"Kaum war in dem Hause alles stille geworden,
so trat Mignon mit einem angezündeten Lichte herein, worüber sich Wilhelm
verwunderte, weil es noch Tag war. Er hatte nicht Zeit um die Ursache zu
fragen, denn das Kind machte den Fensterladen zu, wodurch es in dem Zimmer ganz
dunkel wurde, und ging schnell wieder hinaus. Nach einer kurzen Zeit tat sich
die Türe wieder auf und der Kleine trat herein. Er trug einen Teppich unter dem
Arme, den er auf der Erde ausbreitete. Wilhelm ließ ihn gewähren. Er brachte darauf
vier Lichter, stellte sie an jede Ecke. Ein Körbchen mit Eiern, das er holte,
macht Wilhelmen die Absicht deutlicher. Künstlich abgemessen schritt sie
nunmehr den Teppich hin und her, und legte in gewissem Maße die Eier von
einander, dann rief sie einen Menschen herein, der bei der Truppe war und die
Violine spielte. Er trat mit seinem Instrumente in die Ecke, sie verband sich
die Augen, gab das Zeichen und fing zugleich mit der Musik, wie ein
aufgezogenes Uhrwerk an, indem sie Takt und Melodie mit dem Schlage der
Castagnette begleitete. Behende, leicht, rasch, precis führte sie den Tanz. Sie
trat so scharf und so sicher zwischen die Eier hinein, bei den Eiern nieder,
daß man in dem Augenblicke dachte, sie müßte eines zertreten, oder bei
schnellen Wendungen fortschleudern. Mit nichten! Sie berührte keines, ob sie
gleich mit allen Arten von Schritten, engen und weiten, ja sogar mit Sprüngen
und zuletzt halb kniend, sich durch die Reihen durchwand.
Unaufhaltsam wie ein Uhrwerk lief sie ihren
Weg. Und die sonderbare Musik gab dem immer wieder von vorne anfangenden und
losrauschenden Tanze, bei jeder Wiederholung einen neuen Stoß. Wilhelm war von
dem sonderbaren Schauspiele ganz hingerissen vergaß seiner Sorgen, er folgte
jeder Bewegung der geliebten Kreatur und war verwundert, wie in diesem Tanze
sich ihr Charakter vorzüglich entwickelte. Streng, scharf, trocken, heftig und
in sanften Stellungen mehr feierlich als angenehm. Er empfand was er alles für
Mignon gefühlt, in diesem Augenblicke auf einmal. Er sehnte sich, dieses
verlassene Wesen, an Kindesstatt seinem Herzen einzuverleiben, es in seine Arme
zu nehmen und mit der Liebe eines Vaters, Freude des Lebens in ihm zu erwecken.
Der Tanz ging zu Ende, sie rollte die Eier
sachte mit den Füßen zusammen auf ein Häufchen, ließ keines zurück, beschädigte
keines, und stellte sich dazu, indem sie die Binde von den Augen nahm und ihr
Kunststück mit einem Bücklinge endigte."
Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meisters
theatralische Sendung, Viertes Buch, 3. Kapitel
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen