“Auf den ersten
Blick wirkte es wie ein buntes Relief aus farbigen Steinen. Er trat einen
Schritt in das Zimmer hinein und erkannte, dass es sich um verschiedenfarbig
lackierte Bleisoldaten, Reiter und Geschütze handelte. Doch die kleinen
Soldaten- und Geschützfiguren waren nicht naturalistisch in einer Art
Schlachtenpanorama aufgestellt, sondern abstrakt gruppiert. Links auf dem Tisch
sah er einen aufgeklappten, mit grünem Samt ausgeschlagenen Kasten, in dem
sechs Würfel lagen, drei rote und drei blaue. Jetzt begriff er, um was es sich
handelte: Das musste das legendäre Große Spiel sein” (Risiko, S. 39f.).
Dies ist – bei
einem heimlichen Blick ins Zimmer von Leutnant Dönitz - die erste Begegnung des
Marinefunkers Sebastian Stichnote mit dem Großen Spiel, das er bald meisterhaft beherrschen sollte.
Er verdankte ihm sogar seine vorzeitige Beförderung zum Leutnant. Und am Ende viel, viel mehr.
Der
allwissende Erzähler vermittelt uns auf den folgenden Seiten (39-43) Wissenswertes
zur Entstehungsgeschichte des (fiktiven) Spiels: Seine Ursprünge liegen demnach
in einem preußisch-militärischen
Lehrspiel, mit dem den Offiziersschülern die Clausewitzsche Philosophie des
Krieges nahegebracht worden ist. Das legendäre Spiel war, da es auf einem Brett
mit 64 Feldern gespielt wurde, beim Militär unter dem Namen “C 64” bekannt ("C" für Clausewitz).
Später sei es durch Übernahme von Elementen des Go- und des (wohl auch
fiktiven) “Xingbing”-Spiels und durch die Verwendung einer Weltkarte als
Spielfeld zu einem Strategiespiel für militärische Führungskreise herangereift.
“C 64”: Steffen
Kopetzky erlaubt sich im Roman ab und zu Scherze wie diese Anspielung auf den
legendären Spielcomputer Commodore 64. Das Spiel, das hier beschrieben wird,
gibt es nicht. Es erinnert zwar an das bekannte Brettspiel “Risiko”, das aber
im Buch gar nicht genannt wird. Ich vermute sogar, dass nicht der Autor,
sondern der Verlag den Titel “Risiko” gewählt hat, da viele potentielle Leser
aus ihrer Jugend das gleichnamige Spiel kennen. Wahrscheinlich hätte der Roman
einfach “Das Große Spiel” heißen
sollen; das wäre der bessere Titel gewesen.
Wie das Spiel
wirklich funktioniert, bleibt – ähnlich wie in Hermann Hesses “Glasperlenspiel”
- wohlweislich den ganzen Roman hindurch im Ungewissen. Der Autor suggeriert
mit den vagen und ständig erweiterten Regeln eine Nähe des Spielgeschehens zur geopolitischen
Realität, ja sogar einen Einfluss auf den Gang der Geschichte. Er lässt Leutnant
Dönitz eine neue Regel erfinden, die es ihm erlaubte, das Spiel “nicht mehr nur
dazu benutzen, die Wirklichkeit auf die eine oder andere Weise analytisch nachzuspielen,
sondern dazu im Spiel gleichsam eine neue
zu erschaffen (S. 253, Kursivierung von mir).
Sebastian
Stichnote wird durch seine geniale Beherrschung dieses Strategiespiels zum Star
unter den verbündeten deutschen und türkischen Offizieren in Istanbul am Anfang
des Weltkriegs. Stichnote trägt dann den Kasten mit den Spielfiguren die ganze
entbehrungsreiche Afghanistan-Expedition lang in seinem Gepäck. Am Ende spielt
er das Spiel in Kabul mit dem afghanischen Prinzen und Offizieren und führt
darin die paschtunischen Stämme zu einem überraschenden Sieg gegen die
englischen Kolonialtruppen, der ihnen den Weg bis zur Hafenstadt Karachi eröffnet.
In der Nacht danach geht er durch den halbdunklen leeren Saal, wo noch der Spieltisch
mit den Figuren steht, und ruft sich alle Schlachten, die er gespielt hat, vor Augen:
“Gerade zuletzt
war es ihm erschienen, als seien sie (die Schlachten am Spielbrett, P.G.) realer
als die Wirklichkeit, als übersteige das Spiel diese an Wahrheit und
Aussagekraft” (S. 704).
Ich war an diesem
Punkt immer neugieriger geworden, wie Steffen Kopetzky auf den restlichen
zwanzig Seiten sein umfangreiches Erzählnetzwerk zu einem schlüssigen Ende
führen würde. Ein erfolgreiches Ergebnis der Expedition, die die Afghanen zum
Dschihad gegen England bewegen sollte, stand – getreu der geschichtlichen Wahrheit
- nicht in Aussicht. Die Wandlungen, die der Autor seinen Helden Stichnote hat
erleben und erleiden lassen, schienen jedoch auf ein ganz besonderes Finale
hinzuweisen. Würde es der Tod sein, wie das Ende des Prologs es schon
nahegelegt hatte?
Aber der große Spieler Kopetzky beendet seinen
realistischen Geschichtsroman mit einem den Leser völlig überraschenden Epilog,
der – wie das Große Spiel - die
Wirklichkeit an Wahrheit und Aussagekraft übersteigt, und zwar ganz gewaltig!
Und verblüffend schlüssig ist.
Ich bringe es
irgendwie nicht übers Herz, dieses Ende an dieser Stelle zu verraten. Lest es
doch selbst (aber von Anfang an; nicht schummeln!).
P.S.: Da es sich ja um einen Bildungsroman handelt, muss ich in meinem folgenden Beitrag noch etwas zu seinem Helden Sebastian Stichnote sagen.
P.S.: Da es sich ja um einen Bildungsroman handelt, muss ich in meinem folgenden Beitrag noch etwas zu seinem Helden Sebastian Stichnote sagen.
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