:
Sie sind nun blasser, weniger verständlich,
die Schemen, da man sie in Armen hat.
Ich wendete das Leben hin und her verschwenderisch,
jetzt macht es mich mit seinen Karmen matt. (S.7)
Das sind zwei intentional vergleichbare Anfänge, ohne dass das jeweilige
Projekt schon deutlich würde. Etwas Faustisches also erwartet uns, vielleicht
ein weiblicher Faust? Damit ist die Latte hoch gelegt – höher geht’s nicht –,
an der Ann Cotten sich messen will, oder ist es nur der Anfang zu einem wilden
Verse-Zirkus? In der vierten Strophe bekennt sie sich zu einem „Revue-Stil“, zu
einer Leichtigkeit, die Goethe so gewiss nicht hatte. Aber:
Dass auch die flachen Böden süße Möhren bergen,
ist allen Möhrenfreunden wohlbekannt.
Dennoch kanns sein, dass meine Strophen stören werden
Den wohlgeeichten literarischen Verstand. (S. 8)
Die Autorin baut der erwarteten Kritik vor, um dann in der fünften Strophe
mit der Zitierung von Inger Christensen in die Modernität des 20. Jahrhunderts
vorzudringen. „Handlung“ wird es in ihrem Werk nur als „Untergrund für dieses
Reimewesen“ geben. Auf so etwas wie einen „Plot“ werden wir lange warten können
(vgl. Strophe 5). Ein Hauptwerk der dänischen Lyrikerin Inger Christensen ist „det“(1969, deutsch „Das“), ein Weltgedicht in
Anlehnung an Dantes Divina Commedia mit Lust an Subversivität und Sympathie für
R.D. Laing.
In den letzten Versen ihrer Einleitung sieht sich Ann Cotten als „modernen
Marquis de Sade in Fraungestalt“. Das alles erhöht natürlich die
Erwartungshaltung. (Im nächsten Beitrag werde ich mich der Strophe 6 widmen
müssen. Lest sie schon mal!)
P.S.: Meinolf Reul hat in signaturen-magazin.de die mir bisher sympathischste Rezension zu „Verbannt!“
geschrieben. Er macht darauf aufmerksam, dass die Anzahl der Strophen – 403 –
mit dem http-Code 403 korrespondiert: Forbidden – Access is denied, dem jeder
Computernutzer schon einmal begegnet ist. Da das Internet in dem Epos eine
große Rolle spielt, ist das gar nicht so abwegig. Wie sagte ich: ein
spielerisch-sperriges Verswerk!
2 Anns Masterplan
Wenn ich’s germanistisch anpacke, wird’s ausufernd und langweilig. Darum
habe ich mich entschlossen, die in Versen geschriebene Einleitung von Ann
Cottens „Verbannt!“ einfach in Alltagssprache zusammenzufassen.
So einfach ist das allerdings gar nicht. Die dort verkündete Poetologie
ihres Versepos trifft ja auch auf die Einleitung selbst zu, und die Aussage des
Textes ist mit den Versen und Reimen und den bei ihnen auftretenden
Abweichungen eng verflochten. Aber ich versuch’s mal:
Die Einleitung dient der Einstimmung des Lesers auf den Text und seine
Besonderheiten. Die Ich-Erzählerin ist Ann Cotten, das später auftauchende „du“
(Str. 9) ist Bestandteil eines Selbstgesprächs.
Die Autorin will sich der Beziehung zwischen „Herz und Welt“ (Str. 1) und
„Sein und Denken“ (Str.22) widmen, das betrifft mehr oder minder „Alles“ (Str.
23). Die Sprache ist das Medium, mit dem dies alles erfasst werden soll.
Ann erinnert sich ihrer Jugend an der Donau in Wien und an die
Beschleunigung der Zeit, die sie erfahren hat (Str. 2), an das Frauwerden und
die damit verbundenen gesellschaftlichen Zwänge (Str. 3). Sie will ihr
Schwärmen, ihre Hoffnungen, ihre Gedanken zu etwas Neuem, Utopischen verbinden
und dafür eine neue „elbische“ Sprache schaffen (Str. 3).
Sie sieht die Reaktion der Kritiker voraus, die sie als „immer schon
verwirrte Lyrikerin“ betrachten und ihren in Strophen gebundenen „Revue-Stil“
als Flucht in die Form verurteilen werden (Str. 4).
Ihre Erzählung sieht die Autorin als eine fortschreitende Selbstentblößung,
einen „Striptease“, in dem die Verse und Reime die Handlung verbergen und so
etwas wie ein Plot mit einem Zielpunkt gar nicht erst zustande kommt (Str.5).
Sexualität gehört in ihre Herz-Welt-Geschichte hinein. Dass sie Sex als
eine der stärksten Kräfte und gleichzeitig als ein großes Spiel sieht, zeigt
sie in Strophe 6, in der sechs der neun Reime aus dem Wort „Sex“ bestehen.
Nichts spreche dagegen, „Dichtung als etwas handzuhaben, was Sex spiegelt, zu
Sex ermuntert, zu Gewagterem aufwiegelt“ (Strophe 7). Dichtung ist eine Art
Trockenübung für das Leben.
Sie entscheidet sich für ein altmodisches, gebundenes Versmaß, die
„Byronstrophe“ (entspricht der Spenserstrophe),
ohne die Freiheit aufzugeben, davon auf teils drastische Weise abzuweichen
(Str. 8/9).
Was das Genre angeht, lässt sie alle neun Musen zu einem Reigen antreten.
Sie brauche sie alle, betont sie, um sich letztendlich doch für Kalliope, die
Muse der epischen Dichtung, zu entscheiden und sich von ihr küssen zu lassen
(Str. 10-17).
