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Samstag, 4. April 2015

Steffen Kopetzkys Roman „Risiko“ – Ein Leserblog (6): Das Große Spiel

“Auf den ersten Blick wirkte es wie ein buntes Relief aus farbigen Steinen. Er trat einen Schritt in das Zimmer hinein und erkannte, dass es sich um verschiedenfarbig lackierte Bleisoldaten, Reiter und Geschütze handelte. Doch die kleinen Soldaten- und Geschützfiguren waren nicht naturalistisch in einer Art Schlachtenpanorama aufgestellt, sondern abstrakt gruppiert. Links auf dem Tisch sah er einen aufgeklappten, mit grünem Samt ausgeschlagenen Kasten, in dem sechs Würfel lagen, drei rote und drei blaue. Jetzt begriff er, um was es sich handelte: Das musste das legendäre Große Spiel sein” (Risiko, S. 39f.).

Dies ist – bei einem heimlichen Blick ins Zimmer von Leutnant Dönitz - die erste Begegnung des Marinefunkers Sebastian Stichnote mit dem Großen Spiel, das er bald meisterhaft beherrschen sollte. Er verdankte ihm sogar seine vorzeitige Beförderung zum Leutnant. Und am Ende viel, viel mehr.


Der allwissende Erzähler vermittelt uns auf den folgenden Seiten (39-43) Wissenswertes zur Entstehungsgeschichte des (fiktiven) Spiels: Seine Ursprünge liegen demnach in einem preußisch-militärischen Lehrspiel, mit dem den Offiziersschülern die Clausewitzsche Philosophie des Krieges nahegebracht worden ist. Das legendäre Spiel war, da es auf einem Brett mit 64 Feldern gespielt wurde, beim Militär unter dem Namen “C 64” bekannt ("C" für Clausewitz). Später sei es durch Übernahme von Elementen des Go- und des (wohl auch fiktiven) “Xingbing”-Spiels und durch die Verwendung einer Weltkarte als Spielfeld zu einem Strategiespiel für militärische Führungskreise herangereift.

“C 64”: Steffen Kopetzky erlaubt sich im Roman ab und zu Scherze wie diese Anspielung auf den legendären Spielcomputer Commodore 64. Das Spiel, das hier beschrieben wird, gibt es nicht. Es erinnert zwar an das bekannte Brettspiel “Risiko”, das aber im Buch gar nicht genannt wird. Ich vermute sogar, dass nicht der Autor, sondern der Verlag den Titel “Risiko” gewählt hat, da viele potentielle Leser aus ihrer Jugend das gleichnamige Spiel kennen. Wahrscheinlich hätte der Roman einfach “Das Große Spiel” heißen sollen; das wäre der bessere Titel gewesen.

Wie das Spiel wirklich funktioniert, bleibt – ähnlich wie in Hermann Hesses “Glasperlenspiel” - wohlweislich den ganzen Roman hindurch im Ungewissen. Der Autor suggeriert mit den vagen und ständig erweiterten Regeln eine Nähe des Spielgeschehens zur geopolitischen Realität, ja sogar einen Einfluss auf den Gang der Geschichte. Er lässt Leutnant Dönitz eine neue Regel erfinden, die es ihm erlaubte, das Spiel “nicht mehr nur dazu benutzen, die Wirklichkeit auf die eine oder andere Weise analytisch nachzuspielen, sondern dazu im Spiel gleichsam eine neue zu erschaffen (S. 253, Kursivierung von mir).

Sebastian Stichnote wird durch seine geniale Beherrschung dieses Strategiespiels zum Star unter den verbündeten deutschen und türkischen Offizieren in Istanbul am Anfang des Weltkriegs. Stichnote trägt dann den Kasten mit den Spielfiguren die ganze entbehrungsreiche Afghanistan-Expedition lang in seinem Gepäck. Am Ende spielt er das Spiel in Kabul mit dem afghanischen Prinzen und Offizieren und führt darin die paschtunischen Stämme zu einem überraschenden Sieg gegen die englischen Kolonialtruppen, der ihnen den Weg bis zur Hafenstadt Karachi eröffnet. In der Nacht danach geht er durch den halbdunklen leeren Saal, wo noch der Spieltisch mit den Figuren steht, und ruft sich alle Schlachten, die er gespielt hat, vor Augen:

“Gerade zuletzt war es ihm erschienen, als seien sie (die Schlachten am Spielbrett, P.G.) realer als die Wirklichkeit, als übersteige das Spiel diese an Wahrheit und Aussagekraft” (S. 704).

Ich war an diesem Punkt immer neugieriger geworden, wie Steffen Kopetzky auf den restlichen zwanzig Seiten sein umfangreiches Erzählnetzwerk zu einem schlüssigen Ende führen würde. Ein erfolgreiches Ergebnis der Expedition, die die Afghanen zum Dschihad gegen England bewegen sollte, stand – getreu der geschichtlichen Wahrheit - nicht in Aussicht. Die Wandlungen, die der Autor seinen Helden Stichnote hat erleben und erleiden lassen, schienen jedoch auf ein ganz besonderes Finale hinzuweisen. Würde es der Tod sein, wie das Ende des Prologs es schon nahegelegt hatte?

Aber der große Spieler Kopetzky beendet seinen realistischen Geschichtsroman mit einem den Leser völlig überraschenden Epilog, der – wie das Große Spiel - die Wirklichkeit an Wahrheit und Aussagekraft übersteigt, und zwar ganz gewaltig! Und verblüffend schlüssig ist.


Ich bringe es irgendwie nicht übers Herz, dieses Ende an dieser Stelle zu verraten. Lest es doch selbst (aber von Anfang an; nicht schummeln!).

P.S.: Da es sich ja um einen Bildungsroman handelt, muss ich in meinem folgenden Beitrag noch etwas zu seinem Helden Sebastian Stichnote sagen.

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