Die NRC veröffentlichte heute die Rede, die der ukrainische Schriftsteller Andrij Kurkow (niederländisch: Koerkov) am 26. Juli in Wassenaar gehalten hat: „Deze keer zal Rusland onze droom niet vermorzelen“:
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Samstag, 30. Juli 2022
Donnerstag, 14. Juli 2022
Französisch-deutsche Intimitäten
Ich lese gerade mit einiger Faszination den letzten Roman von Houellebecq. Da begegne ich diesem Satz:
"Es war doch etwas Sexuelles zwischen Frankreich und Deutschland, etwas eigenartig Sexuelles, und das schon seit langer Zeit."
Michel Houellebecq, Vernichten (Anéantir), Köln 2022, S. 125.f.
Das kann man von den Niederlanden und Deutschland nicht sagen.
Meine kleine Ukraine-Bibliothek (12): Ukrainische Literaturgeschichte – zum Beispiel Walerjan Pidmohylnyj
In meinem achten Beitrag mit der Frage: Was gehört zur ukrainischen Literatur, habe ich konstatiert, dass so etwas wie eine ukrainische Literaturgeschichte in Buchform offenbar noch nicht existiert. Der Übersetzer Alexander Kratochvil gibt in einem Interview mit der Berliner Zeitung vom 29. Juni eine Begründung dafür:
„Ukrainische Literatur und Sprache fanden bisher in der Slawistik so gut wie gar nicht statt. Das hat sich erst mit dem Maidan und dem nachfolgenden Krieg geändert (…). Man hat es nicht gesehen, weil man immer nur nach Russland guckte.“
Seit Peter dem Grossen war die Ukraine unter russischer Herrschaft. Nach dem ersten Weltkrieg entstanden in Mittel- und Osteuropa zahlreiche Nationalstaaten, so auch die Ukraine von 1917-1921. In der Sowjetunion unterstützte man in den Zwanzigerjahren eine Ukrainisierung mit gewissen Freiheiten für Presse, Schulwesen und Literatur. Damit war ab Ende der Zwanziger Schluss. Der herausragende Vertreter der kurzen Blüte der ukraininischen Literatur in diesem Jahrzehnt war Walerjan Pidmohylnyj (1901-1937), vor allem mit seinem Roman „Die Stadt“ (1928), in dem es um das moderne, urbane Kiew des Jahres 1925 geht. Pidmohylnyi wurde dann verfolgt, verboten und 1937 erschossen. Sein Roman, der seit dem Maidan zur Schullektüre gehört, konnte erst 1991 wieder
erscheinen. Die erste deutsche Übersetzung ist 2022 erschienen (Guggolz-Verlag, 3. Auflage, 416 Seiten, 26 €), eine niederländische gibt es nicht: das sind die Bedingungen ukrainischer Literatur im Inland und im Ausland. Erst seit 2014 gibt es einen offeneren Blick westlicher Verlage auf Gegenwärtiges und Vergangenes aus der Ukraine.
„So viele Frauen mit Kindern fliehen vor dem Krieg hierher, die werden zum Teil auch bleiben: Es wäre gut, sie über die Literatur besser zu verstehen und nicht weiter den Stereotypen zu vertrauen, die durch die russische Brille verbreitet wurden“, so Alexander Kratochvil am Ende seines Interviews.
Montag, 11. Juli 2022
Meine kleine Ukraine-Bibliothek (11): Juri Andruchowytsch, Die Lieblinge der Justiz
Der international bekannteste und meist übersetzte ukrainische Autor der Gegenwart ist wohl Juri Andruchowytsch, geboren 1960 in Stanislau. Die englische Transkription seines Namens ist Yurii Andrukhovych. Seine sechs Romane sind allesamt von der engagierten Sabine Stöhr ins Deutsche übersetzt worden.
Offenbar gibt es leider keinen seiner Romane auf Niederländisch. Jedenfalls finde ich nichts unter der niederländischen Schreibweise Joeri Androekovitsj. Das ist sehr ungewöhnlich in diesem Superübersetzer-Innenland.