Ab Strophe 18 spricht die Erzählerin auch als das „Ich“ der kommenden
Handlung. Sie stellt sich vor als Mitarbeiterin des „Neuen Fernsehens“, das ab
2020 das „Alte Fernsehen“ abzulösen begonnen hat. Durch das Internet habe sich
die Medienwelt radikal verändert, worauf die traditionellen TV-Macher keine
Antwort gefunden haben. Ihr und ihren Leuten scheint das gelungen zu sein (Str.
19/20).
In Strophe 21 ist zum ersten Mal von der Insel die Rede, auf die sie
verbannt wurde. Sie berichtet vage von Konflikten, in die das „Sein“ sie
getrieben habe und will ihre Verbannung zur Vermittlung zwischen „Sein und
Denken“ benutzen. Das will sie mit Hilfe des Wortes tun. Zum ersten und
einzigen Mal spricht sie hier die „Leserin“ (sic!) an und schwört ihr: „Ich
werde alles richtig sagen“ (Str. 22).
Sie beharrt noch einmal auf: „Alles“, und wiederholt es: „das alles“, ist
aber unsicher, was sie meint: den „Weltgeist“, die „Atomphysik“? Sie ruft ihre
Muse zu Hilfe, aber das alles bleibt im Vagen. Nun gut, es stört sie
nicht so, denn „man hört es ja dann im Sange“ (Str. 23).
In der letzten Strophe kündigt sie „die entsetzliche Ballade“ an und macht
uns noch extra neugierig: sie wird darin in der Rolle eines „modernen Marquis
de Sade in Frauengestalt“ auftreten.
3
„Nicht aufgeben!“, möchte ich den Leserinnen zurufen. Ann Cottens Versepos
ist struppig und ruppig und hat – wie in meinem letzten Beitrag erwähnt –
nichts mit einer normalen Handlung zu tun. Es funktioniert einfach anders.
Deshalb kann mein Versuch, Cottens Einleitung in „Alltagssprache“
zusammenzufassen, die Leser auch in die Irre führen: solch eine
Rationalisierung wird dem lyrischen Ich, das sich hier sprachlich entblättert,
nicht gerecht. Sie soll nur die neugierige Grundhaltung befördern: Ach, hier
geht es um etwas Konkretes aus unserem Alltagsleben! Ja, das tut es! Aber ganz
anders!
Der Text erhält durch seine lyrischen Anspielungen, Zitate, Reime,
Wörterwelten immer neue Dimensionen. In meinem ersten Beitrag habe ich meine
Assoziation zu den Anfangsversen von Goethes Zueignung zum „Faust“ erwähnt. Und
so gibt es vieles, immer wieder Neues, auch in der Einleitung schon, das in
einer „Zusammenfassung“ gar nicht vorkommt.
Ein Beispiel: Strophe 3 der Einleitung habe ich wie folgt zusammengefasst:
„Ann erinnert sich an das Frauwerden und die damit verbundenen
gesellschaftlichen Zwänge“. Was steht dort wirklich:
Verwirrt von alten Schirrungen also, die Brust der
Mädchen
Für Schwellung vorbereitend – für zwei kleine Schädchen,
von oben anzusehn wie Kuppelgräber,
in denen Hoffnungen liegen wie zwei heilige Rüstungen-,
zusammen mit den einwohnenden Geistern von mir selber
will ich rostfrei polieren mit Information die Utopien,
(…)
Diese paar Verse sind so übervoll mit Inhalt, mit lyrischen und mit
Denkbildern, dass jeder Leser, jede Leserin sie selber füllen und fühlen muss.
Keine Zusammenfassung oder Explikation kann das erfassen. Zum Beispiel: Cotten
benutzt das alte Wort „Schirrung“, das aus dem Zusammenhang von Zug- und
Reittierhaltung kommt, in Zusammenhang mit dem ersten Büstenhalter, und wo
logischerweise das Wort „Schälchen“ hätte stehen müssen, kommt sie mit dem Reim
„Schädchen“ (auf Mädchen).
In die Abgründe dieser Verse muss man sich einfach fallen lassen.
Aber sie machen mich nicht sprachlos. Mein Lesetagebuch geht weiter. Pausen
kann es geben, man braucht sie auch. Das Buch bietet eine Entdeckungsreise, für
die die Wahrnehmungsorgane immer wieder neu justiert werden müssen.
4 Ann’s Sound
Die Ich-Erzählerin ist eine junge Frau namens Ann (wie die Autorin).
Sie arbeitet als Fernsehmoderatorin beim „Neuen Fernsehen“, das sie ab 2020 mit
entwickelt hat, eine Utopie also (obwohl: „O Neues Fernsehen, so sehr wie das
Alte war!“, S. 29).
Im ersten Kapitel erzählt Ann ausführlich von ihrer Arbeitswelt und in dem
Zusammenhang von dem Anlass, der zu ihrer „Verbannung“ auf eine einsame Insel
führt: sie hatte sich in Lena verliebt, die vierzehnjährige Tochter einer
Kollegin. Die Redaktion entwickelt im darauf folgenden Jahr in Zusammenarbeit
mit Lena und Ann zunächst das Format „Verführ den Moderator“, in dem Lena
Heftiges aus ihrem Erfahrungsschatz ausspielt. Ann hält das nicht aus, fängt an
zu trinken und zu randalieren. Daraufhin beschließt die Redaktion, sie auf eine
einsame Insel zu verbannen, unter Mitnahme von drei Gegenständen ihrer Wahl.
Das „Neue Fernsehen“ erinnert den Leser doch sehr an das alte, an RTL und
seine Formats aus den letzten zehn Jahren, und die sogenannte Verbannung auf
eine Insel lässt Assoziationen zu bekannt-berüchtigten Formats wie
„Dschungelcamp“, „Wild Island“ und „Adam sucht Eva“ aufkommen.
