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Mittwoch, 30. September 2020

Nietzsche (16): Das Überradio

Ab und zu produziert unsere Oberflächengesellschaft Untergründiges und bedient sich dabei auf Teufel komm raus bei Begriffen aus Nietzsches Werk. Der „Übermensch“ ist solch ein Wort geworden.

 

Gestern erschien in der niederländischen Volkskrant in der Kolumne über technische Gadgets ein Artikel mit dem Titel: „Das Überradio“. Dabei geht es um das Radio 3SIXTY des Berliner Lautsprecher-Betriebes Teufel:



„De überradio, laten we hem zo maar even noemen, is van alles in één: een klassieke radio met FM-ontvangst, DAB+ (digitale radio) en internetradio voor het ontvangen van radiozenders van over de hele wereld” (Laurens Verhagen in der Volkskrant vom 29. September, Seite V10).


Die Verschiebung des Begriffs “Übermensch“ auf ein technisches Gerät hat durchaus Witz, aber in der Zusammenstellung von „Überradio“ und „deutsch“ und dem Firmennamen „Teufel“ entsteht hier ein durchaus intendiertes Gebräu von hervorgelockten Vorstellungen: Das Radio ist übermenschlich gut. Es kommt vom Teufel. Es beherrscht die ganze Welt. Nietzsche ist des Teufels.


Dies gehört in die Kategorie „Fake Nietzsche“, der Andreas Urs Sommer in seinem Buch „Nietzsche und die Folgen“ (2020; siehe meinen Beitrag Nietzsche 9) einen Anhang gewidmet hat. „Nietzsche da drauf zu schreiben, wo kein Nietzsche drin ist, hat (…) Konjunktur“ (198). Sommer bringt dort eine Reihe von teils amüsanten, teils einfach nur blödsinnigen Beispielen. Mit Nietzsche kann man’s ja machen!


P.S.: Ich höre meine Opern-DVDs aus Lautsprechern von Teufel. Teuflisch gut!

Dienstag, 29. September 2020

Nietzsche (15): Der Vogel Specht

Der hundertjährige, Haus und Hof verdunkelnde Kastanienbaum in unserem Garten zieht seit kurzer Zeit einen besonderen Gast an: einen Groninger Grünspecht. Wir hatten mehrmals ein merkwürdiges TikTak gehört, das wir zunächst mit Bauarbeiten in der Umgebung verbanden, bis wir erkannten: „Das ist ein Specht!“. Und wir freuten uns über den neuen Vogel, der vielleicht sogar in einer Asthöhle der Kastanie ein Zuhause gefunden hat.


Grünspecht (Foto: Fokko Luppes)

Der Specht ist ein scheuer Vogel, und wir bekamen ihn einfach nicht zu Gesicht. Aber gestern ließ er sich auf einmal in unserem japanischen Kirschbaum sehen, schaute mich streng an und verschwand, bevor ich ihn fotografieren konnte. Das Foto zu diesem Beitrag habe ich zufällig am selben Tag über Facebook bekommen. Es bildet also nicht unseren Specht ab, aber an dessen Grünspecht-Identität besteht kein Zweifel.

 

Nun beschäftige ich mich dieser Tage mit Nietzsches Specht-Gedicht. Das kann ja wohl kein Zufall sein:

 

Dichters Berufung

Als ich jüngst, mich zu erquicken,
Unter dunklen Bäumen sass,
Hört’ ich ticken, leise ticken,
Zierlich, wie nach Takt und Maass.
Böse wurd’ ich, zog Gesichter, –
Endlich aber gab ich nach,
Bis ich gar, gleich einem Dichter,
Selber mit im Tiktak sprach.

Wie mir so im Verse-Machen
Silb’ um Silb’ ihr Hopsa sprang,
Musst’ ich plötzlich lachen, lachen
Eine Viertelstunde lang.
Du ein Dichter? Du ein Dichter?
Steht’s mit deinem Kopf so schlecht?
– “Ja, mein Herr, Sie sind ein Dichter”
Achselzuckt der Vogel Specht.

Wessen harr’ ich hier im Busche?
Wem doch laur’ ich Räuber auf?
Ist’s ein Spruch? Ein Bild? Im Husche
Sitzt mein Reim ihm hintendrauf.
Was nur schlüpft und hüpft, gleich sticht der
Dichter sich’s zum Vers zurecht.
– “Ja, mein Herr, Sie sind ein Dichter”
Achselzuckt der Vogel Specht.