Er ist ein sperriger Schriftsteller, der mir eigentlich nicht liegt, aber dennoch großen Eindruck auf mich macht, auch wegen seines politischen Engagements in der gegenwärtigen Situation. Seinen Roman „Zwölf Ringe“ (deutsch 2005) habe ich erst mal wieder an die Seite gelegt, um mich seinem bislang letzten Roman „Die Lieblinge der Justiz“ (2018, deutsch 2020) zuzuwenden. Auch hier war ich nach drei Kapiteln geneigt aufzuhören, habe aber mit wachsender Faszination bis zum achten Kapitel durchgehalten und bereue es nicht, obwohl es das unerträglichste dieses Schreckensbuches vom anhaltenden Morden in der Ukraine ist.
Der Untertitel lautet „Parahistorischer Roman in achteinhalb Kapiteln“. Die „achteinhalb Kapitel“ sind wohl eine poetologische Anspielung auf Fellinis Film „Achteinhalb“. Das würde jedenfalls passen auf Andruchowytschs sechs Romane plus zwei Prosakurzformen und die Frage: Was nun?
Es geht um spektakuläre Verbrechen und Verbrecher in vier Jahrhunderten und kulminiert im Grauen der vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts, wo der Autor die Verflechtung deutscher, polnischer, sowjetischer und ungarischer Gewalt, des Terrors und des Mordens (insbesondere von deutscher Seite) in der ukrainischen Stadt S. zu rekonstruieren versucht. Bei S. handelt es sich vermutlich um seine Heimatstadt Stanislau (Iwano-Frankiwsk).
Man muss die Lektüre durchhalten, um ein Bild von dem, was diesen Autor antreibt und vom Durchhaltewillen der Menschen in der heutigen Ukraine zu bekommen.
Sonntag, 10. Juli 2022
Meine kleine Ukraine-Bibliothek (10): Durs Grünbein, Nichts berechtigt uns zur Hoffnung
Durs Grünbein |
Durs Grünbein, Nichts berechtigt uns zur Hoffnung
In der aktuellen Frankfurter Sonntagszeitung gibt es ein Interview mit ihm. Sein neuer Gedichtband "Äquidistanz" erscheint am 18. Juli.
Samstag, 9. Juli 2022
Meine kleine Ukraine-Bibliothek (9): Serhij Zhadan, Wir werden vernichtet
Serhij Zhadan |
In der ZEIT dieser Woche (29/2022) reagiert der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan (siehe "Meine kleine Ukraine-Bibliothek 4) auf den Waffenstillstandsappell deutscher Intellektueller vom 30. Juni, ebenfalls in der ZEIT (27/2022). Unter anderem Juli Zeh und Richard David Precht haben dort für einen sofortigen Waffenstillstand plädiert, das heißt, sie plädieren dafür, dass die Ukraine jetzt aufgibt und sich in die Hände Putins begibt.
Unter dem Titel "Wir werden vernichtet" macht Zhadan unzweideutig klar, was mit der Ukraine passiert, wenn sie jetzt den Kampf aufgibt.
Zhadan bekommt im Oktober am Ende der Frankfurter Buchmesse den renommierten Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Es gibt deutsche Intellektuelle, die das für widersprüchlich halten.
Für die Unterzeichner des Waffenstillstandsappells hat Zhadan eine deutliche Botschaft: "Wenn die Ukraine verliert, gehen die Opfer nicht in die Tausende, sondern in die Hunderttausende. Das Blut dieser Toten haben jene auf dem Gewissen, die immer noch unbeirrt mit dem Bösen spielen und dabei allen Wohlergehen und Frieden wünschen."
Freitag, 8. Juli 2022
Meine kleine Ukraine-Bibliothek (8): Literarische Verflechtungsgeschichte - Was gehört zur ukrainischen Literatur?