Im zweiten Kapitel wird Ann auf einer Südseeinsel ausgesetzt. Mitgenommen
hat sie ein Messer, einen Schleifstein und Meyers Konversationslexikon von 1910
in 22 Bänden. Dieses Lexikon, das ja die Enyklopädie von Allem ist, wird in den kommenden Kapiteln des Epos immer wieder die
Stichworte geben, at random wie es
scheint. Noch auf dem Boot, liest sie das Lemma „Leuchtraketen“, und wir können
uns den Sound von Ann Cotten an einer von ihr selbst gelesenen Textprobe
(Strophe 2 bis 6 von Kapitel 2) demonstrieren lassen:
Ann Cotten liest aus „Verbannt!“
Die letzten vier Zeilen dieser Textprobe gehören zu den schönsten aus dem ganzen Epos und sind auch inhaltlich sehr wichtig (vgl. die Akzentuierung von "Alles" im zweiten Beitrag meines Lesetagebuches):
Denn eigentlich wird es wesentlich sein, einen einzigen
Kuss zu verfolgen, wohin er dich immer bringt.
Dort seiend, weißt du, du erlebst nur einen winzigen
Teil alles anderen - doch der Teil singt.
(Ann Cotten, Verbannt!, S. 32)
Die letzten vier Zeilen dieser Textprobe gehören zu den schönsten aus dem ganzen Epos und sind auch inhaltlich sehr wichtig (vgl. die Akzentuierung von "Alles" im zweiten Beitrag meines Lesetagebuches):
Denn eigentlich wird es wesentlich sein, einen einzigen
Kuss zu verfolgen, wohin er dich immer bringt.
Dort seiend, weißt du, du erlebst nur einen winzigen
Teil alles anderen - doch der Teil singt.
(Ann Cotten, Verbannt!, S. 32)
5 Ann’s Ahnen
Als ich G. den Anfang von „Verbannt!“ vorlas, sagte sie spontan: das klingt
wie Benn, und wirklich: Ann Cotten bedient sich wie Benn der sprachlichen
Repertoires von Antike und Gegenwart, von Mythologie und modernster Technik und
Wissenschaft. Und sie hat auch etwas von seinem raunenden Sound, aber anders
als bei Benn ist dieser nicht geprägt von pathetischem Ernst, sondern von einem
spielerischen Unernst und einer formalen Witzigkeit (vgl. den kommenden Beitrag
Ann’s Reime!). Das ganz und gar Besondere aber ist, dass dieser durchgehende
Unernst ständig von der Radikalität des Gesagten gebrochen wird. Das ist mir in
der Literatur noch nie begegnet: Nicht Ironie bricht Ernst, sondern anders
herum! Die Leichtigkeit der Verse verhüllt die Schwere der Aussage. Dieses
Versepos ist in der modernen deutschen Literaturgeschichte ohne Vergleich!
Natürlich hat Cotten ihre Lehrmeister, demonstrativ sogar: Sie streut die
Namen von einem guten Dutzend Dichtern und Denkern in den Text ein und zitiert
auch ab und zu ein paar Zeilen. Vier Dichter scheinen für ihre radikale epische
Konstruktion und ihre Sprache eine besondere Rolle zu spielen: sie werden mit
Vor- und Zunamen genannt: Inger Christensen (S. 8), Edna Millay (S. 40),
Gottfried Benn (S. 44), John Giorno (S. 48).
Zu Inger Christensen (1935-2009) habe ich
gleich in meinem ersten Beitrag etwas gesagt.
Sie hat mit ihrem 230seitigen Gedichtzyklus „det“ wohl das Vorbild für die
kühne Größe des Versprojekts von Cotten gegeben und für den Anspruch, ein
Weltgedicht über “Alles” präsentieren zu wollen.
Von der eher antimodernen Amerikanerin Edna Millay (1892-1950) zitiert Ann
Cotten einen Vers aus dem eindringlichen Gedicht “Ebb”. Die intensiv
gelebte und gedichtete Sexualität und Bisexualität Millays dürfte sie
angesprochen haben. Zur Rolle der Sexualität in “Verbannt!” werde ich mich in
einem späteren Beitrag noch äußern.
Mit Gottfried Benn (1886-1956) verbindet
Cotten außer den oben angesprochenen Faktoren die radikale Zivilisationskritik
wie sie etwa in seinem Gedicht “Qui sait” formuliert ist. Wenn ich mich nicht
täusche, schwingen Aussagen dieses Bennschen Gedichts in Strophe 1 und 2 auf
Seite 44 von “Verbannt!” im Hintergrund mit („Die Wirklichkeit ist blöd. Ich
habe Horror vor/vor allem unserer menschlichen Geschichte“).
Und der amerikanische Dichter und Performancekünstler John Giorno (geboren 1936,
"We ARE the god. We ARE Computers", Zitat S. 48) hat bereits vor 50
Jahren bemerkt, dass die Lyrik 75 Jahre hinter Malerei und Skulptur, Musik und
Tanz hinterherhinke. Daran, diesen Rückstand aufzuholen, hat er zeitlebens
gearbeitet.
Und glaubt’s mir: Ann Cotten tut das auch!
6 Googeln!
Von Inger Christensen, Edna Millay und John Giorno hatte ich nie etwas
gehört, bevor ich in „Verbannt!“ auf ihre Namen stieß. Ich habe ihnen
hinterhergegoogelt und dadurch drei faszinierende Lyriker kennengelernt (Danke,
Ann Cotten!).
