Bernd Ulrich hat in der ZEIT dieser Woche (06/2015) unter dem Titel „Sanft & STARK“ einen bemerkenswerten Artikel über die aktuelle Entwicklung der EU in macht- und geopolitischer Hinsicht geschrieben. Der Untertitel lautet: „Europa ringt mit Russland, emanzipiert sich von Amerika und einigt sich mit Griechenland. Allmählich versteht die EU, dass sie eine Weltmacht ist."
Endlich mal etwas anderes als das Gerede von der Schwäche der EU und ihrer bevorstehenden Auflösung. Die EU ist die größte Wirtschaftsmacht der Erde und auf dem Wege, eine Weltmacht zu werden. Die beiden alten Supermächte, zwischen denen sie sich positionieren muss, sind die USA und Russland. Deutschland ist in der EU der Hegemon, der sich aus historischen Gründen allerdings mit dieser Rolle schwer tut. Angela Merkel hat dies schrittweise akzeptiert und verstanden, dass Europa seine Macht einsetzen muss.
Bernd Ulrich ist der Leiter des Politikressorts der ZEIT. Er hat zur Illustration seines Artikels einen alten Kupferstich von René Boyvin gefunden, der die Essenz seiner Aussagen auf wundersame Weise verbildlicht. Der Reiz des alten Mythos von der Entführung der schönen Jungfrau Europa durch Zeus in Gestalt eines Stieres liegt in der Ambivalenz dieser Geschichte: Handelt es sich um die brutale Vergewaltigung eines zarten unschuldigen Mädchens oder eher um ein von beiden Seiten gewolltes erotisches Spiel? Zahllose Künstler haben sich daran versucht. Aber hier sieht es ganz anders aus:
René Boyvin, The Rape of Europa (ca. 1545-1555) |
So wie bei Boyvin
habe ich das Bild von Europa und dem Stier noch nie gesehen: Hier geht es eher
um Macht als um Erotik. Europa ist eine kräftige Frau mit muskulösem Nacken,
die den Stier bei den Hörnern packt. Sie schaut nach links, er schaut nach
rechts und bäumt sich auf. Wir sehen beide von hinten. Die Hoden des Stieres
sind vom Künstler deutlich als Blickfang eingesetzt. Aber es ist die Frau, die den
Eindruck macht, die Überlegene, die Kraftvollere zu sein.
Am 1. April 2015
jährt sich der Geburtstag Otto von Bismarcks zum zweihundersten Mal. Man darf
gespannt sein, was die Kommentatoren sich dazu einfallen lassen. Bismarck war
bekannt für seine preußische Machtpolitik und seine Politik des Ausgleichs mit
den fünf europäischen Großmächten: „das Spiel mit den fünf Bällen“, wie er es
nannte.
Angela Merkel hat
mit ihrem Spiel mit den zwei Bällen begonnen. Sie hat den Stier (die beiden
alten Supermächte) bei den Eiern gepackt. Sie hatte darin keine Wahl und ihre
Politik ist „alternativlos“, um eines ihrer Lieblingswörter zu verwenden.
Wir wollen
schließlich keinen Krieg in Europa.
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