Silvester
Was fange ich Silvester
an?
Geh ich in Frack und
meinen kessen
blausanen Strümpfen zu dem
Essen,
das Herr Generaldirektor
gibt?
Wo man heut nur beim
Tanzen schiebt?
Die Hausfrau dehnt sich
wild im Sessel –
der Hausherr tut das sonst
bei
Dressel –,
das junge Volk verdrückt
sich bald.
Der Sekt ist warm. Der
Kaffee kalt –
Prost
Neujahr!
Ach, ich armer
Mann!
Was fange ich Silvester
an?
Wälz ich mich im
Familienschoße?
Erst gibt es Hecht mit
süßer Sauce,
dann gibts Gelee. Dann
gibt es Krach.
Der greise Männe selbst
wird schwach.
Aufsteigen üble
Knatschgerüche.
Der Hans knutscht Minna in
der Küche.
Um zwölf steht Rührung auf
der Uhr.
Die Bowle –! (›Leichter
Mosel‹ nur –).
Prost Neujahr!
Ach, ich armer
Mann!
Was fange ich Silvester
an?
Mach ich ins
Amüsiervergnügen?
Drück ich mich in den
Stadtbahnzügen?
Schrei ich in einer
schwulen Bar:
»Huch, Schneeballblüte! Prost
Neujahr –!«
Geh ich zur Firma
Sklarz Geschwister –
(Nein, nein – ich bin ja
kein Minister!)
Bleigießen? Ists ein
Fladen klein:
Dies wird wohl
Deutschlands Zukunft sein ...
Helft mir armem
Mann!
Was fang ich bloß
Silvester an –?
(Einladungen dankend
verbeten.)
Theobald Tiger (Kurt Tucholsky)
Die Weltbühne,
30.12.1920, Nr. 53, S. 768.
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