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Freitag, 27. Februar 2015

Ein Gespräch in der Nikolaikirche: Heinrich August Winklers fragwürdige Gegenwart und Frank Walter Steinmeiers Bescheidenheit

In der Berliner Nikolaikirche fand gestern Abend eine bemerkenswerte Veranstaltung statt: Quasi auf höchstem wissenschaftlichen und politischen Niveau befassten sich zwei gestandene ältere Herren mit einer Theorie der Gegenwart.
Engel der Geschichte (Foto: Michael Gottschalk)
Bei den beiden Herren handelte es sich um den deutschen Außenminister Frank Walter Steinmeier und Professor Heinrich August Winkler, dessen voluminöse “Geschichte des Westens” gerade mit dem vierten Band abgeschlossen wurde, der sich mit der Zeit von 1991 bis 2014 beschäftigt:

“Geschichte des Westens. Die Zeit der Gegenwart”, 687 Seiten, C.H. Beck Verlag, München 2015, 29,95 Euro

Dieses Buch war der Anlass für das Gespräch. Da ich es noch nicht habe lesen können, beruht dieser Beitrag ganz auf meinen Eindrücken von der Veranstaltung in der Nikolaikirche und einigen Rezensionen, die ich gelesen habe. Bei den Rezensionen fiel mir die völlige Kritiklosigkeit und übergroße Bewunderung der Rezensenten vor dem 4500-Seiten-Gesamtwerk auf. Eine längere, eingehende Besprechung des neuen Bandes von einem Historiker steht noch aus.

Winkler gab eine halbstündige Zusammenfassung seiner “Zeit der Gegenwart”. Etwas nervig war dabei die mantraartige Wiederholung (ungefähr zehn Mal!) der Formel “1776 und 1789”: Beide Revolutionen – sowohl die amerikanische als auch die französische – bilden laut Winkler die Grundlage für das “normative Projekt” des Westens, die Erklärung und Verwirklichung der Menschenrechte.

Nun ist aber dieses Mantra für Winkler nicht nur der Kern seiner historischen Analyse des 18. Jahrhunderts, sondern auch das von ihm propagierte politische Leitkonzept für das 21. Jahrhundert. Das neue Jahrhundert ist eine Zeit neuer Unsicherheit. Die Jahre 2001 und 2014 bilden die Zäsuren. Insbesondere 2014 stelle durch das Auftauchen des “Islamischen Staates” und Russlands neoimperialistischen Krieg in der Ukraine einen  “Epochenwechsel” dar. Die Antwort des Westens müsse ein entschlossener transatlantischer Zusammenhalt und ein ideologisch selbstbewussteres Auftreten sein.

In diesem Sinne ging er noch einen Schritt weiter: Das atlantische normative Projekt der Menschenrechte und der Menschenwürde sei intellektuell dem Rest der Welt geradezu hoffnungslos überlegen. Diese Überlegenheit zeige sich nicht nur im Vergleich zum Islamischen Staat und Putins Russland, sondern in einem globalen Sinn.

Das musste ich erst einmal verdauen: dieses Statement von einem hölzern dozierenden deutschen Historiker, der nie die Relativierung des Denkens durch das Leben in einem anderen Land und in einer anderen Kultur erfahren hat. Und dies unter Außerachtlassung der Tatsache, dass die Erfindung der Menschenrechte ursprünglich einzig und allein der Freiheit des Handels gedient und dass diese Freiheit uns noch 2008 eine Weltfinanzkrise beschert hat, die jederzeit umfangreicher und verheerender wiederkehren kann.

Wie wohltuend waren dagegen die Statements des deutschen Außenministers. Mag sein, dass er von der Notwendigkeit des transatlantischen Zusammenhalts genauso überzeugt ist wie sein sozialdemokratischer Parteifreund Winkler. Das ist nicht der Punkt. Aber bei ihm kamen die Erfahrungen seines immensen Arbeitspensums an den außenpolitischen Brennpunkten der Welt zum Tragen. Und die Bescheidenheit, zu der er mehrfach aufrief, ist nicht nur die Bescheidenheit des Diplomaten, der sich an der Kunst des Möglichen abarbeiten muss, sondern die größere Bescheidenheit eines Menschen, der sich der Komplexität der Welt bewusst ist.


Die Veranstaltung hatte viel illustres Publikum angezogen und ein paar interessierte Rentner. Man saß sozusagen auf dem Elitenpodium der Republik. Neben uns setzte sich Klaus Staeck, der uns mitteilte, er sei auch schon mal für Otto und für Rolf Hochhuth gehalten worden. Da haben wir ihm erzählt, dass wir in den achtziger Jahren in den Gängen unseres Instituts seine Poster aufgehängt haben und dass von mir ein schönes Foto existiert vor dem Plakat mit der Aufschrift “Lesen macht dumm und gewalttätig”.

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