Daran möchte ich meine Leser teilhaben lassen. Die folgenden Links bieten
jeweils einen kleinen Einstieg, der großes Lesevergnügen verschafft und auch
für das Verständnis von Ann Cotten nützlich ist:
Edna Millay: „I will put Chaos into fourteen lines“ und „Renascence“
John Giorno, Thanx 4 nothing
Zu Gottfried Benn habe ich bereits auf das Gedicht „Qui sait“ verwiesen.
Den Text konnte ich im Netz nicht finden. Aber passend ist auch „Chaos“. Das gibt’s hier.
7 Mensch Meyer! – Ann’s Methode
In der
Einleitung zu "Verbannt!" hat Ann Cotten angekündigt, „Alles“ zum
Thema zu machen. Meyers Konversationslexikon ist ihr Instrument dazu. Die Form
der Enzyklopädie ist seit fast 300 Jahren die Methode des aufgeklärten
Zeitalters, das gesamte Wissen der Welt in alphabetischer Form zu bewahren und
verfügbar zu machen. Ann hat „alles“ dabei. Ihren „Meyer“ von 1910 hat sie
allerdings aus dem Müll gerettet (sic!). Bereits auf dem Boot, das sie zur
Insel bringen soll, beginnt sie, in den Bänden zu blättern. Die wie zufällig
ins Auge fallenden Lemmata bilden von jetzt an eine Strukturachse des Versepos.
An einigen (Leuchtraketen, Bier, Seele, Wolken) arbeitet die Protagonistin ihre
Assoziationen ab, aus anderen macht sie ganze Strophen: gut 90 sind es auf den
Seiten 60f. – von „Seebär“ bis „Seele“ und noch einmal 90 am Ende des Buches –
von „Seeleim“ bis „Seezunge“.
Alphabetische Listen bringen Ordnung ins Chaos, geben jedem Einzelnen im Vielen seinen Ort und machen es auffindbar, auch wenn die Welt als solche nicht „lesbar“ ist. Hier zeigt sich Ann Cottens Verwandtschaft zur Methode Inger Christensens in „det“ und „alfabet“ (siehe Lesetagebuch 6):
„So, wie die Buchstaben in einem Buch niemals das Buch werden lesen können,
so können wir auch niemals die Welt lesen. Die Buchstaben werden es natürlich
auch nicht versuchen. Wir dagegen sind gezwungen, weiterzulesen. Und stets wird
es uns gehen wie in der berühmten Erzählung von Jorge Luis Borges, der
Erzählung von der Landkarte, die immer größer und ausführlicher gezeichnet
wird, bis sie schließlich genauso groß ist wie die ganze Welt und das bedeckt,
was sie eigentlich aufdecken sollte.
In einer menschlichen Dimension muss die Karte eine Abkürzung sein. Und auf dieselbe Art und Weise muss die Sprache eine Abkürzung für die Lesbarkeit der Welt als solche sein. Eine poetische Abkürzung für all die Zeichen im Weltall, deren Verhältnisse und Bewegungen wir nicht umhin können uns anzulesen.“
In einer menschlichen Dimension muss die Karte eine Abkürzung sein. Und auf dieselbe Art und Weise muss die Sprache eine Abkürzung für die Lesbarkeit der Welt als solche sein. Eine poetische Abkürzung für all die Zeichen im Weltall, deren Verhältnisse und Bewegungen wir nicht umhin können uns anzulesen.“
Aus Inger Christensen, Der naive Leser, In: Manuskripte. Zeitschrift für
Literatur, Heft 115, 1992
8 Ann’s A & O
Ann’s Verbannungsinsel trägt den Namen „Hegelland“. Die Verbannte versteckt
ihr Lexikon in den Büschen und stellt schon nach kurzer Zeit fest, dass sie
nicht allein auf dem Eiland ist. Ein Mann namens Wonnekind nimmt sie gefangen,
ein Deutscher, der bereits vor vier Jahren auf der Insel schiffbrüchig wurde.
Auf Ann‘s
hilflose Mitteilung „Ich hab ein Konversationslexikon“ erwidert Wonnekind
überlegen: „Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen hundert schenken,/wir produzieren
jeden Monat eins“. Und Ann erfährt, dass insgesamt 26 Männer auf der Insel
leben und auf Säulen am Strand drei Druckereien unterhalten. Außerdem haben sie
einen Schraubentempel errichtet, in dem sie der Schraubenlehre huldigen: „Es
ist der Weg der Schraube, den wir brauchen, / und nicht der Weg der Meditation“
(S. 99).
26 Männer mit großer Nähe zum gedruckten Wort: Wer würde da nicht an die 26
Buchstaben des Alphabets denken? Wo wir doch gerade Inger Christensens
„alfabet“ zur Kenntnis genommen haben.
Alles sehr symbolisch hier auf Hegelland! Und Hegelland selbst? Wieso
Hegel?
9 Ann‘s Hegelland
In der
Bibliothek der Humbolduniversität habe ich mir letzte Woche die zweisprachige
Ausgabe von Inger Christensens „det“/“das“ ausgeliehen. Als ich mit dem Buch
unterm Arm durch das Café Weltgeist ging - so heißt die Kantine des
germanistischen Instituts - und auf den Hegelplatz hinaustrat, traf mich
ein Geistesblitz: Sollte mit Ann Cottens Hegelland Berlin (respektive Deutschland)
gemeint sein? Der Hegelplatz flimmerte in der Berliner Sommerluft, die Schwüle
machte mich schwindeln, und mir wurde bewußt: Auch ich in Hegelland! Ann könnte
jeden Moment um die Ecke kommen, und wir könnten uns über unsere gemeinsame
Verbannung und über Wonnekind und die Seinen unterhalten…
Aber nein, etwas trennt uns doch, ein tiefer Graben (?): Ann ist keine
Deutsche! Sie ist aus einem fernen Land zu uns gekommen. Einer der Preise, die
sie in Deutschland bekam, war der Adalbert-von-Chamisso-Preis für
Migrantenliteratur (2014). Ann ist in der kleinen Stadt Ames in Iowa/USA
geboren, eine Amerikanerin, die als Fünfjährige 1982 mit ihren Eltern nach Wien
gekommen und nach ihrem Studium 2006 nach Berlin gezogen ist.