Im neuen Heft der österreichischen Literaturzeitschrift „Volltext“ (Nr. 2/2022) beginnt der Schweizer Slawist Felix Philipp Ingold (geboren 1942) den inzwischen siebten Teil seiner „Grenzgänge der Literatur“ mit der Frage „Wie viele russische Literaturen?“
Hier folgen die ersten Zeilen daraus:
“Die eine russische Nationalliteratur gibt es nicht; es gibt diverse ‚russländische‘ Literaturen in mancherlei Sprachen. Man kennt die russischsprachige Klassik von Puschkin bis Tolstoj und Korolenko, im Anschluss daran die mehrsprachige ‚multinationale‘ Sowjetliteratur mit namhaften ukrainischen, litauischen, georgischen, usbekischen, kirgisischen Autoren, dazu die eigenständige russische Exilliteratur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts (…).“
Ein Buch aus vergangenen Zeiten (1970) |
Nun gut: Nach dem Zerfall der Sowjetunion ist die ‚multinationale‘ Sowjetliteratur wieder in ihre neonationalen Einzelliteraturen zerfallen, die nach 1991 ein intensives neues und (teilweise) freieres Dasein bekommen haben. Das gilt gewiss für die ukrainische Literatur, die man nun nicht mehr vom vergangenen gemeinsamen sowjetischen Dach aus, sondern von ihrer eigenen Identität (gegebenenfalls ihren eigenen Identitäten) her betrachten sollte.
Ich stelle also die Frage:
Wie viele ukrainische Literaturen?
Und kann dann folgerichtig genauso wie Felix Philipp Ingold sagen: Die eine ukrainische Nationalliteratur gibt es nicht; es gibt diverse ukrainische Literaturen in mancherlei Sprachen. Man kennt (oder kennt eben nicht!) die ukrainische Klassik von Schewtschenko bis Kozjubynsky und Korolenko (ja, der gehört auch dazu!), dazu viele namhafte russische, polnische, österreichisch-ungarische Autoren, im Anschluss daran die mehrsprachige ‚multinationale‘ Sowjetliteratur auf ukrainischem Boden und die eigenständige ukrainische Exilliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts. Und jetzt eben doch – seit dreißig Jahren – eine neue „postkolonialistische“ ukrainische Nationalliteratur!
Ich habe auf dem mir zugänglichen westlichen Buchmarkt keine ukrainische Literaturgeschichte gefunden, die die im letzten Absatz genannten Kriterien berücksichtigen würde; eigentlich überhaupt keine ukrainische Literaturgeschichte. Die könnte auch wohl erst jetzt geschrieben werden. Der Artikel „Ukrainische Literatur“ in der deutschen Wikipedia gibt ansatzweise ein Bild davon und es wird ansatzweise deutlich, wieviel Unterdrückung, Terror und Gewalt ukrainische Autoren, die während der Sowjetherrschaft auf ukrainisch veröffentlichen wollten, erfahren haben. All das müsste auch eine neue ukrainische Literaturgeschichts-schreibung berücksichtigen.
Wahrscheinlich haben sich ein paar ukrainische Literaturwissenschaftler schon an die Arbeit gemacht.