Reime, mein’ ich, sind wie Pfeile?
Wie das zappelt, zittert, springt,
Wenn der Pfeil in edle Theile
Des Lacerten-Leibchens dringt!
Ach, ihr sterbt dran, arme Wichter,
Oder taumelt wie bezecht!
– “Ja, mein Herr, Sie sind ein Dichter”
Achselzuckt der Vogel Specht.

Schiefe Sprüchlein voller Eile,
Trunkne Wörtlein, wie sich’s drängt!
Bis ihr Alle, Zeil’ an Zeile,
An der Tiktak-Kette hängt.
Und es giebt grausam Gelichter,
Das dies – freut? Sind Dichter – schlecht?
– “Ja, mein Herr, Sie sind ein Dichter”
Achselzuckt der Vogel Specht.

Höhnst du, Vogel? Willst du scherzen?
Steht’s mit meinem Kopf schon schlimm,
Schlimmer stünd’s mit meinem Herzen?
Fürchte, fürchte meinen Grimm! –
Doch der Dichter – Reime flicht er
Selbst im Grimm noch schlecht und recht.
– “Ja, mein Herr, Sie sind ein Dichter”
Achselzuckt der Vogel Specht.

 

 

Schon 1882 standen die ersten beiden Strophen dieses Gedichts unter dem Titel „Vogel-Urtheil“ (siehe meinen Beitrag Nietzsche 6) am Ende der „Idyllen aus Messina“. In die Neuauflage der „Fröhlichen Wissenschaft“ von 1887 hat Nietzsche als Ausklang den Zyklus „Lieder des Prinzen Vogelfrei“ aufgenommen, 14 Gedichte, die zum Teil Bearbeitungen früherer Fassungen sind. Das Specht-Gedicht hat er sogar auf insgesamt sechs Strophen erweitert und an den Anfang des Zyklus gestellt. Das Ganze ist ein Spiel mit parodistischen Formen und ironischen Anverwandlungen, in diesem Fall mit Edgar Allan Poe’s Gedicht „The Raven“: Dort wie hier sitzt ein einsamer Ich-Erzähler im dunklen Raum und erhält von einem Vogel ein bestätigendes Echo auf seine selbstquälerischen Umtriebe und seine Angst. Dem stets wiederholten „Quoth the Raven: ‚Nevermore‘“ entspricht bei Nietzsche das „Ja, mein Herr, Sie sind ein Dichter/Achselzuckt der Vogel Specht“ am Ende jeder Strophe.

 

Von Raben ist bekannt, dass sie sprechen können. Nietzsche lässt seinen Specht mit einem Achselzucken antworten (wobei wir die Frage, wie dieser Gestus in der Vogelanatomie aussieht, jetzt außer Acht lassen). Ungewöhnlich ist daran, dass Nietzsche hier den gestischen Evidentheitsmarkierer des „Achselzuckens“ einfach in konjugierter Form als Verb des gestischen Sprechens benutzt und mit einem gesprochenen Satz verbindet: "Ja, mein Herr, Sie sind ein Dichter."

 

Es möge deutlich sein, dass Nietzsche mit diesem poetologischen Gedicht seinem Philosophieren die Dichtkunst gleichwertig zur Seite stellt beziehungsweise sie auf ambivalente und ambitionierte Weise damit verknüpft.


Unter modernen Nietzsche-Philologen setzt sich mehr und mehr die Einsicht durch, dass die von Nietzsche bewusst in einen kompositorischen Zusammenhang gestellten formal-lyrischen und formal-philosophisch/prosaischen Formen in einem hermeneutischen Kontext gesehen werden müssen. Jahrzehntelang hat man "Die fröhliche Wissenschaft" unter Ignorierung des lyrischen Vor-Spiels "Scherz, List und Rache" (siehe meinen Beitrag Nietzsche 12)  und des Anhangs "Lieder des Prinzen  Vogelfrei" interpretiert. Wenn das jetzt endlich geschieht, wird auch klar, dass darüber hinaus Nietzsches Gesamtwerk von seiner Kommunikationstheorie her neu betrachtet werden muss. Dazu gehören die Kategorien Textstrategie, Literarizität, Dialogizität, Performativität, Polyperspektivität und bewusste Widersprüchlichkeit. Wieder einmal zuviel für mein Blog. Aber kommt Zeit, kommt Nietzsche!