So kam sie unter die Deutschen. Jetzt ist sie die beste deutsche Lyrikerin
ihrer Generation. Wie fühlt sich das an? Wie deutsch ist sie? Gibt ihr Epos
auch Auskunft darüber?
10 Ann unter den Deutschen
Wie war das noch bei Hölderlin im „Hyperion“ mit dem Brief über die Deutschen?
Hyperion hat es aus seiner Heimat Griechenland nach Deutschland verschlagen und
er wird dort tiefunglücklich. Hier ein kurzer Auszug dessen, was er seinem
Freund Bellarmin über die Deutschen mitteilt:
Barbaren von alters her, durch Fleiß und
Wissenschaft und selbst durch Religion barbarischer geworden, tiefunfähig jedes
göttlichen Gefühls, verdorben bis ins Mark zum Glück der heiligen Grazien, in
jedem Grad der Übertreibung und der Ärmlichkeit beleidigend für jede
gutgeartete Seele, dumpf und harmonielos, wie die Scherben eines weggeworfenen
Gefäßes – das, mein Bellarmin! waren meine Tröster.
Es ist ein hartes Wort und dennoch sag ichs, weil es Wahrheit ist: ich kann kein Volk mir denken, das zerrissner wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen – ist das nicht, wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt untereinander liegen, indessen das vergossne Lebensblut im Sande zerrinnt? […]
Deine Deutschen .. bleiben gerne beim Notwendigsten, und darum ist bei ihnen auch so viele Stümperarbeit und so wenig Freies, Echterfreuliches. Doch das wäre zu verschmerzen, müssten solche Menschen nur nicht fühllos sein für alles schöne Leben, ruhte nur nicht überall der Fluch der gottverlassnen Unnatur auf solchem Volke. […]
Und bei Ann Cotton?
Im zweiten Kapitel von „Verbannt!“ findet sich im Zusammenhang von Geschichte, Krieg und Waffentechnik folgende Strophe:
Es ist ein hartes Wort und dennoch sag ichs, weil es Wahrheit ist: ich kann kein Volk mir denken, das zerrissner wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen – ist das nicht, wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt untereinander liegen, indessen das vergossne Lebensblut im Sande zerrinnt? […]
Deine Deutschen .. bleiben gerne beim Notwendigsten, und darum ist bei ihnen auch so viele Stümperarbeit und so wenig Freies, Echterfreuliches. Doch das wäre zu verschmerzen, müssten solche Menschen nur nicht fühllos sein für alles schöne Leben, ruhte nur nicht überall der Fluch der gottverlassnen Unnatur auf solchem Volke. […]
Und bei Ann Cotton?
Im zweiten Kapitel von „Verbannt!“ findet sich im Zusammenhang von Geschichte, Krieg und Waffentechnik folgende Strophe:
O Deutscher, lach und sag, dass ich dich nicht ertappte!
Ach herrje,
wer hat dich bloß grade so gemacht?
Ists Drachenblut, ists Sauerkraut, was dein Hirn überschwappte,
dass du
Vergnügen presst aus der Unwahrheit Schacht
in dir,
weil sie dort nackt? Oder warum hast du gelacht?
O Deutscher, deine Feinheit wohnt im Blick auf Rädchen,
nimmt man sie dir weg, bleiben lose Fädchen,
du kicherst leis, sie schwanken unnütz in der Zeiten Wind.
Jetzt arbeitslos, warst du einmal der Zeiten Kind.
(Verbannt!, Seite 33)
Arme Ann! Seit zehn Jahren lebt sie in Berlin unter den Deutschen; ein
weiblicher Hyperion? Bei „Verbannt!“ scheint es sich um ihre literarische
Verarbeitung dieser Erfahrung zu handeln.
11 Ann’s Antike
Die für „Verbannt!“ gewählte Form des Versepos ist das seit dem 18.
Jahrhundert so gut wie ausgestorbene Lehrgedicht, das seine Ursprünge in der
griechisch-römischen Antike hatte.
Ann Cotten bringt das Lehrgedicht auf die Höhe des 21. Jahrhunderts und
bedient dabei auf postmodern-ironische Weise eine ganze Reihe Merkmale dieser
Gattung, die typisch für die römische Zeit sind (z.B. in Ovids Metamorphosen): die Anrufung
der Musen am Anfang, die universale Thematik, den belehrenden Anspruch, das
Personal und die Geschichten der griechisch-römischen Mythologie.
Im siebten Kapitel zieht die Autorin eine Parallele zwischen der Vielfalt
der olympischen Götterwelt und den Paradigmenwechseln, die in der götterlosen
Welt von heute im Dezenniumstakt erfolgen und „die besten Denkergirls und –boys
mit Umdenk-Anreizen vom Selbstmord abhalten“ (S. 72): „Lass die Götter immer ihre
Formen wechseln (...) und die Welt ist feiner“.
So begegnen uns in allerlei verfremdeten und befremdlichen Formen unter
anderem Hermes, Pan und Syrinx, Minerva, Pallas Athene. Ann Cotten interessiert
sich vor allem für Metamorphose-Geschichten, zum Beispiel die vom geilen Pan,
der die keusche Nymphe Syrinx verfolgt, die von den Göttern in Schilf
verwandelt wird.