Donnerstag, 7. Juli 2022
Meine kleine Ukraine-Bibliothek (7): Johann Gottfried Herder 1769
In seinem von Gedanken und Plänen überschäumenden „Journal meiner Reise im Jahr 1769“ des 25jährigen Johann Gottfried Herder (1744-1803), einem der intensivsten deutschen Bücher des 18. Jahrhunderts, finden sich auch folgende Zeilen über die Ukraine:
„Die Ukraine wird ein neues Griechenland werden; der schöne Himmel dieses Volks, ihr lustiges Wesen, ihre musikalische Natur, ihr fruchtbares Land usw. werden einmal aufwachen; aus so vielen kleinen wilden Völkern, wie es die Griechen vormals auch waren, wird eine gesittete Nation werden; ihre Grenzen werden sich bis zum Schwarzen Meer hin erstrecken und von dahinaus durch die Welt. Ungarn, diese Nationen und ein Strich von Polen und Russland werden Teilnehmerinnen dieser neuen Kultur werden; von Nordwest wird dieser Geist über Europa gehen, das im Schlafe liegt, und dasselbe dem Geiste nach dienstbar machen. Das alles liegt vor, das muss einmal geschehen; aber wie, wann, durch wen?“
(Johann Gottfried Herder, Journal meiner Reise im Jahr 1769, in: Herders Werke in fünf Bänden, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1969, Erster Band, 107-191, hier: 135)
Den Hinweis auf diese Stelle habe ich in Andreas Kappelers Buch „Russen und Ukrainer“ gefunden (siehe meinen vorigen Blog-Beitrag). Kappelers methodologisches Konzept der „Verflechtungs-geschichte“ ist die breitere wissenschaftliche Version meiner „Begegnungsgeschichte“ für den Gebrauch im fremdsprachlichen Landeskunde-Unterricht.
Dieser Absatz von Herder gehört zur deutsch-ukrainischen Begegnungsgeschichte des 18. Jahrhunderts. Schon seit dem 19. und erst recht im 20. Jahrhundert wurde all diesen Aufbruchshoffnungen der Aufklärung der brutale Garaus gemacht. Nun wieder im 21. Jahrhundert, aber noch nie war die Ukraine so dicht bei Herders Gedanken wie in den letzten zehn Jahren.
Meine kleine Ukraine-Bibliothek (6): Andreas Kappeler, Russen und Ukrainer
Andreas Kappeler hat in den letzten Jahren das Konzept der Verflechtungsgeschichte (histoire croisée) auf Russland und die Ukraine angewandt und mehrere Bücher dazu veröffentlicht. Sein aktuell erfolgreichstes Werk ist „Ungleiche Brüder. Russen und Ukrainer. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 2017, 4. Auflage 2022, 16,95 €.
„Dieses Buch folgt dem methodischen Ansatz der ‚verschränkten‘ oder ‚verflochtenen‘ Geschichte, der sich mit längerfristigen Wechselbeziehungen, Transfers, Begegnungen und Konflikten von Staaten, Gesellschaften, Nationen und Kulturen beschäftigt. Besonderes Augenmerk richte ich auf die Verflechtungen von Ideen, Perzeptionen, historischen Erzählungen, Erinnerungskulturen und Geschichtspolitiken. Umgekehrt frage ich auch nach Prozessen der Entflechtung, Distanzierung und Auseinanderentwicklung“ (Kappeler, S. 13).
Damit ist dies das Buch der Stunde für eine differenzierte Analyse dessen, was sich zur Zeit im russisch-ukrainischen Konflikt abspielt. Es bietet einen dezidierten Blick auf die Entstehungsgeschichte der wechselnden und teils dramatischen Verflechtungen der Ukraine mit dominanten Mächten (Russland, Sowjetunion, Österreich-Ungarn, Polen, Deutsches Reich) und gibt klare Handreichungen zur Beurteilung der gegenwärtigen Lage.
Das zunehmend autokratische System Putins musste – so Kappeler - um jeden Preis vermeiden, dass sich die Ukraine als ein den europäischen Werten verpflichteter demokratischer Staat etablierte und stabilisierte und damit der russischen Opposition als Vorbild dienen konnte. „Dies war meines (Kappelers) Erachtens die ausschlaggebende Ursache für die bewaffnete Intervention Russlands in der Ukraine“ (S. 228).
Von besonderer Perfidität ist dabei Putins in Russland und bis in den Westen hinein wirksame Propaganda, die neuen Herrscher in der Ukraine seien Neo-Nazis, Russenhasser und Antisemiten. Putin-Versteher, die dieser Sicht folgen, gibt es noch immer bis tief in die alt-sozialdemokratischen und altlinken Schichten Deutschlands (und auch der Niederlande) hinein.