Der von Katharina Grätz und Sebastian Kaufmann herausgegebene Sammelband "Nietzsche als Dichter" (2017; als e-book in der RuG-UB) enthält hierzu eine Reihe weiterführender Artikel.

Sonntag, 13. September 2020

Nietzsche (14): Fragen



Gibt es typisch nationale und generationsspezifische Rezeptionen von Nietzsches Werk? Stehen also zum Beispiel die Interpretationen von Deleuze, Foucault und Derrida für die Rezeption der Generation der französischen Postmoderne, die bei Nietzsche allerlei finden zu können meinte, was in den Rahmen ihrer nationalen Philosophie passte? Und ähnlich bei der amerikanischen Philosophie (Arthur Danto, Richard Rorty, Hilary Putnam) und beim internationalen Kommunismus (Georges Lukács, Domenico Losurdo)? Das hieße demnach auch, dass Nietzsche in den jeweiligen National- und Machtkulturen für bestimmte und sogar sich widersprechende Zwecke besonders gut geeignet war und ist, gerne auch als Bösewicht.

 

Mit keinem Philosophen ist das leichter zu erreichen als mit Nietzsche: das liegt an der spezifischen Eigenart seines Philosophierens und insbesondere an seiner Methode. Bei den nationalen Interpretationen kann es sich also um unbewusste, halbbewusste oder gar mutwillige Falschinterpretationen seines Werkes handeln. Ich kann diese Fragen nicht beantworten, aber ich vermute, dass da etwas dran ist.

 

Und natürlich ist dann auch die Frage interessant: wie sieht es mit der deutschen Rezeption Nietzsches aus? Und wie mit der niederländischen?

Nietzsche (13): "Aus hohen Bergen": Da wurde Eins zu Zwei!

Das lange Gedicht „Aus hohen Bergen“ steht als „Nachgesang“ am Ende des Buches „Jenseits von Gut und Böse“ (1886). Es ist, neben „Der Freigeist“/“Vereinsamt“ (siehe meinen Blogbeitrag Nietzsche 7), Nietzsches berühmtestes Gedicht:

 

Aus hohen Bergen. Nachgesang

 

O Lebens Mittag! Feierliche Zeit!

O Sommergarten!

Unruhig Glück im Stehn und Spähn und Warten: –

Der Freunde harr‘ ich, Tag und Nacht bereit,

Wo bleibt ihr, Freunde? Kommt! 's ist Zeit! 's ist Zeit!

 

War‘s nicht für euch, daß sich des Gletschers Grau

Heut schmückt mit Rosen?

Euch sucht der Bach, sehnsüchtig drängen, stoßen

Sich Wind und Wolke höher heut ins Blau,

Nach euch zu späh‘n aus fernster Vogel-Schau.

 

Im Höchsten ward für euch mein Tisch gedeckt –

Wer wohnt den Sternen

So nahe, wer des Abgrunds grausten Fernen?

Mein Reich – welch Reich hat weiter sich gereckt?

Und meinen Honig – wer hat ihn geschmeckt?...

 

– Da seid ihr, Freunde! – Weh, doch ich bin‘s nicht,

Zu dem ihr wolltet?

Ihr zögert, staunt – ach, daß ihr lieber grolltet!

Ich – bin‘s nicht mehr? Vertauscht Hand, Schritt, Gesicht?

Und was ich bin, euch Freunden – bin ich‘s nicht?

 

Ein andrer ward ich? Und mir selber fremd?

Mir selbst entsprungen?

Ein Ringer, der zu oft sich selbst bezwungen?

Zu oft sich gegen eigne Kraft gestemmt,

Durch eignen Sieg verwundet und gehemmt?

 

Ich suchte, wo der Wind am schärfsten weht?

Ich lernte wohnen, 

Wo niemand wohnt, in öden Eisbär-Zonen,

Verlernte Mensch und Gott, Fluch und Gebet?

Ward zum Gespenst, das über Gletscher geht?

 

– Ihr alten Freunde! Seht! Nun blickt ihr bleich,

Voll Lieb und Grausen!