Die merkwürdigste Verwandlung vollzieht sie an ihrem lyrischen Ich selbst:
aus Ann wird Hermes Wolpertinger (siehe den nächsten Beitrag).
12 Ann’s Ann
Bevor wir uns der spektakulären Metamorphose des lyrischen Ichs zuwenden,
muss ich meinen Lesern ein Bild dieser jungen Frau verschaffen: sie heißt Ann,
ist aber natürlich nicht identisch mit Ann Cotten: die sitzt ja in Berlin-Wedding
und schreibt Gedichte.
Die verbannte
Fernsehmoderatorin Ann ist eine Frau Anfang dreißig. Ann Cotten hat sie für ihr
Buch gezeichnet: Ann trägt auf der Insel Shorts und ein enganliegendes Shirt.
Sie hat lange, schlanke Beine und hochhackige Pumps von Manolo Blahnik (!) an
den Füßen. Das ist gewiss nicht die geeignete Kleidung für die Verbannung auf
eine Insel. Wie ist sie damit bloß auf die Palme gekommen (vgl. die
Illustration auf dem Einband)?
Ann hat ein langes, schmales Gesicht
mit einer hochgetürmten Frisur; sie ähnelt mehr Sibylle Berg als Ann
Cotten. Mit den Luxuspumps tritt sie eine Kokosnuss los und vertreibt
damit einen Tiger. Dann fällt sie durch einen Windstoß von der Palme. Hier
haben wir bereits einen ersten Anklang an die griechische Mythologie: Im Text
wird an dieser Stelle (S. 44) der Hellespont erwähnt, der ja mit der Geschichte
von Helle, die vom Widder mit dem Goldenen Vlies in die Meerenge zwischen
Europa und Asien fällt, verbunden ist.
Helle kam ums Leben. Ann dagegen tut sich gar nichts, trotz der Höhe der
Palme. Ein Hinweis
auf göttlichen Schutz?
13 Ann’s Metamorphose
Das bedeutungsschwangerste Geschehen in Ann Cottens Lehrgedicht „Verbannt“
ist die Metamorphose der weiblichen Hauptfigur Ann zu einer übergroßen antiken Herme. Hermen waren im alten
Griechenland Wegmarken und Orientierungspunkte, für die sehr oft der geflügelte
Götterbote und Schirmherr der Reisenden Hermes als Motiv
gewählt wurde. Meist handelte es sich um steinerne Pfeiler mit aufgesetztem
Kopf.
Ann Cotten führt uns ihren „Hermes Wolperting“ in der eigenhändigen
Zeichnung auf Seite 75 drastisch vor Augen. Der vollplastische erigierte Penis
gehört zu den antiken Accessoires einer Herme (siehe das Bildbeispiel links),
wenngleich Cotten ihm bei ihrem Hermes ganz besondere Dimensionen verleiht: Wie
zu sehen, kann der Penis über eine im Innenraum verlaufende Treppe erstiegen
werden. Nimmt man das Männlein oben in der Luke als Maßstab, ist die ganze
Herme etwa 23 Meter hoch und der Penis 13 Meter lang.
Die Geschlechtsumwandlung von Ann zum priapischen Hermes vollzieht sich auf
den Seiten 73-77. Ann hat die ersten Gespräche mit dem Inselbewohner Wonnekind
geführt. Die Begegnung gewinnt an Intensität, Ann vermeint Geister um sich
kreisen zu sehen:
„Ein Geist scheint mich zu kennen, zieht mich quasi an.
Doch rase ich nicht
mitverzückt gen Himmel,
mir scheint, ich bin, viel ernster, sein festes Gewand.
Ein Geweih wächst mir
jetzt, ein Riesenpimmel
Statt eines Beins, das
andere wird Stummel
und Fischschwanz. „Wolperting-Meerjungfrau-Herme!“,
ruft
Wonnekind entzückt (...)“
Die Verwandlung vollzieht sich durch aufeinanderfolgende „Wehen“, wie bei
einer Geburt. Im weiteren Verlauf wird die Metamorphose erweitert: Die Herme
setzt sich unter dem Erdboden fort. Die Hoden sind „kilometerbreite Pilzgeflechte“
und verfügen über eine Verbindung zum Internet. Ein Kabel kommt aus der Erde,
und „Pan Orama“, sozusagen der Gott des Internets, meldet sich zur Stelle. All
das ist pure Fantastik. Einerseits Riesenstatue, kann Ann-Hermes sich
andererseits durchaus fortbewegen und am weiteren Geschehen teilnehmen. Es ist
eine Art mit vielfältiger Symbolik geladener Sommernachtstraum.
Der Leser muss bei all diesen verstörenden Geschehnissen erst einmal Luft
holen. Für die traditionelle Hermeneutik der Literaturwissenschaft ist dies ein
harter Brocken. Ann Cottens Poetik ist über weite Strecken von einer
hermetischen Abgeschlossenheit gekennzeichnet, allerdings ohne dadurch an
Faszination einzubüßen. Nur wird jeder Leser selber sehen müssen, was er
hiermit anfangen kann und wohin ihn seine eigenen Assoziationen führen.
Hermes ist bekannt als Götterbote, auch als Gott der Redekunst; als Hermes
Trismegistos ist er der Verfasser philosophischer und magischer Schriften und
der Entwickler des griechischen Alphabets. Auch ist er ein Gaukler, Spieler und
Betrüger (Gott des Handels!). Dieses Potpourri an Eigenschaften muss Ann Cotten
dazu gebracht haben, ihn quasi zu ihrem Hausgott zu machen und zum Hausgott
dessen, was Dichtung im 21. Jahrhundert vermag.
