In Giorgio Scerbanencos Kriminalroman „Der lombardische Kurier“ (ursprünglicher Titel „I ragazzi del massacro“, Mailand 1968) kommt
eine italienische Sozialarbeiterin vor, die vier Seiten lang ihr Praktikum in
einem Westberliner Wohnheim für Kinder von Straftätern beschreibt. Hier ein
Auszug:
Und dann nahm sie mich mit in einen großen Hof, in den jeden Donnerstagnachmittag drei
oder vier alte Autos oder Möbelstücke zum Demolieren gebracht wurden. Nun
teilten sich die Jungen und Mädchen in Altersgruppen auf. Jedes Kind war mit
einer großen Axt und einer
Eisenkeule augerüstet, damit mussten sie die Autos, Stühle, Schränke und so
weiter systematisch zerstören. Sie konnten jedoch nicht einfach blindwütig
draufhauen, denn die verschiedenen Materialien – Gummi und Holz, Eisen und
Messing, Stoff und Glas – mussten voneinander getrennt werden. (…) Zwanzig
Kinder, die mit riesigen Äxten bewaffnet auf ein Zeichen hin alle
gleichzeitig anfingen, auf die Dinge vor ihnen einzudreschen und dadurch ihrer Aggressivität
in sinnvoller Form Ausdruck verleihen konnten! (...) Es war eine vorbildliche
Einrichtung, Herr Doktor, so richtig deutsch, und ich bin überzeugt, dass
keines dieser Kinder den Weg seiner Eltern einschlagen wird.
Giorgio Scerbanenco, Der lombardische Kurier (2004), S.
128f.
Giorgio Scerbanenco (1911-1969) |
Der Roman stammt aus dem Jahr 1968. Das beschriebene Konzept
der Heimerziehung von Problemkindern müsste also vorher entwickelt worden sein.
Vielleicht hat es in der frühen Apo-Zeit in Westberlin tatsächlich so etwas oder etwas Ähnliches
zum Lösen von Aggressionsstaus gegeben. Das würde mich mal interessieren. Die „Heimkampagne“
von Apo-Gruppen lief aber erst ab 1969 an.
Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass Kinder mit Äxten
und Eisenstangen ein Auto in seine verschiedenen Materialien zerlegen können und
vermute deshalb, dass es sich bei dieser Mülltrennung um ein ironisch übertreibendes
Element des Autors handelt: Heimerziehung, „so richtig deutsch“.
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