Nein, geht! Zürnt nicht! Hier – könntet ihr nicht hausen:

Hier zwischen fernstem Eis- und Felsenreich –

Hier muß man Jäger sein und gemsengleich.

 

Ein schlimmer Jäger ward ich! – Seht, wie steil

Gespannt mein Bogen!

Der Stärkste war‘s, der solchen Zug gezogen – –:

Doch wehe nun! Gefährlich ist der Pfeil,

Wie kein Pfeil, – fort von hier! Zu eurem Heil!...


Ihr wendet euch? – O Herz, du trugst genug,

Stark blieb dein Hoffen:

Halt neuen Freunden deine Türen offen!

Die alten laß! Laß die Erinnerung!

Warst einst du jung, jetzt – bist du besser jung!

 

Was je uns knüpfte, einer Hoffnung Band –

Wer liest die Zeichen,

Die Liebe einst hineinschrieb, noch, die bleichen?

Dem Pergament vergleich ich‘s, das die Hand

Zu fassen scheut – ihm gleich verbräunt, verbrannt.

 

Nicht Freunde mehr, das sind – wie nenn ich‘s doch? –

Nur Freund‘s-Gespenster!

Das klopft mir wohl noch nachts an Herz und Fenster,

Das sieht mich an und spricht: »wir waren‘s doch?«

– O welkes Wort, das einst wie Rosen roch!

 

O Jugend-Sehnen, das sich mißverstand!

Die ich ersehnte, 

Die ich mir selbst verwandt-verwandelt wähnte,

Daß alt sie wurden, hat sie weggebannt:

Nur wer sich wandelt, bleibt mit mir verwandt.

 

O Lebens Mittag! Zweite Jugendzeit!

O Sommergarten!

Unruhig Glück im Stehn und Spähn und Warten!

Der Freunde harr‘ ich, Tag und Nacht bereit,

Der neuen Freunde! Kommt! 's ist Zeit! 's ist Zeit!

 

Dies Lied ist aus – der Sehnsucht süßer Schrei

Erstarb im Munde:

Ein Zaubrer tat‘s, der Freund zur rechten Stunde,

Der Mittags-Freund – nein! fragt nicht, wer es sei –

Um Mittag war‘s, da wurde Eins zu Zwei...

 

Nun feiern wir, vereinten Siegs gewiß,

Das Fest der Feste:

Freund Zarathustra kam, der Gast der Gäste!

Nun lacht die Welt, der grause Vorhang riß,

Die Hochzeit kam für Licht und Finsternis.

 

Das Gedicht ist seit dem Ende des 19. Jahrhunderts häufig interpretiert worden, allerdings meistens isoliert vom philosophischen Kontext zu „Jenseits von Gut und Böse“. Erst seit kurzem gibt es Versuche dazu. Dabei ist es durchaus deutlich, dass dieses Gedicht einen engen Bezug zu Nietzsches dritter Phase des Philosophierens in den großen Werken der achtziger Jahre herstellt, in der er alte Freunde verloren hat und sich vorstellt, neue zu finden. Dennoch bleibt es eine schwierige Lektüre.

Claus Zittel stellt in seinem Aufsatz* intertextuelle Bezüge zu Goethes „Zueignung“ am Anfang des „Faust“ her („Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten…“) sowie auch zur Kreuzigungsszene bei Matthäus und Lukas mit dem zerreißenden Vorhang im Tempel. Die Christus-Parallelen finden sich ja häufig bei Nietzsche. Mir scheint, dass dies noch konsequenter und ausführlicher analysiert werden müsste. Claus Zittel hat dazu nicht den richtigen Biss; Christian Benne, den ich von seiner Analyse von „Scherz, List, Rache“ (siehe Blogbeitrag Nietzsche 12) kenne, würde ich es zutrauen.

 

„Um Mittag war‘s, da wurde Eins zu Zwei“: in diesen Kulminationsmoment mündet das Gedicht. Lou Salomé spricht von der „Selbstspaltung, durch die der Erkennende auf sein eigenes Wesen und dessen Regungen und Triebe herabblicken kann wie auf ein zweites Wesen“ (Friedrich Nietzsche in seinen Werken, 148) und einige Seiten später:

 

„Ist dies doch der innere Proceß seiner Aneignung und Umschaffung des Neuen und Ungewohnten: dass er ihm Leben einhaucht, dass er ihm zu voller Lebensfülle verhilft. Man möchte sagen: Nietzsche wählt sich die düstersten Gedankenschatten aus, um sie mit seinem eigenen Blut zu nähren, um sie, sei es auch unter Wunden und Verlusten, zuletzt dennoch zu seinem eigenen lebendigen Selbst verwandelt zu sehen, zu seinem Doppel-Selbst“ (155).




"Der grause Vorhang riss": Vielleicht beginnt jetzt ein Schauspiel...: „Incipit tragoedia!“ - Die Tragödie beginnt! So endet Nietzsches vorheriges Werk „Die fröhliche Wissenschaft“ und so beginnt der „Zarathustra“.

 

Muss man das nun als ein Zeichen von Schizophrenie sehen oder als die Einführung des dialektischen Denkens in Nietzsches Erkenntnistheorie? Dazu möchte ich mich in einem eigenen Beitrag äußern.

 

*Claus Zittel, „In öden Eisbär-Zonen“. Die Schlussverse „Aus hohen Bergen. Nachgesang“ in: Marcus Andreas Born (Hg.), Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 2014, 207-236 (als e-book in der RuG-UB)

Mittwoch, 9. September 2020

Nietzsche (12): "Scherz, List und Rache". Der Anfang der poetischen Philosophie

1882 gab Nietzsche sein Buch „Die fröhliche Wissenschaft“ heraus, samt einer Einleitung unter dem Titel „ ‚Scherz, List und Rache‘. Ein Vorspiel in deutschen Reimen“.

Dieses Vorspiel enthält 63 kurze Gedichte: der Form nach einfache Lieder, Spruchdichtung und allerlei Mischformen mit Parodie, Wortwitz und Ironie. Der Titel ist aus Goethes Singspiel gleichen Namens abgeleitet, das Nietzsche aus der Vertonung durch seinen Freund Peter Gast (eigentlich: Heinrich Köselitz) kannte.

 

Lou Andreas-Salomé, die in dem Jahr ihre intensivste Freundschaftsphase mit Nietzsche hatte, geht in ihrem Buch „Friedrich Nietzsche in seinen Werken“ (1882/1894), das viele Spezialisten noch immer für eines der besten Nietzsche-Bücher halten, auf dieses „Vorspiel“ ein:

 

„Dieser Verbindung von tiefer Erschütterung und spielendem Uebermuth, von Tragik und Heiterkeit, welche für die ganze Gruppe der letzten Werke charakteristisch ist, entspricht es auch, dass die ‚Fröhliche Wissenschaft‘, im schärfsten Gegensatz zu dem dunklen Geheimnis der Schlussworte, ein ‚Vorspiel‘ in Versen besitzt, ‚Scherz, List und Rache‘. Hier begegnen uns zum ersten Mal Verse in Nietzsches Schriften, - sie mehren sich aber in dem Maße, als er seinem persönlichen Untergang zuzuschreiten glaubt. In Gesängen klingt sein Geist aus. Die Verse sind überraschend verschieden an Werth, zum Theil vollendet: Gedanken, die an ihrer eigenen Schönheit und Fülle sich zu Gedichten wandelten; - zum Theil von einer so wunderlichen Unvollkommenheit, wie sie nur die Laune des Muthwillens vom Zaune bricht. Ueber ihnen allen aber ruht etwas seltsam Ergreifendes: Sind es doch die Blumen, die sich ein Einsamer auf den Leidensweg streut, der seiner harrt, um den Schein zu erwecken, dass es ein Freudenweg sei. Frisch gebrochenen Rosen gleichen sie, auf die sein Fuss treten will, während er schon beschäftigt ist, in seinen leidvollsten Erkenntnissen seinem Haupt die Dornenkrone zu flechten“ 

(Lou Andreas-Salomé, Frankfurt am Main 1983, 180f.).




Die Rosen begegnen uns auch in einem der Gedichte:

 

Meine Rosen

 

Ja, mein Glück, es will beglücken,

alles Glück will ja beglücken.

Wollt ihr meine Rosen pflücken?

Müßt euch bücken und verstecken

zwischen Fels und Dornenhecken,

oft die Fingerchen euch lecken!

Denn mein Glück es liebt das Necken!

Denn mein Glück es liebt die Tücken!

Wollt ihr meine Rosen pflücken?