Dem Gauklerhaften verleiht sie Nachdruck, indem sie ihrem Hermes den
Beinamen “Wolpertinger” gibt: Das ist
im süddeutschen Raum ein mythisches Mischwesen mit Hirschgeweih, das noch
niemand wirklich zu Gesicht bekommen hat.
Auch Ann Cotten ist von ihrer
Biografie her ein ungewöhnliches Mischwesen: Ein kleines Mädchen aus Iowa kommt
nach Wien und geht von dort aus nach Berlin. Wappenmäßig lässt sie sich
darstellen als Doppeladler mit einem Kopf aus Iowa und einem aus Wien,
aufgesetzt auf einen Bärenkörper aus Berlin. Geschlechtsrollen spielt sie nach
allen Seiten aus. Als Adlerbär ist sie ganz Mann und ganz Frau, luft- und
erdgebunden, unendlich schnell und wild in ihren Worten. Noch niemand hat sie wirklich gesehen.
14 Ann’s Aufruhr
Aus dem Internet kommt nächtens eine Gruppe Frauen auf die Insel,
sechsundzwanzig sind es, wie mehrfach betont wird. Sie bringen den Inselstaat
der sechsundzwanzig (vgl. Beitrag Nr. 8) Männer in erotische Verwirrungen,
gründen eine Frauenbewegung und übernehmen die Druckereien. Während von den
anwesenden Männern nur bei einer Handvoll der Name erwähnt wird, erfahren wir
ab Seite 110 die Vornamen von rund zwanzig der Frauen: Marie, Sally, Hilde,
Mathilde, Dunja, Latosha, Ilse, Ilse, Ilse, Ilse, Dörte, Pschibul, Esther,
Susan, Katka, Cemile, Esra, Barbara, Nina, Zooey.
Der Internet-Gott Pan Orama wird mit Syrinx konfrontiert, die er einst in
seiner Geilheit verfolgt hat. Sie hat ihre Beine verloren und sie durch
Prothesen ersetzt. Die geballte Weiblichkeit bringt die männlichen
Schrauben-Dialektiker in Verdrehung. Das Internet geht pleite. Ann, die
tagsüber Ann ist und nachts Hermes, scheint an dieser Konfusion großen Anteil
zu haben.
Die Vermischung des männlichen und weiblichen Prinzips entspricht der
antiken Tradition der Doppelherme, in der der phallische Hermes mit der
Liebesgöttin Aphrodite verbunden wird. Der "Hermaphrodit" hat hier
seinen Ursprung. Ann-Hermes ist der Doppelgott, der das maskuline Hegelland
aufmischt.
Aber lesen müssen Sie dieses geniale Kuddelmuddel schon selbst, denn dies
ist wieder nicht mehr als eine Inhaltsangabe mit Erläuterungen. Der Text
erschließt sich jedoch nur durch seine Wort- und Reimkunst.
15 Ann’s Allegorie
Das Donnergrollen aus der Ferne mit dem folgenden Windstoß assoziiert Ann
mit der Wasserstoffbombe auf dem Bikini-Atoll (S. 44). Über vier Seiten hinweg
sinniert sie dann über das Phänomen Kernfusion und die technischen Versuche,
den Verschmelzungsprozess kontrolliert in einem Reaktor stattfinden zu lassen,
dem Tokamak. Dazu entwickelt sie merkwürdige eigene Vorstellungen:
Sagt es den
Physikern:
Es ist ein Denkfehler, den hellen weißen Stern
im Tokamak zu halten. Er
muss außen rum begehren,
hineinzubrechen, und man
muss ihn abwehren,
man muss ihn das totale
Sichverzehren lehren,
abhaltend ihn von seiner angedachten Arbeitsstätte,
wo heute er so vor sich hin brodelnd sich fusioniert
und fusioniert und fusioniert in einer engen Kette
zwanghafter Logik, innerhalb derer er funktioniert.
Ein Stern in freier Wildbahn ist ganz ungefährlich.
Er leuchtet vor sich hin
und freut sich am Witiko.
Der Tokamakreaktor erscheint später (völlig unmotiviert?) in einer der drei
Zeitungen (S. 87), die von den Männern auf der Insel herausgegeben werden. Die
Zeichnung zeigt Ann, die am Strand liegt und mit einer Hand ihre Augen bedeckt.
Über dem Meer schwebt – offenbar in ihrer Vorstellung – eine schematische
Zeichnung des Reaktors, die sein Konstruktionsprinzip – das Plasmagefäß mit den
es umgebenden Magnetspulen – sichtbar macht.
„Es geht um Energie/in Wirklichkeit, nichts anderes“: Auf Seite 45 wird
deutlich, was Ann Cotten mit dieser technisch-wissenschaftlichen Vision
bezweckt. Sie vergleicht die Kernfusion mit dem künstlerischen Prozess und
plädiert für die Freiheit des „hellen Sterns“. Der „helle Stern“ und eine
„Verschmelzungssäule“ tauchen auch in den Passagen über die „Seele“ (S. 62ff.)
auf. Die ganze Allegorie dient der Vorbereitung (dem Vorheizen) der großen Verschmelzungsszene
von Ann und Hermes, von weiblichem und männlichem Prinzip (S. 73-77). Das hat
sich mir erst nach wiederholter Lektüre und dem Vergleich dieser Passagen
erschlossen. Und es kam mir irgendwie bekannt vor.
Eine derartig radikale Verbindung der Verschmelzung von Mann und Frau und
der Kunst als universalem Prinzip in einer romanhaften Erzählung, die
gleichzeitig die Theorie ihrer selbst enthält, hat es in der deutschen
Literatur schon einmal gegeben: in der deutschen Frühromantik, bei Friedrich Schlegel,
seiner “Universalpoesie” und ihrer Exemplifikation in seinem Roman “Lucinde”
(1799). Dazu morgen mehr.