 

Lou Salomé spricht von einer (teilweisen) „wunderlichen Unvollkommenheit“ der Gedichte und von einer „Laune des Muthwillens“ bei Nietzsche.  Auch sie, die doch als erste auf diese neue Verbindung von Poesie und Philosophie hingewiesen hat, sieht nicht die Gesamtkomposition der 63 Texte, sie will die Rosen sehen, aber nicht die Dornenhecken, sie will das Glück und versteht nicht das Necken und die Tücken. So ging es auch mehr als hundert Jahre lang den deutschen Nietzsche-Forschern: das poetische Vorspiel zur „Fröhlichen Wissenschaft“ wurde weitgehend ignoriert und blieb unverstanden. Es passte in seiner Art nun einmal nicht in die philosophische Zunft, und die Philologen, die hiermit doch Erfahrung hatten, hielten sich ehrfürchtig oder überfordert zurück. Dabei geht es doch um nichts anderes als um die Ouvertüre einer Oper, in der die wichtigsten Motive des angekündigten Werkes vorbeikommen und kurz berührt werden …

 

Erst seit ein paar Jahren erhalten Nietzsches Gedichte mehr Aufmerksamkeit. Und was „Scherz, List und Rache“ betrifft, gibt es seit 2015 eine wahrhaft bewundernswerte und augenöffnende Gesamtanalyse des Kopenhagener Germanisten Christian Benne (die Philologen haben also durchaus noch eine Chance!):

 

„Nicht mit der Hand allein: ‚Scherz, List und Rache‘. Vorspiel in deutschen Reimen“, in: Christian Benne und Jutta Georg (Hg.), Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, 2015, 29-51 (als e-book in der RuG-UB).

 

Dazu fehlt hier im Blog der Raum. Ich beende diesen Beitrag mit einem der Gedichte:

 

Meinem Leser

 

Ein gut Gebiss und einen guten Magen –

Diess wünsch ich dir!

Und hast du erst mein Buch vertragen,

Verträgst du dich gewiss mit mir!







Freitag, 4. September 2020

Nietzsche (11): Die Kolumbus-Gedichte



Nach neuen Meeren

Dorthin – will ich und ich traue
Mir fortan und meinem Griff.
Offen liegt das Meer, in’s Blaue
Treibt mein Genueser Schiff.

Alles glänzt mir neu und neuer,
Mittag schläft auf Raum und Zeit –
Nur dein Auge – ungeheuer
Blickt mich’s an. Unendlichkeit!


Schon als Dreizehnjähriger schrieb Nietzsche sein erstes Kolumbus-Gedicht, das das Motiv des Aufbruchs in die Unendlichkeit enthält.

Als Siebzehnjähriger verfasste er seinen frühgenialischen Essay "Fatum und Geschichte" (1862), in dem das Motiv wiederkehrt: "Sich in das Meer des Zweifels hinauszuwagen, ohne Kompass und Führer ist Thorheit und Verderben für unentwickelte Köpfe; die Meisten werden von Stürmen verschlagen, nur sehr wenige entdecken neue Länder." (Jugendschriften 1861-1864, München 1994, 55).

20 Jahre später, im Jahre 1882, greift er das Motiv wieder auf und variiert es fünf Mal, um 1887 in den „Liedern des Prinzen Vogelfrei“ zu einer kürzeren und gelasseneren Endfassung zu kommen, in der Kolumbus durch ein „ich“ ersetzt ist. Hier sind die sieben Gedichttitel in chronologischer Reihenfolge (die Seitenzahlen beziehen sich auf die Ausgabe „Sämtliche Gedichte“ von 2019)

Colombo (265f.) 1858
An --- (106) 1882
Columbus novus (107) 1882
Dorthin will ich (109) 1882
Auf hohem Meere (110) 1882
Yorick-Kolumbus (137) 1882
Nach neuen Meeren (51) 1887

Ich habe hier nur die letzte Fassung abgedruckt. Eine detaillierte Behandlung der sieben Gedichte mit allen Texten findet sich in:

Werner Stegmaier, Vom Finden des eigenen Maßes. Die Häutungen von Nietzsches Gedicht „Nach neuen Meeren“, in: C. Danani u.a. (Hg.), L’essere che è, l’essere che accade, Mailand 2014, 251-260 (auch in Academia).