16 Ann’s Arabeske
Wenn es von der Intention und von Form & Inhalt her ein Parallelwerk zu
“Verbannt!” in der deutschen Literatur gibt, dann ist das Friedrich Schlegels
“Lucinde” (1799). Das wäre jedenfalls mein Tipp für eine wissenschaftliche
Beschäftigung mit Ann Cottens Werk, die über dieses Lesetagebuch hinausgeht.
Kein Zufall also, dass Ann auf den Seiten über den Tokamak und die
Kernverschmelzung auch von den “beiden Schlegeln” (S. 46) spricht (Friedrich
Schlegel und sein Bruder August Wilhelm; eventuell meint sie auch Friedrichs
Frau Dorothea). Anns Thema der Verschmelzung von Männlichkeit und Weiblichkeit,
ist – für die damalige Zeit skandalös – bei Schlegel im Kapitel “Dithyrambische
Fantasie über die schönste Situation” formuliert:
Eine unter allen ist die witzigste und die schönste: wenn wir die Rollen
vertauschen und mit kindischer Lust wetteifern, wer den andern täuschender
nachäffen kann, ob dir die schonende Heftigkeit des Mannes besser gelingt, oder
mir die anziehende Hingebung des Weibes. Aber weißt du wohl, daß dieses süße
Spiel für mich noch ganz andre Reize hat als seine eignen? Es ist auch nicht
bloß die Wollust der Ermattung oder das Vorgefühl der Rache. Ich sehe hier eine
wunderbare sinnreich bedeutende Allegorie auf die Vollendung des Männlichen und
Weiblichen zur vollen ganzen Menschheit.
Der komplette Text von “Lucinde” kann im Gutenberg-Projekt aufgerufen werden.
Schlegel bezeichnete die von ihm entworfene Gattung als “Arabeske”. Die
Struktur von Lucinde wird im Wikipedia-Artikel wie folgt beschrieben:
Der Text verfolgt keine epische Erzählung, sondern bietet seinem (gemäß dem
„unbezweifelte[n] Verwirrungsrecht“ des Erzählers/Autors) verwirrten Leser
Stimmungen und Reflexionen der Hauptfigur Julius. Es ist stets unsicher, in
welchem Bezug ein Textstück zu einem anderen steht. Und erahnt der Leser einen
Zusammenhang, der einer Handlung ähnelt, wird dieser Eindruck bald wieder
zertrümmert. Den Sprüngen im Text kann der überforderte Leser kaum folgen.
Damit sind Merkmale des modernen Romans vorweggenommen.
Das alles trifft auch auf "Verbannt!" zu. Dabei muss ich es hier
und jetzt belassen. Ich werde mein Lesetagebuch mit zwei, drei weiteren
Beiträgen abrunden. Vielleicht gibt’s mal eine zweite Runde, denn vieles ist
noch ungesagt. Aber ich muss auch mal was anderes machen.
Auch Ann Cotten scheint am Ende etwas genug gehabt zu haben von ihrem
Projekt. In der “Welt” gibt es ein schönes, aufschlussreiches Interview mit
ihr. Hier ein kleiner Auszug:
Die Welt: Es beginnt ja eigentlich recht pompös. Die Musen werden
angerufen. Und Sex wird auch versprochen.
Cotten: Ich bin auch enttäuscht von diesem Abfall gegen Ende hin. Während
ich immer dachte, dass es endlich losgeht, habe ich gespürt, dass ich
allmählich genug habe von diesem Versmaß. Sex gibt's übrigens bei Hermes
Wolpertinger. Man muss halt kapieren, dass das Sex ist und nicht einfach ein
Trip.
Tja, das mit dem in der Einleitung angekündigten Sex hat mich auch
beschäftigt. Jetzt weiß ich jedenfalls, wo ich ihn suchen muss: bei Hermes
Wolpertinger. Und da gehört er ja auch hin.
17 Der Cottensche Imperativ
„Klapp das Buch zu und entweiche.“
Das ist der letzte Satz aus Ann Cottens Versepos „Verbannt!“. Er ist
doppeldeutig: Vielleicht soll man sich ein „Ich“ dazu denken, und die
Hauptfigur schließt den dicken Band von Meyers Enzyklopädie, aus dem sie gerade
90 Lemmata zitiert hat (S. 162f.).
Man kann den Satz aber auch als Aufforderung an den Leser sehen: Mach
Schluss und zieh ab!
Das nenne ich dann den Cottenschen Imperativ. Adieu Ann!
Das nenne ich dann den Cottenschen Imperativ. Adieu Ann!
18 Ode für Ann
Doch halt! Ganz so schnell gehe ich nicht. Ich muss mich noch bedanken, bei
Ann Cotten für ihre Bereicherung der deutschen Literatur und beim
US-Bundesstaat Iowa für die Hervorbringung dieses begabten Mädchens, das dann
nach Wien und Berlin ausgewandert ist.
Marlene Dietrich und Jean
Arthur in "A Foreign Affair"
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Die folgende Performance der Iowa-Hymne scheint mir dazu sehr geeignet: Sie
kommt aus dem Film „A Foreign Affair“ (1948). Der
Regisseur, Billy Wilder, ist Wiener-Berliner-Amerikaner und hat in dem
Filmausschnitt mit der Amerikanerin Jean Arthur in der Rolle als spröde
Kongressabgeordnete Phoebe Frost eine unvergessliche Auftauszene gestaltet.
Phoebe’s Gegenspielerin ist die Berlinerin und Amerikanerin Marlene Dietrich.
Danke!
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